FORTHE PEOPLE
FOR EDVCATION
FOR SCIENCE
LIBRARY
OF
THE AMERICAN MUSEUM
OF
NATURAL HISTORY
\
Bound at
A.M.N.H,
1910
Verhandlungen
der
Naturforschenden Gesellschaft
Basel.
Sechzehnter Band.
Mit drei Tafeln.
15a sei
(îcorg- & Co. Verlag
1903.
Herrn
Eduard Hagenbach - Bischoff
Dr. phil. et med.
Professor der Physik an der Universität
zum
SIEBZIGSTEN GEBURTSTAGE
20. Februar 1903
gewidmet
von der Naturforschenden Gesellschaft in Basel.
Hochgeehrter Herr Professor,
Die Naturforschende Gesellschaft in Basel kann
den Tag, an dem Sic in voller körperlicher und geistiger
Frische auf siebzig Lebensjahre rastloser Thätigkeit
zurückblicken, nicht vorübergehen, lassen, ohne alles
dessen dankbar zu gedenken, was Sie von dem Zeit-
punkte Ihres Eintrittes in die Gesellsehart bis heule
ihr geboten haben.
Nicht nur waren Sie stets bereit, ihr die Ergebnisse
Ihrer Studien und Arbeiten mitzuteilen, die sich über
die verschiedensten Gebiete der Physik erstrecken, und
deren Aufzählung uns heute mag erspart bleiben; auch
die Arbeiten anderer Mitglieder haben Sie wirksam
unterstützt, allen Ihr lebhaftes Interesse entgegenge-
bracht und überhaupt alles fördern helfen, was unserer
Gesellschaft zum Wohle gereichen konnte.
Als besonderes Verdienst rechnen wir es Ihnen an.
dass Sie neben dem erfolgreichen Unterricht an der Uni-
versität und Ihren wissenschaftlichen Arbeiten Zeit und
Lust gefunden haben, die Interessen aller akademischen
Anstalten im Schosse der hohen Behörden zu vertreten
und dass Sie unermüdlich bestrebt gewesen sind und
noch sind, auch weitere Kreise unserer Bevölkerung an
den Resultaten der Forschung teilnehmen zu lassen
di uch Veranstaltungen, die Sie teils ins Leben gerufen,
teils unterstützt haben. Und dass Sie Ihre reichen
wissenschaftlichen Kenntnisse zur Befriedigung prak-
tischer Anforderungen, die an jede Stadt herantreten, zur
Verfügung gestellt haben, wird Ihnen die Sladl Basel
niemals vergessen.
Ihrem mathematischen Wissen und dem Wunsche
die Gleichheil aller Bürger eines Freistaates zum Aus-
druck zu bringen sind die Bestrebungen zur Durch-
führung politischer Gerechtigkeil entsprungen.
\)rv schweizerischen ludiirforschenden Gesellschaft
haben Sie sowohl in organisatorischer als in wissen-
schaftlicher Hinsichl grosse Dienste geleistel nichl nur
bei dem fleissigen Besuche ihrer Jahresversammlungen,
sondern auch durch die mehrjährige mustergiltige
Leitung und die Teilnahme an Arbeiten, die sich über
lange Zeiträume erstrecken und die zur tiefern Kenntnis
von Erscheinungen führen werden, deren Schauplatz
vornehmlich unser Land ist.
Die Naturforschende Gesellschaft in Basel glaubl
ihrer dankbaren Verehrung keinen bessern Ausdruck
verleihen zu können als durch diese Widmung dieses
Bandes der Verhandlungen, zu dem eine grössere Zahl
von Gesellschaftsmitgliedern Beiträge geliefert hat.
Wir schliessen den Wunsch an, es mögen [hnen
noch viele Jahre in guter Gesundheil und Rüstigkeil
verliehen sein, Ihnen und Ihrer Familie zur Freude.
unserer Gesellschaft zum wissenschaftlichen Gewinn
und Genuss, unserm engern und weitem Vaterlande
zu Nutz und Frommen.
Die Naturforschende Gesellschaft in Basel
der I 'räsidenl :
Prof. \)\: Rud. Metzner.
Basel, den 20. Februar 1903.
I N H A LT.
Seite
Burckhardt, Fr. Zur (iesehichte des Thermometers. Berich-
tigungen und Ergänzungen 1
Jacobus Rosius Philomathicus der mathemathischen
Künste besonderer Liebhaber. Einige biographische
Notizen 370
Burckhardt, Rudolf. Zur Geschichte der biologischen Systematik 388
Chappuis, P. Über einige Eigenschaften des geschmolzenen
Quarzes 173
Fichter, Fr. Über ungesättigte »Säuren. Mitteilung aus der
chemischen Anstalt der Universität im Bernoulliauum 245
Forel, F. A. in Morges. Recherches sur la transparence des
eaux du Léman 229
His, W, in Leipzig. Die Zeit in der Entwicklung der Orga-
nismen 210
Kahlbaum, G. Über Gewichtsänderung bei chemischen und
physikaliscken Umsetzungen in gescklossenem Rohr und
über Herrn Heydweillers Entdeckung. Eine Einleitung -141
Kinkelin, H. Zur Gammafunktiou 309
Kollmann, J. Die Pygmäen und ihre systematische Stellung
innerhalb des Menschengeschlechtes .... . . 85
Metzner. R. Kurze Notiz über Beobachtungen an dem Ciliar-
körper und dem Strahlenhändchen des Tierauges . . 4SI
Nienhaus, C. Über Digitalis purpurea L 241
Nietzki, R. Die Bedeutung der Farbstoffe im Haushalte der
Natur 291»
Rupe, H. Über die Synthese von Phenyloxytriazolen und über
„sterische" und „chemische" Hinderung 184
Schaer, Ed. in Strassburg i/Els. Über die Einwirkung anor-
ganischer und organischer alkalischer Substanzen auf
das Oxydationsvermügen von Metallsalzen . . : . 70
Siebenmann, Fr. Anatomische lieiträge zur Kenntnis der Laby-
rinthanomalien bei angeborener Taubstummheit . . . 363
Sudhoff, Karl, in Hochdahl bei Düsseldorf. Rheticus und Pa-
racelsus 349
Veillon, H. Einige Grundversuche über elektrische Schwin-
gungen 329
Von der Mühll, K. Über konforme Abbildung im Raum . . 158
Zschokke, F. Marine Schmarotzer in Süsswasserfischen. (Mit
einer Tafel) 118
Zur Geschichte des Thermometers.
Berichtigungen und Ergänzungen
von
Prof. Fritz Burckhardt.
Vor einer längern Reibe von Jahren habe ich als
Resultat meiner Untersuchungen über Erfindung und
Entwicklung des Thermometers zwei Schriften heraus-
gegeben, nämlich:
1) Die Erfindung des Thermometers und seine Ge-
stallung im X VII. Jahrhundert {mit einer lithographierten
Tafel), Basel 1867 ;
2) Die wichtigsten Thermometer des XVIII. Jahr-
hunderts, Basel 1871; beide als Schulprogramme, die
erste als Programm des Gymnasiums, die zweite als
Programm der Gewerbeschule zu Basel.
Beide Schriften, von denen die eine durch den
Buchhandel eine bescheidene Verbreitung gefunden hat,
hatten das Schicksal vieler Schulprogramme ; sie wurden
mehrenteils übersehen. Gewisse Irrtümer haben sich
fortgeschlichen von Lehrbuch zu Lehrbuch und deren
Widerlegung hat nur wenig Beachtung gefunden. In
neuerer Zeit begegne ich doch hie und da einer freund-
lichen Berücksichtigung dieser Schriften; ja es ist mir
sogar ein Buch in die Hände gekommen, das ohne
meine erste Publikation in dieser Form nicht erschienen
wäre und dessen Figuren, mit Ausnahme einer einzigen,
genaueste Reproduktionen der von mir gezeichneten, in
der lithographierten Tafel enthaltenen, sind : Henry Car-
ringion Bollon: Evolution of the Thermometer 1592—
1
— 2 —
L743. Easton P.A. The chemical Publishing Co. 1900.
Wie die Bausteine gesammelt und geordnet worden
sind, deutet das Buch im ganzen nur in einem Ver-
zeichnis der Autoren an.
Wenn nun auch in der Zwischenzeit keine That-
sachen gefunden und bekannt geworden sind, die den
hauptsächlichsten Resultaten meiner Untersuchung wider-
sprechen, so möchte ich doch gerne einiges zusammen-
stellen, was das frühere ergänzt oder modifiziert, auch
etwa irrtümliche Angäben berichtigen. Denn ich gebe
zu, dass solche in meiner Arbeit vorkommen, und glaube
eine Entschuldigung darin zu rinden, dass au zusammen-
hängenden Vorarbeiten nur wenig zur Verfügung stand
und dass die litterarischen Hilfsmittel nicht sehr leicht
zu beschaffen waren, trotz dem Reichtum unserer öffent-
lichen Bibliothek an Werken, die sich auf die Geschichte
der Physik und Mathematik beziehen.
1) Cornelius Drebbel.
Vielfach liest man noch, dass Cornelius Drebbel
von Alkmaar das Thermometer erfunden habe, wobei
auf einen Versuch lungewiesen wird, bei dem Luft in
einer Retorte, die in ein Wassergefäss mündet, ver-
dünnt wird und austritt, während bei der Abkühlung
das Wasser in die Retorte zurückströmt.
Auf Seite 5 der „Erfindung des Thermometers"
habe ich die Vermutung ausgesprochen, dass der Grund-
versuch des Cornelius Drebbel wohl nicht unabhängig
sei von dem Versuche, den Porta in einer 1606 publi-
zierten Schrift1) bespreche. Diese Vermutung bestätigt
sieh nicht. Als ich sie aussprach, war die älteste Edition
') I tre libri de Spiritali di Griatnbattista della Porta. Napoli
1606, pg. 46.
— 3 —
von Drebbeis Traktat von der Natur der Elemente, die
ich gesehen, die von 1608 gewesen, deren Zusendung
ich der Universitätsbibliothek in Göttingen verdankte.
Meine Publikation veranlasste Herrn Dr. Th. Vau Does-
burgh in Rotterdam, mir eine holländische Ausgabe
vom Jahre 100-4 zuzuschicken, die den Titel trägt:
Een cort Tractat van de Natuere der Elementen,
ende hoe sy veroorsaecken den wint, Rechen, Blixem,
Donder, ende waeromme dienstich zijn. Clhedaen door
Cornelius Drebbel. Es folgt ein in Holz schön ge-
schnittenes Bildnis von Cornelius Drebbel, Alcmariensis
anno 1604. T'Haerlem, Ghedruckt By Gillis Roomann,
op de Marckt, in de vergulde Parsse. Anno Domini 1604.
Diese Ausgabe scheint die älteste holländische zu
sein. Aus der Jahreszahl des Erscheinens folgt, dass
Drebbel von Porta nicht abhängig sein kann.1) Es ist
wohl eher anzunehmen, dass beide bekannt gewesen
seien mit der Schrift Hero's von Alexandrieu „Pneu-
matica", die im Jahre 1575 durch Feclericus Comman-
diii US aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen
und durch den Druck verbreitet worden ist, die auch
noch im Laufe des 16ten Jahrhunderts eine Reihe von
Ausgaben in verschiedenen Sprachen erlebt hat.
Dass Drebbel nicht als Erfinder des Thermometers
kann angesehen werden, kann nach den Untersuchungen
von E. Wohlwill') und«?//-3) als ausgemacht angesehen
werden, wenn er es auch selbst sollte gesagt haben.
1) Diese Berichtigung habe ich schon früher in Pogg. Ann.
CXXXIII, p. 681, gebracht; sie ist aber von dem Bearbeiter der
Geschichte der Physik von Poggendorf oder von letzterm selbst
völlig missverstauden worden, indem ich ganz richtig angegeben
11111 • 1 OOO
habe, dass das älteste von mir konsultierte deutsche Exemplar von
16U8 datierte, dass mir aber ein noch älteres von 1(304 in hollän-
discher Sprache verfasstes zugekommen sei, wodurch sich die An-
nahme der Abhängigkeit Drebbeis von Porta von selbst widerlege.
-i Pogg. Ann. CXX1V, g. 160.
3) Erf. d. Thermom. 1867.
— 4 —
Cornelius Drebbel1) war in Alkmaar 1572 geboren
und ist gestorben in London 1634. Er studierte Mathe-
matik und Physik in Leyden, etablierte sich in Eng-
land, wo er von Jakob T. eine Jahrrente erhielt, kam
nach Deutschland zu Rudolf II., wurde aber in den
Unruhen, die der Streit im Kaiserhause verursachte,
eingekerkert. Auf Verwenden Jakobs I. befreit kehrte
er nach England zurück (1619), kam wieder nach Prag
und erlitt dort dasselbe Schicksal wie früher. Durch
Vermittlung der G eneralstaaten wurde er vom Tode
errettet und nahm fortan seinen festen Wohnsitz in
London. Er war Alchymist und behauptete, das Per-
petuum mobile erfunden zu haben. In was dieses wahr-
scheinlich bestanden hat, ist von E. Wohlwill in den
Mitteilungen zur Gesch. d. Mediz. u. d. Naturwissen-
schaften. Nr. 1, p. 5 ff., nach einem Schreiben des Dan.
Antonini an Galilei vom 4. Februar 1612 erörtert win-
den ; er konstruierte ferner ein submarines Schiff, be-
schäftigte sich mit der Verbesserung optischer Gläser,
des Mikroskops und des Thermometers, als dessen Er-
finder er sich in England ausgab. Mehrere Bücher
wurden in verschiedenen Auflagen gedruckt ; er erfreute
sich eines grossen Vermögens und grosser Reputation
„moins due à un mérite réel, qu'aux temps d'ignorance
où il a vécu" '-). Ein Bauer war er nicht, wie ihn JSollet
und andere bezeichnet haben, aber er sah aus wie ein
solcher. Der Vater von Chr. Huygens, Conslanlyn,
hat es in folgendem Vers berichtet:
Drebbelium vidi tantum, qui fronte Batavum
Agricolam, sermone sophum Samiumque referret
Et Siculum.
1 Oeuvr. comp], <1 Chr. Buygena ls!».">, V, p. 122, Ftissnote-
- Biogr. univ., Bd. 12, Art. Drebbel.
— 5 —
(Drebbel babe icb geseben, wie er dem Aussehen
nach den holländischen Bauer, der Rede nach den
Saniischen und Sikulischen Weisen darstellt.)
(Anspielung auf Aristarcb von Samos
und Archimedes.)
Worin die Verbesserungen des Thermometers sollen
bestanden haben, ist nicht wohl einzusehen, zumal dieses
Instrument in der geschlossenen Form wahrscheinlich
erst geraume Zeit nach seinem Tode in England be-
kannt geworden ist ; *) es könnte sich also nur handeln
um Verbesserungen des Luftthermometers, das in grös-
serem Formate, wie später auch von Otto von Guericke,')
Mobile perpetuum konnte genannt werden.
2) Robert Fludd.
Neben Cornelius Drebbel wurde von verschiedenen
Autoren als Erfinder des Thermometers bezeichnet der
Engländer Robert Fludd. Nach den kurzen Notizen,
die ich in der Schrift: „Die Erfindung des Thermo-
meters", p. 24, gegeben habe, glaubte ich nicht mehr
in die Lage zu kommen, diese Behauptung beleuchten
zu müssen. Aber in der Geschichte des Thermometers
von E. Renou*), die von den Franzosen auch jetzt noch
besonders geschätzt wird, und für die neuere Geschichte
auch schätzbar ist, wird der Versuch gemacht, auf
Grund einer Aussage von Fludd die Erfindung viel
weiter zurückzuverlegen, auch hinter Galilei, und dar-
zuthun, dass die Personen, denen bisher die Erfindung
zugeschrieben worden, den Apparat eigentlich schon
vorgefunden und nur nach ihren Bedürfnissen einge-
1) Erf. d. Therm., p. 43.
2) dito p. 28, 29 u. Fig. IX.
3) Annuaire météorol. XXIV, 19-72.
— G —
richtet haben. Drebbel, Sanclorius, Galilei1) und andere
haben also nach Renou einfach ein vorhandenes In-
strument weiter benützt; von einem Erfinder kann man
nicht reden.
Renou'a Worte sind folgende2): „C'est par la des-
cription de cet instrument (Luftthermometer von Galilei
und Sanctorius) que Flltdd commence son livre (Philo-
sophia Moysaica). 11 dit qu'on l'appelle vulgairement
Spéculum Calendarium, c'est-à-dire le Miroir du temps. Il
dit aussi que plusieurs personnes s'en attribuent l'invention,
parce qu'elles y ont fait quelque petit changement; mais
que, pour lui, il en emprunte la description et la figure
à un manuscrit, vieux de plus de cinquante ans."
„Voilà une date antérieure à 15iS7, qui réduit à
néant les prétentions de Drebbel, Santorio et de plu-
sieurs autres.
Il est évident que cet appareil n'a pas eu d'inven-
teur, et ce qu'en ont dit F lu dit, Drebbel et Santorio
montre seulement qu'on sentait alors le besoin d'avoir
un instrument propre à mesurer les températures."
Lana 3) stellt ganz nackt die Behauptung auf: II
primo inventore del Termoscopio, per mezzo di cui si
possa conoscere quando l'aria sia piu e meno calda o
freda fu Roberto Fluddo etc. Allein schon in einer
spätem lateinischen Edition4) sprach er nicht mehr von
der ersten Erfindung, sondern von der ersten Be-
schreibung: Hujus instrument] primam descriptionem
invenimus apud Boberlum Fluddwn etc.
Was schreibt aber Fludd in seinem Werke5), in
1 Annuaire raétéorol. XXIV, 21. -2.
- Annuaire XXIV, p. 21.
s) Prodromo all arte maëstra 1(>70.
! Magist. Naturae et Artis II, p. 380.
•' Philos, mosaica, p. 1, 1638.
dem er die ganze Weltordnung mit dein thermischen
Grundversuch in Beziehung setzt?
Dieses Instrument, gewöhnlich Sptculum Cüknda-
rilim genannt, wird fälschlich von einigen Männern
unseres Jahrhunderts für sich in Anspruch genommen,
ja, es rühmen sich einige fälschlich der Erfindung des-
selben. Was mich anbelangt, so halte ich es für recht
und hillig, jedem das Seine zuzuerkennen. Denn es ist
auch für mich keine Schande, die Prinzipien meiner
Philosophie meinem Lehrmeister Moses zuzuschreiben,
da er sie ja mit göttlichem Finger gebildet und ge-
zeichnet empfangen hat; auch kann ich für mich die
erste Erstellung dieses Instrumentes nicht in Anspruch
nehmen, obwohl ich in der Geschichte meines Makrokos-
mos und anderwärts mich dieses bedient habe, um die
wahrhaftige Grundlage meiner Philosophie darzuthun.
Ich erkenne an, dass ich das Instrument in einem wenig-
stens 500 Jahre alten Manuskript beschrieben und geo-
metrisch gezeichnet gefunden habe.
In seiner Geschichte des Makrokosmos l) teilt er
einige Versuche mit über die Luftausdehnung durch
die Wärme.
An die Stelle der fünfzig Jahre, von denen Renoil
spricht, setzt Flvdd fünfhundert und damit rückt er
die. Erfindung in das Reich des Unglaubwürdigen und
die Thatsache, dass alle weitern Erfinder oder Ver-
besserer des Thermoskopes das von Fludd bezeichnete
Instrument sollen vorgefunden haben, fällt ebenfalls da-
hin mit allen Folgerungen.
Das fünfhundert Jahr alte Manuskript hat sich
seither nicht gefunden.
') Utriusque Cosmi Historia, Tom I. De Macrocosm. Hist.
1>. 30—38. 1617—1621.
— 8 —
3) Geschlossenes Thermometer 1611— 1612 i
E. Renou schliefst aber hieran eine weitere Hypo-
these ') mit nicht besserer Begründung.
Francesco Sagredo schreibt an Galilei am 9. Mai
1613'):
Das Instrument zur Messung der Wärme, das von
Ihnen erfunden worden ist. habe ich in mehrere bequeme
und ausgesuchte Formen gebracht, so dass man die
Temperaturunterschiede von einem Zimmer zum andern
bis auf 100 Grade erkennen kann. Man kann damit
mehrere bemerkenswerte Dinge beobachten, welche
unsere Peripatetiker in keiner Weise erklären können,
da einige, darunter unser Gageo, so weit abwegs sind,
dass sie noch nicht einmal den Grund des ersten Vor-
gangs begreifen, indem sie glauben, sie müssten den
entgegengesetzten Effekt sehen; denn da die Hitze, wie
sie sagen, eine anziehende Kraft ausübt, so müsste das
Gefäss beim Erwärmen das Wasser anziehen; und solche
Menschen beanspruchen die ersten Lehrstühle Padua's.
E. Renou folgert hieraus :
Quoiqu'on ne trouve point, clans la lettre de Sayredo,
le nom de thermomètre, il me semble hors de doute
qu'il s'agit ici du thermomètre de Florence à alcool,
und fügt auf p. 72 hinzu : Après avoir dit que Galilée
en 1603 se servait du thermomètre de Fludd, sous le
nom de Calendarium vitreum, et cité la lettre de Sagredo
à Galilée, il faut dire qu'on reconnaît sûrement, aux
100° du thermomètre de SagredoJ le thermomètre de
Florence en 100° aussi. Les termes de cette lettre
montrent qu'il s'agit d'un instrument tout nouveau, ce
qui place l'invention du thermomètre à alcool en 1611
ou 1612.
*) Annuaire météor. XXIV, p. 2?, 72.
-' Erf. d. Therm., p. 14. Commerc. epist. III, p. 270.
In Sagredo's Brief sind nun schon die Anhalts-
punkte zum Beweise des Gegenteils von dem, was Renoa
darin findet, und zwar:
1) Es handelt sich offenbar um das Galilei'sche
Thermoskop, das Sagredo in mannigfache Formen will
gebracht haben;
2) Im Rohre steigt nicht Weingeist, sondern Wasser
(bisweilen wird das Wort acqua auch als Flüssigkeit
überhaupt gebraucht);
3) Das Wasser wird beim Erwärmen abgestossen-,
es handelt sich demnach um Zusammenziehung und Aus-
dehnung von Luft, welcher das Wasser folgt, und nicht
um Zusammenziehung und Ausdehnung von Wasser
oder von Weingeist.
Wir lesen aber auch weiterhin in der Korrespon-
denz zwischen Sagredo und Galilei, deren Hauptpunkte
ich in der ,,Erfindung des Thermometers" ausführlich
mitgeteilt habe , einige bemerkenswerte Sätze 1). So
schreibt Sagredo am 15. März 1615 an Galilei: aber
da, wie Sie mir schreiben, und wie ich auch zuversicht-
lich glaube, Sie der erste Verfertiger und Erfinder ge-
wesen sind, so glaube ich, dass die Instrumente, welche
von Ihnen und Ihren vortrefflichen Künstlern gemacht
worden sind, weit die meinigen übertreffen u. s. w.
Galilei aber giebt über die Wirkungsweise die Er-
klärung :
Wenn sich die Luft um die Kugel herum dadurch
abkühlt, dass man einen kältern Körper hinzubringt, so
werden die Wärnieteilchen, die sich in der einge-
schlossenen Luft befinden, in die Höhe steigen, weil
ein Mittel da ist, das weniger leicht als sie ist, und
diese Luft wird kälter werden als früher und wird sich so
!) Erf. d. Therm., p. 16. 19.
— 10 —
nach dem vorgenannten Prinzipe zusammenziehen und
weniger Raum einnehmen, ne detur yacuum, weshalb
der Wein in die Höbe steigen wird, um den von der
Luft leer gelassenen Raum einzunehmen. Und dann,
wenn diese Luft erwärmt ist und sich verdünnt und
einen grösseren Raum einnimmt, so wird sie den Wein
vertreiben und herabdrücken, der nun, da er dichter
ist, ihr leicht jenen Platz überlassen wird, woraus folgt,
da ss Kälte nichts anderes als Mangel an Wärme ist.
Daraufhin schreibt Sagredo am 11. April 1615:
Was die Instrumente von Glas zur Temperatur-
bestimmung anbelangt, so waren die ersten, die ich ge-
macht habe, von der Art, wie Sie die Ihrigen haben
machen lassen ; aber dann habe ich die Erfindung in
verschiedener Weise vervielfältigt, was ich nicht alles
in einem Briefe beschreiben kann u. s. w. Ich habe Ihre
Ansicht von der Wirkungsweise dieser Instrumente ver-
standen u. s. w.
Hienach kann doch kein Zweifel bestehen, welcher
Art von Thermoskop das von Sagredo war, und es fällt
jeder Grund dahin, die Erfindung des geschlossenen Wein-
geistthermometers in die Jahre 1611 und 1612 zu verlegen.
Der Irrtum konnte nur dadurch entstehen, dass abge-
rissene Stücke aus der Korrespondenz gelesen wurden.
So lange das ursprüngliche Luftthermometer Galilei' s
mit den zahlreichen Abänderungen, die es unter den
Händen der Experimentatoren erfuhr, im Gebrauche war,
konnten zwar Steigen und Fallen, Abkühlen und Er-
wärmen beobachtet werden ; da aber diese Instrumente
alle nicht nur von der Wärme, sondern auch vom Luft-
druck abhängig waren, konnten an ihnen keine Skalen
angebracht werden, die sich auf feste Punkte stützten,
d. h. auf Temperaturen, die notwendig mit einem physi-
kalischen Vorgänge verbunden sind.
— 11 —
Es konnte wohl Sagredo am 7. Februar 1615 an
Galilei von der Temperaturerniedrigung berichten, die
eintritt bei der Mischung von Schnee und Kochsalz;
„ich muss Ihnen sagen, dass während zweier Schnee-
tage hier in meinem Zimmer mein Instrument 130"
Wärme mehr zeigte, als jenes, das schon vor zwei
Jahren zur Zeit strengster Kälte dagewesen war; dieses
Instrument, begraben im Schnee, hat 30° weniger ge-
zeigt, also bloss 100; aber darauf eingetaucht in Schnee
und Salz, zeigte es weitere 100 Grad weniger, und ich
glaube, es hat in Wirklichkeit noch weniger gezeigt,
aber man konnte es wegen des Schnees und Salzes nicht
deutlich sehen; wenn es daher bei der grössten Sommer-
hitze auf 360° steht, so erkennt man, dass Schnee und
Salz die Kälte um den dritten Teil des Unterschiedes
zwischen der grössten Sommerhitze und der strengsten
Winterkälte vermehrt, eine so merkwürdige Thatsache,
dass ich keinen denkbaren Grund dafür weiss.'-
Und wenn Galilei verschiedene Wärmegrade mit
Zahlen bezeichnet,1) so verstehen wir diese Sprache
nicht, weil uns die Skala unbekannt ist. Mit welcher
Willkür Skalen errichtet wurden, mag der Vorschrift
entnommen werden, die Fr. Bacon giebt2): Debet autem
appendi charta angusta et oblonga et gradibus (quot
libuerit) interstincta.
4) Jean Hey.
Eine grossere Genauigkeit und Deutlichkeit konnte
auch nicht erreicht werden mit andern thermometrischen
Vorrichtungen, wie mit den schwebenden, schwimmen-
den und sinkenden Glaskugeln, mit denen sich nach
') Opere 1656, II, p. 471-475.
2) Nov. org. II. Aphor. XIII, § 38. Amsterd. 1684, p. 190-191.
— 12 —
dem Zeugnis TorricelWs,1) Ferdinand IL, Grossherzog
von Toskana, beschäftigt und unterhalten hat.
Die erste Spur der Verwendung einer Flüssigkeit
statt der Luft zur Beobachtung von Änderungen der
Temperatur findet sich bei Jean Roy, einem französischen
Arzte und Chemiker. Dieser hatte mit P. Mersenne
eine lebhafte Korrespondenz, aus der einige Briefe, zu-
sammen mit einem von diesem Arzte im Jahre 1630
veröffentlichten Büchlein, im Jahre 1777 von Gobet her-
ausgegeben worden sind. Das Büchlein führt den Titel:
Essays sur la recherche de la cause pour laquelle
l'estain et le plomb augmentent de poids quand on les
calcine. Bazas 1630 in-8°, 142 Seiten; in der von
Gobet veranstalteten Ausgabe liest man (p. 114) in
einem Brief von P. Mersenne am 1. September 1631 2) :
Et puis le termoscope faisant descendre la liqueur par
la raréfaction de son air, tesmoigne que la chaleur rend
l'air plus subtil, sans qu'un plus espais descende en son lieu.
Worauf J. Hey die bemerkenswerte Antwort giebt,
am 1. Januar 1632:
11 y a diversité de thermoscopes ou thermomètres,
à ce que je voy : ce que vous en dittes ne peut con-
venir au mien, qui n'est rien plus qu'une petite phiole
ronde, ayant le col fort long et deslié. Pour m'en ser-
vir je la mets au soleil, et par fois à la main d'un
febricitant, l'ayant tout remplie d'eau fors le col, la
chaleur dilatant l'eau fait qu'elle monte: le plus et le
moins m'indiquent la chaleur grande ou petite.
Rey hat wohl sein Instrument vorherrschend zu
ärztlichen Zwecken gebraucht; da er sich des Wassers
1 ' Moiiconys Journ. cl. voyages I, p. 130—131.
-) Hr. Prof. Kahlbaum hat mir dieses Buch zur Einsicht zu-
gestellt; zugleich mit einer 1895 veranstalteten englischen Über-
setzung der ersten Schrift von /. Rey (1630).
— 13 —
bediente, konnte er niedrige Lufttemperaturen nicht
beobachten; auch war es wahrscheinlich oben offen.
P. Mersenne hat aber die Erklärung des ihm noch
unbekannten Instrumentes nicht verstanden, denn er
schreibt am 1. April 1032 (p. 149):
Ce n'est pas l'eau du thermomètre qui se raréfie
quand elle monte comme vous dites: mais c'est l'air
qui s'espaississant la fait monter, et se dilatant par la
raréfaction la fait descendre.
5) Florentiner Thermometer.
Es wird nun schwer zu sagen sein, ob das Vor-
handensein eines solchen Thermometers zu weiterer
Kenntnis gelangt oder ob die Erfindung des geschlos-
senen Florentinerthermometers, beruhend auf der Be-
obachtung der Ausdehnung des Weingeistes, als eine
originale zu betrachten sei. In Florenz wurde sie dem
Grossherzoy Ferdinand IL von Toskana zugeschrieben,
und von Florenz aus gelangten solche Instrumente in
andere Gegenden, erst als fürstliche Geschenke verein-
zelt, später aber als förmlicher Handelsartikel; auch
wurden sie anderwärts von Unberufenen nachgemacht,
erhielten willkürliche, wenig übereinstimmende Skalen,
behielten aber immer den Namen Florentinerthermo-
meter. Der Grossherzog versandte seine Thermometer
an verschiedene Orte im Lande, um damit Beobachtungen
anstellen zu lassen und zu sammeln. Nach Berichten,
die in neuerer Zeit bekannt geworden sind, erfahren
wir von zwei solchen Instrumenten, von denen das eine
in die Hände von Ismail Boulliau (BuMialdus), das
andere in die von Cf/ristiaan Hut/gens gelangt ist.
Nach einer später zu erwähnenden Beobachtung muss
man annehmen, dass diese ebenso müssen eingeteilt ge-
1 ! —
wesen sein, wie die, deren sich die Akademiker del
( üniento bedient haben und deren exakte technische
Ausführung in der Florentiner-Sammlung der I ralileischen
Tribuna nicht genug kann bewundert werden. Die
Akademie fand die in ihren Verhandlungen erwähnten
Messinstrumente schon bei ihrer Gründung vor.1) Der
Geschichtschreiber der Akademie Yincenzio Antinori, der
die Ausgabe der Saggi di naturali Esperienze vom
Jahre 1841 einleitet, zieht auf p. 105 alle Seiten der
Thätigkeit der nur zehn Jahre lebenden Akademie in
einer langen Periode zusammen und erwähnt unter den
aufgezählten Arbeiten die Thermometer nicht; hingegen
fragt er (p. 106), wie es möglich gewesen sei. dass
Ferdinand, der dieser Akademie seine wertvollen In-
strumente übergeben habe, die Auflösung der Akademie
habe können geschehen lassen.
Ich erinnere daran, dass in diesen Verhandlungen,
und zwar an deren Anfang einige Thermometer genauer
beschrieben sind, und dass die in Florenz jetzt noch
vorhandenen genau mit der Beschreibung übereinstimmen.
In der ersten Art, deren Skala in 100 Grade ge-
teilt ist, steigt der ungefärbte Weingeist bis zu einem
mit 20 bezeichneten Grade, wenn das Instrument in
Scli nee und Eis gestellt wird, und nicht höher als bis
zum 80. Grade in der stärksten Sommerhitze.
Eine zweite Art ist dem ersten ähnlich erstellt, aber
statt in 100 in 50 Grade eingeteilt; während jenes im
strengsten Winter 16" oder 17° zeige, zeige dieses 12°
oder 11": während jenes bei intensiver Hitze bis 80°
steige, steige dieses nur bis 40"; von diesem zweiten
wird ferner ausgesagt : „Wir haben ein Bleigefass mit
klein zerriebenem Eise gefüllt und ein Thermometer
gi. Not. istor. ]i. 39.
— 15 —
von 50° hineingestellt, welches sich auf 1B1/*0 einge-
stellt hat," ')
Ein drittes Thermometer war in 300 Grade ein-
geteilt,
Ein Glaskünstler, der für den Grossherzog arbeitete,
pflegte zu sagen, er würde sich getrauen, zwei, drei
oder mehrere öOgradige Thermometer zu machen, die
im gleichen Räume gleiche Grade zeigten, nicht aber
solche von 100 oder 300 Graden.
Als Antinori 1829 eine Anzahl Thermometer der
Akademiker auffand, wurde von Libri eine Vergleichung
mit der sog. Reaumurskala vorgenommen. Das Resultat
war, dass 0° R. auf 13,5° Fl. und 0 Fl. auf — 15° R,
fiel. Die Übereinstimmung des Eispunktes ist fast zu
vollkommen, indem im Laufe langer Jahre wohl in
diesen Thermometern der Eispunkt auch etwas dürfte
gestiegen sein.
Zu ganz allgemeiner Kenntnis sind die Florentiner-
thermometer in der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht
gelangt. Ich habe versucht zu ermitteln, ob vielleicht
solche Instrumente zugleich mit den astronomischen, in
China hergestellten, dort eingeführt worden seien; allein
weiter als zu einem Thermoskop, auf der Ausdehnung
der Luft beruhend und nach Art des Instrumentes von
Galilei oder Sanclorius gebildeten hat es der in astro-
nomischen Dingen wohl erfahrene Jésuite, der die Her-
stellung aller Instrumente leitete, nicht gebracht.
Ferdinand Verbietst S. J.2) widmet in seiner Astro-
noinia europœa, Ex umbra in lucem revocata sub im -
1) Saggi di natur. Esp. 1841, p. 39. Die Akademiker de!
Cimento betrachteten die 50gradigen Thermometer, laut Sagg.
p. 120 als i più commodi, i più sinceri, e per consequenza i piii
adoprati a conoscer le alteruzioni del aria.
2) Über Ferdinand Yerkicst?* Schriften siehe T. S. Bayer in
Miseell. Berol. T. VI Nr. III p. 18i)— 192.
— 16
peratore Tartarico-Synico, Cam Hy appellato, ein be-
sonderes Kapitel XXV I. p. 95 der Meteorologie, worin
die Sonnen- und Mondringe, Nebensonnen und andere
atmosphärische Erscheinungen erörtert werden. Über-
dies wird erwähnt ein Thermoskop, der Beschreibung
nach, wie eben erwähnt, ein unvollkommenes Instrument:
Hoc tbermoscopium ex vitro Sinico conflandum
curavi, quod gracili et longo tubo, instar siphonis bicru-
ris reflexo, atque ex magno globo vitreo descendente,
vel minimam quamvis caloris et frigoris vicissitudinem
statin) ante oculos ponebat, oculo scilicet omnium sen-
suum acutissimo defectum tactus, qui omnium sensuum
maxime obtusus est, neque hos caloris et frigoris gra-
dus omnes discernere facile potest, abunde supplente.
6) Ismaël Boulliau (Bullialdus).
Vor einigen Jahren hat der Abbé Maze der Pariser
Akademie folgendes mitgeteilt und in den Comptes
Rendus CXXI, p. 230—231 (1895) veröffentlicht:
Sur le premier thermomètre à alcool utilisé à Paris.
Il y a quelques mois, j'ai fait connaître à l'Aca-
démie la plus ancienne série thermometrique faite à
Paris. Il était intéressant de chercher comment Boul/itm.
l'auteur de cette série, avait été mis en possession d'un
thermomètre de Florence. Cette recherche a été cou-
ronnée de succès; je puis affirmer aujourd'hui que ce
thermomètre, pour venir de Florence à Paris, est passé
par la Pologne.
Pendant l'été de 1057, la reine de Pologne. Mûrit
Louise de Gonzague, envoya Mr. Buralin avec une
mission en Italie. Celui-ci revint avec divers cadeaux
du grand-duc de Toscane, parmi lesquels il y avait des
thermomètres scellés et d'autres inventions aussi scellées
— 17 —
pour comparer la pesanteur de toutes les liqueurs, d'autres
pour mesurer la chaleur des fébricitants et les mouve-
ments du pouls, etc.
Des Noyers, secrétaire de la reine, envoya à Boulliau
un de ces thermomètres, mais auparavant il lui en avait
fait parvenir la description et le dessin. Ce dernier,
conservé à la Bibliothèque nationale avec les lettres de
Des Noyers, n'est qu'un simple croquis, mais comme son
auteur affirme par deux fois que la forme et les dimen-
sions en sont très exactes, que, d'ailleurs, il est facile
de voir qu'il l'a tracé à l'aide d'un compas, cela per-
met de juger de la forme et des dimensions de l'in-
strument.
Cette forme était celle de nos thermomètres à
boule, mais cette dernière était un peu aplatie normale-
ment à la tige. L'intérieur, boule et tige, mesurait
exactement un décimètre. Ce thermomètre était gradué
sur tige à l'aide de petits points en émail noir. Les
dizaines étaient marquées par des points plus gros d'émail
blanc. L'alcool était incolore. „On n'y met pas de
l'esprit-de-vin coloré parce qu'avec le temps il salit le
verre, et, y demeurant attaché hors du liquide, en di-
minue la quantité apparente."
Le jour de l'envoi n'est pas connu, mais l'instru-
ment fut longtemps en route, comme le prouvent les
lignes suivantes, datées du 16 juin 1058: „Je vois par
votre lettre du 24 may qu'enfin vous avez reçu le petit
thermomètre. Le grand-duc en porte toujours un dans
sa pochette."
La première observation inscrite dans la série de
Boulliau est du 25 mai 1658. Les chiffres ne sauraient
mieux concorder. On voit que notre astronome n'a
guère tardé à se mettre à l'œuvre, posant ainsi les
premières bases de la climatologie française.
->
18
Über diese älteste Beobachtungsreihe berichtet der
Abbé Mme in Comptes Rendus CXX, p. 731 (1895):
Sur la plus ancienne série française d'observations ther-
mométriques et météorologiques.
Dans un recueil de documents astronomiques que
possède l'observatoire national se trouve relié un cahier
écrit de la main du prêtre astronome Ismaël Boulliau.
Ce registre, car c'en est un, a pour titre : Ad thermo-
metrum observationes anno 1658 Parisiis, et ce sous-
titre : Thermometrum Florentiœ fabricatum. Or chacun
de ces deux titres est une révélation : on ne connais-
sait pas, à Paris, d'observations thermométriques anté-
rieures à celle de Laltire, et l'on ignorait qu'il eût été
l'ait, hors de l'Italie, d'observations avec le thermomètre
de l'Académie del Cimento. Comme les observations
de Boulliau sont accompagnées des notes sur la direction
du vent, les chutes de pluie ou de neige, le gel, le
dégel etc., la comparaison entre ces notes et le degré
inscrit en regard permet de s'assurer que l'échelle
employée est bien celle de l'Académie del Cimento,
telle que Libri l'a fait connaître en 1830; c'est-à-dire
que le zéro de Florence correspond à -- 18,75° C. et
le zéro de nos thermomètres est à 13l/i° del Cimento.
Die Beobachtungen umfassen drei Sommer und zwei
Winter (25. Mai 1658 bis 19. September 1660) und
bilden eine nicht ganz vollständige Reihe, die doch
manches Interessante bietet für die Klimatologie von
Paris in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Nur die in
Florenz von P. Bainer angestellten Beobachtungen
reichen noch über drei Jahre weiter zurück bis 1654.
Die Tagebücher sind noch erhalten und durch den Di-
rektor des Museo (Talileiano, V. Antinori, im Archivio
centrale italiano I Firenze 1858 ausführlich veröffent-
licht worden. Sie besinnen mit dem 15. Dezember 165-1
— 19 —
und enden im März 1670 '); 1670 aber wurde bisher
als der früheste Zeitpunkt angesehen, bei dem in Paris
überhaupt beobachtet wurde und zwar durch den in
Maze's Mitteilungen genannten La Hire, dessen Ther-
mometer auch ein Florentiner gewesen sein soll.
Über das aus Polen erhaltene Thermometer schreibt
Boulliau am 28. Februar 1659 an den Fürsten Leopold ,
Bruder des Grossherzogs von Toskana2) :
Thermometrum unum ex Polonia a quodam amico
meo anno superiore accepi, quod Florentia? confectum
mihi asseruit, per intensissimos œstatis pneteritœ sestus
ad gradum trigesimum septimum liquor in illo intumuit;
vicissimque Decembris elapsi diebus aliquot ad gra-
dum 7 liquor depressus apparuit. Hoc etiam adnotavi
pruinam cecidisse ac tenuissimam glaciem visam esse
ubi liquor fuit ad 15 gradus compressus; usque dum
ad 14 gradus subsedisset gelu non exspectaveram, cum
monuisset me amicus supra illum gradum nee cadentem
rorem in pruinam, nee aquam in glaciem concrescere.
Hierauf verlangt Leopold genauere Angaben über
das gebrauchte Thermometer in folgender Briefstelle
vom 31. März 1659 3):
Et intormo a quel Termometro inviatole dall' Amico
di Polonia. per poter dare a Vostra Signoria qualche
aggiustata risposta sopra le sue operazioni, è necessario
che ella mi mandi üna misura, o disegno puntuale della
sua grandezza, et in quanti gradi sia diviso, con aggiu-
gnerui la relazione di una esperienza, che desidererei
Vostra Signoria facesse, che è questa di mettere il
Termometro dentro al Diaccio stritolato e osservare se
r) Hellmann, Dr. G., Die Antauge der meteorol. Beol>acht.
und Iustrum. aus Illustr. naturwiss. Monatsschrift Himmel und
Erde, Jahrg. II, p. 3. 4. Heft 1890.
2) Huygem. Oeuv. compl. Bd. III, p. 460.
8) lluygens. Oeuv. compl. Bd. III, p. 461, 463, 464.
20
quanto l'acqua del Termometro et a che gradi cali
doppo essere il medesimo stato nel Diaccio per lo spazio
di mezza ora, e con tenervelo tanto tempo sommerso,
che cali alla minor possibile hassezza.
Am 2. Mai 1650 zeigt Boulliau dem Fürsten Leo-
pold den Empfang zweier Thermometer an :
Etsi fortasse importunus nimis videar, pauca tarnen
rescribenda mihi videntur, ut therinometrorum in liquoris
ostendendo ascensu et descensu varietatem significem
ex quo instrumenta illa vitrea a Celsitudine Tua Sere-
missima accepi, thermometra bina, qua3 intégra in ar-
cula inveni, cum eo quod ex Polonia ad me fuit miss um
comparavi et in hocce altiorem apparere liquorem duo-
lius punctis, quam in illis, semper notavi. Cumque sint
illa instrumenta inter se omnimode sequalia, tarn penes
tubuli longitudinem ac capacitatem, quam penes utriculi
capacitatem, differentiam illam in spiritus vini subtili-
tate ac tenuitate insequali oriri existimo. aliunde enim,
quam ex contenti liquoris majori vel minori levitate,
quse majorem vel minorem phlegmatis copiam sequitur.
causam repetere facile non est, cum vasa qua? illum
continent undequaquam ajqualia et similia sint. Glaciei
comminutse illa simul immersa thermometra, ut monitis
tuis, Serenissime Princeps, obtemperem, utque quam
maxime in singulis subsidit liquor, deprehendam.
Hierauf antwortet Leopold dem J. Boulliau am
22. Mai 1659:
Sopra la differenza che Vostra Signoria mi accenna
h a ver potuto riconoscere fra i Termometri inviatili da
me et quello che ella ha riceuto di Pollonia, altro di qua
da lontano non saprei dirmi, se non questa diversita
puo haver' cagione, quantunque i Termometri siano di
ugual' grandezza, dall' havere il maestro che gl'ha fab-
bricati messa qualche quantita di acqua arzente più in
21 —
uno che nell altro, o si vero quello che Vostra Signoria
accenna dall' essere l'acqua arzente in alcuno di questi
strumentini piü gagliarda che nel altro.
7) Christiaan Huygeus; Robert Hooke.
In dieselbe Zeit nun lallt auch die Zusendung
eines solchen Thermometers mittlerer Grösse, dem zweiten
Thermometer der Akademie entsprechend, an Christiaan
Huygens in La Haye, aus dessen Briefwechsel mit R.
Moray, dem Engländer, nicht nur hervorgeht, dass
Huygens sich um 1660 im Besitze eines Florentiner-
thermometers befand zu einer Zeit, da man in Eng-
land ein solches noch nicht gesehen hatte, wohl aber
wahrscheinlich unter der Führung Robert Boy le' s und
unter Mitwirkung des geschickten Experimentators und
Schützling'* Boyle's 1), Roh. Hooke, bemüht war, dem
gemeinen Wetterglas (common Weather-Glass) das ge-
schlossene Thermometer (seald Thermometer) an die
Seite zu stellen.
Robert Boy le berichtet in seinem klassischen Buche:
Experiments touching Cold, 1665, nachdem er die Mängel
des vom Luftdrucke abhängigen Thermoskopes beleuchtet,
dass er die Herstellung des ersten hermetisch ver-
schlossenen Thermometers in England geleitet habe.
Diese Arbeit aber sei gefördert worden dadurch, dass
er von einem einsichtigen Reisenden ein kleines Wetter-
glas gesehen habe, das dieser von Florenz mitbrachte,
woraus hervorgehe, dass höchst geschickte Männer,
Zierden jener schönen Stadt, vorangegangen seien in
1) It. Hooke, Micrographie, 1665. Préface : The most Illu-
strious Mr. Boyle, whom it beconies me to mention with all ho-
nour, not only as my particular Patron, but as the Patron of Phi-
losophy itself; which he every day increases by his labours, and
adornes by his Exemple.
— 22 —
der Herstellung geschlossener Thermometer von geeig-
neter Form. Jetzt aber, seitdem diese Methode durch
die geschickte Hand, die für ihn arbeite, verbessert worden
sei, seien sie in hohem Grade vervollkommnet worden.
leh habe früher schon die Vermutung ausgesprochen,
der Reisende, der Boy le zuerst ein Florentinerthermo-
meter gezeigt habe, möchte der Franzose Balthasar
Monconys gewesen sein, der in seinem „Journal des
Voyages" berichtet, dass er am 30. Mai 16(33 l) von
Boyle in eine Sitzung der Akademie mitgenommen wor-
den sei; im Reisetagebuche ist am folgenden Tage eine
Beobachtung mit dem von ihm mitgeführten Thermo-
meter aufgezeichnet.
Die geschickte Hand aber, die für Boyle arbeitete,
gehörte wahrscheinlich dem Experimentator der Königl.
Gesellschaft Robert Hooke, berühmt durch zahlreiche
Erfindungen und viele Prioritätsstreitigkeiten.
Am 9. September 1663 sprach Reale in der unter
Oldenburg versammelten Kgl. Gesellschaft den Wunsch
aus, übereinstimmende Thermometer zu erhalten, um in
verschiedenen Landesgegenden vergleichbare meteoro-
logische Beobachtungen zu machen-, die Gesellschaft
beauftragte ihren Experimentator, R. Hooke, ein Dutzend
solcher Weingeistthermometer zu beschaffen. Am 22.
Oktober 1663 verteilte dieser in der That solche ad-
justierte Thermometer; ein solches erhielt auch R.Moray-).
R. Hooke beschreibt die Herstellung seines Normal-
thermometers in der Micrographie 3). Es lohnt sich
1 Journ. d. Voyage, II. p. 38; nicht 1662, wie im Bull. d. 1.
soc. Beige d' Astron. 1901, p. 288 steht.
'< Huyg. Oeuvr. Bd. IV, p. 425, Fussnote,
Robert Hooke F. R. S. Micrographia. London 1665. Am
23. November 1664 hat der Rat der R. S. angeordnet, dass dieses
Buch bei den Druckern der Gesellschaft .In. Harly und Ja. AUestry
gedruckt werde .off. Biblioth. h. c. I. S ;, unsere Stelle p. 37—39.
23
wohl der Mühe, diese in extenso zu geben, als ersten
Versuch, der zwar nicht ganz zu dem gehofften Resul-
tate führen konnte, der aber dafür zeugt, dass es Hooke
ernstlich daran lag, wirklich vergleichbare Thermometer
zu erstellen.
Einleitungsweise stellt Hooke einige Thesen auf
über Wirkungen der Wärme, z. B. dass eingeschlossene
Flüssigkeiten erwärmt, die stärksten Wände sprengen
können. Hiebei spricht er den Satz aus: That Heat
is a property of a body arising from the motion or
agitation of its parts. Und weiterhin fährt er fort:
Das wird klar mittelst der geschlossenen Thermo-
meter, die ich nach mehreren Versuchen zuletzt zu einem
hohen Grade von Sicherheit und Empfindlichkeit ge-
bracht habe : denn ich habe einige hergestellt mit Röhren,
über vier Fuss lang, in denen die sich ausdehnende
Flüssigkeit sich so weit verändert, dass sie nahezu bis
zum obern Ende steigt in der Hitze des Sommers und
fast bis zum Boden sinkt im kältesten Winter. Die
Röhren, deren ich mich hierzu bediene, sind sehr dicke,
gerade und gleichmässige Glasröhren mit engem Lumen
und beides, Kopf und Kugel, habe ich absichtlich
in der Glashütte aus demselben Glasfluss gemacht,
aus dem auch die Röhren bestehen; diese kann ich
leicht in der Flamme einer Lampe, erhitzt mittelst
zweier Blasebälge, fest aneinander schmelzen. Auf diese
Weise füge ich zuerst die Kugel an und dann fülle
ich beide, Kugel und einen Teil der Röhre, je nach
der Länge und der Temperatur der Jahreszeit mit dem
besten rektifizierten Weingeist, tief gefärbt mit der lieb-
lichen Farbe der Cochenille, die ich dunkler mache, in-
dem ich einige Tropfen Ammoniak zugiesse, das nicht
zu sehr rektifiziert sein darf, weil es geeignet ist, die
Flüssigkeit gerinnen und an der engen Röhre ankleben
— 24
zu machen. Diese Flüssigkeit habe ich durch Ver-
suche als die beste unter allen Spirituosen erfunden
und als solche, die durch die Änderungen der Wärme
und Kälte empfindlicher berührt wird, als andere trägere
und schwerere Flüssigkeiten und als fähig, eine tiefe
Färbung anzunehmen und zu behalten, besser als irgend
eine andere Flüssigkeit, und endlich (was sie noch an-
nehmbarer macht) nicht Gefahr läuft, bei irgend einer
bisher bekannten Temperatur zu gefrieren. Habe ich
nun diese eingefüllt, so kann ich leicht in der vorer-
wähnten Lampenflamme auch den Kopf anschmelzen
und mit der Röhre verbinden.
Was nun die Einteilung der Röhre anbelangt, so
stelle ich fest, bevor die Einteilung der Röhre begonnen
wird, bis wohin das Niveau der Flüssigkeit in der Röhre
sich einstellt, wenn die Kugel in gewöhnlichem destil-
liertem Wasser steht, das im Begriffe ist zu gefrieren
und wenn Eisnadeln anschiessen ; diesen Punkt markiere
ich an einem passenden Ort der Röhre, damit diese
dann imstande sei, auch noch manche Grade von Kälte
anzugeben unter dem Gefrierpunkt; den Rest meiner
Einteilung über und unter diesem, den ich mit 0 (Null)
bezeichne, ordne ich nach dem Grade der Ausdehnung
oder Zusammenziehung der Flüssigkeit im Verhältnis
zu der Menge, die sie beim Eispunkt aufweist. Und
das erhält man sehr leicht und genau genug auf folgen-
dem Wege:
Man stellt ein cylindrisches Gefäss her mit dünnen
Silberplatten, A B C D der Figur Z, der Diameter
A B des Innenraumes soll überall zwei Zoll haben und
ebenso die Höhe des Gefässes B C; beide Seiten oben
und unten sollen mit einer glatten und ebenen Platte
aus derselben Substanz bedeckt werden, genau ange-
lötet ; in der Mitte der Deckplatte macht man ein ziem-
25
lieh weites Loch FE, ungefähr ein Fünftel Durchmesser
der Platte; in dieses füge man mit Cernent befestigt
eine gerade und ebenmässige
Glasröhre E F G H, deren
Lumen genau den zehnten Teil
des Durchmessers des silbernen
Cylinders misst. An dieser
Röhre bringt man eine Marke
an, G H, mit einem Diamant,
so dass der Abstand G E ge-
nau zwei Zoll misst, also genau
so viel als der Innenraum des
grossen Cylinders; man teile
dann die Länge E G genau in
zehn gleiche Teile, so ist der
Inhalt eines jeden dieser Teile
der tausendste Teil des In-
haltes des Cylinders. Ist nun
dieses Gefäss so gerüstet,
so kann die Markierung und Graduierung des Thermo-
meters leicht in folgender Weise bewerkstelligt werden :
Fülle dieses Cylindergefäss mit der gleichen Flüssig-
keit, mit der das Thermometer gefüllt ist ; dann stelle
beide, das Gefäss und das Thermometer, das eingeteilt
werden soll, in Wasser, das zu frieren beginnt, und
bringe das Niveau der Flüssigkeit im Thermometer zu
der ersten Marke 0 (Null) ; dann miss so viel Flüssig-
keit in dem Cylindergefäss ab, dass das Niveau genau
bis zum untern Ende des schmalen Glascylinders reicht;
dann erwärme langsam und allmählich das Wasser, in
dem beide, Cylindergefäss und Thermometer, eingetaucht
sind und sowie du wahrnimmst, dass die gefärbte Flüs-
sigkeit in beiden Röhren steigt, so markiere mit einem
Diamant verschiedene Punkte auf der Thermometer-
26
Röhre an solchen Stellen, die beim Vergleichen der
Ausdehnung in beiden Röhren mit den Teilstrichen des
Cylindergefässes übereinstimmen. Sind auf diese Weise
einige wenige Teilstriche gemacht, so kann der Rest
der Röhre eingeteilt und jeder Teil der Skala mit ihrem
Charakter bezeichnet werden.
Ein Thermometer, auf diese Weise hergestellt, ist
dann das passendste Instrument, das als Standart für
Hitze und Kälte ersonnen werden kann; denn, da es
oben geschlossen ist, ist es keiner Veränderung und
keinem Verderben unterworfen, auch unabhängig von
den Veränderungen des Luftdrucks, denen alle andern,
oben offenen Arten von Thermometern ausgesetzt sind."
Wir verkennen nicht, dass die von Hooke beschrie-
bene Methode für die Tüchtigkeit des Experimentators
zeugt, allein einwandfrei ist sie nicht, scheint auch in
gleicher Weise später nicht mehr verwendet worden
zu sein.
Schon die Erstellung des Probegefässes dürfte
Schwierigkeiten begegnen, wenn die Röhre ein Lumen
haben muss, das durch die ganze Länge genau gleich
dem zehnten Teil des Gefässdurchmessers ist. Wenn
hier ein kleiner Unterschied vorhanden ist, so enthalten
zwei Zoll der Röhre nicht mehr den hundertsten Teil
des Gefässes. Auch die ungleich schnelle Erwärmung
des Metallgefässes und des Glasthermometers, die un-
gleiche Ausdehnung von Weingeist verschiedener Stärke,
die ungleichmässige Ausdehnung des Weingeistes bei
steigender Temperatur, alle diese Umstände bilden
Fehlerquellen, die das Resultat beeinträchtigen. Nichts-
destoweniger ist während geraumer Zeit keine Methode
angewandt worden, die bessere Resultate erzielt hätte;
denn die für die Florentinerthermometer gewählten
Punkte der grössten Winterkälte und der höchsten
— 27 —
Sommerwärme haben eine zu grosse Unsicherheit, um
als feste gelten zu können ; sie kommen aber noch bis
zum Anfang des 18. Jahrhunderts zur Anwendung.
Aus Hoo/c^s Darstellung aber geht hervor, dass er den
Schmelzpunkt des Eises als durchaus festen Punkt an-
gesehen hat.
Als Hliygens erfuhr, dass in England vergleich-
bare Thermometer erstellt und an verschiedene Per-
sonen verteilt worden seien, wünschte er auch ein solches
zu erhalten und schrieb daher an Mcray, am 21. No-
vember 1664. (Oeuvr. Bd. V, p. 150.)
Vous m'obligerez fort de m'envoier par occasion
un tel thermomètre que vous dites, je n'en ay jamais
eu que de petits de cette sorte qui sont scellez her-
métiquement. S'il y a quelque chose de plus dans la
construction des grands vous m'en pourriez faire la des-
cription paravance.
Hierauf folgte der Brief von R. Moray vom 19.
Dezember 1664. (Oeuvr. Bd. V, p. 168, 169.)
En regardant maintenant les autres passages de
vostre lettre sur les quelles il me reste encore quelque
chose a vous dire. Je trouve que J'ay a vous faire
la description du thermomètre de Monsieur Hoolî. Je
vous la feray donc en bref. Il prend un tuyau de
verre de la longueur de deux pieds ou davantage, (il
en a fait de trois pieds) de l'espaisseur de demiquart
de poulce, le creux en dedans estant large de 1/io de
poulce ou moins, et en y soudant une balle de verre
de deux poulces de diamètre ou environs en sorte qu'il
y a communication entre le tuyau et la balle en dedans
fort libre. 11 remplit sa balle, comme je vous cliray
après de lesprit de vin fort pur coloré rouge par le
bois de Brésil, les grains du Cochenille ou chose sem-
blable puis, en y souciant ou ioignant par la lampe une
— 28 —
autre balle plus petite a lautre bout du tuyau en sorte
qu'il ne respire point, il met le thermomètre dans un
châssis de bois, sur lequel sont marques les parties par
lesquelles il veut comter les degrez de chaleur, commen-
çant par le milieu du Tuyau. Le plus haut marquant
la plus grande chaleur d'esté, et le plus bas le degré
de froid qui fait de la glace. En voycy la figure sur
la marche grossièrement tirée: mais elle suffira pour
vous le faire comprendre. Or ayant de longuemain fait
un ou deux de ces thermomètres dans l'esté et dans
l'hiver lorsque les extremitez se pouvoyent observer, il
met leau de vie dans ceux quil fait iusqu'à la hauteur
qu'elle est dans ceux qui servent de reigle aux autres.
Auf der daneben gezeichneten Skala ist 0 in der
Mitte und Grade sind nach oben und unten aufge-
tragen. Huoke's Methode ist hier wenig genau dar-
gestellt.
Unter dem 2. Januar 1665 *) folgt die bemerkens-
werte Antwort von Huygens:
Je vous remercie du thermomètre que je croy fort
juste et toutefois les petits de 6 ou 7 pouces ne sont
pas a mépriser, parcequ'ils sont propres a faire des
essais ou les grands ne pourroient pas servir, comme a
mettre soubs une poule pour scavoir le degré de chaleur
qu'il faut pour esclorre les œufs, et en des choses sem-
blables ou la grandeur incommoderoit. Monsieur de
Xoijers le Secrétaire de la Reine de Pologne, qui m'a
donné autrefois un de ces petits, me dit que à Florence
il en avoit vu qui estoient entortillez en spirale, ce qui
sert pour avoir des grandes divisions dans un petit
volume et rendre les thermomètres portatifs. Il seroit
bon de songer a une mesure universelle et déterminée
du froid et du chaud ; en faisant premièrement que la
!) Oeuvres Bd. p. V, 188.
— 29 —
capacité de la boule eut une certaine proportion a celle
du tuyau, et puis prenant pour commencement le degré
de froid par lequel l'eau commence a geler, ou bien le
degré de chaud de l'eau bouillante, a fin que sans en-
voier de thermomètres l'on peut se communiquer les
degrez du chaud et du froid qu'on auroit trouvé dans
les expériences, et les consigner a la postérité.
Diese Antwort von Huygens zeigt uns, dass er von
Des Noyers ein echtes Florentinerthermometer von der
kleinern, bequemeren Art erhalten, daran aber feste
Punkte vermisst hat. Aus seinem Vorschlag aber, wie
man die Thermometer einteilen könnte, ausgehend ent-
weder vom Gefrierpunkt oder vom Siedepunkt des
Wassers unter Berücksichtigung der Kapazität der
Röhre im Vergleich zu der der Kugel — aus diesem
Vorschlag folgt, dass er nicht nur den Gefrierpunkt,
sondern auch den Siedepunkt als fest angesehen hat.
Da man nun mittelst der Florentinerthermometer den
Siedepunkt des Wassers nicht bestimmen, seine Kon-
stanz also auch nicht beobachten konnte, so bleibt die
Frage offen, Avoher Huygens sich die Kenntnis dieser
festen Temperatur mag verschafft haben. Sein Vor-
schlag fällt im AVesentlichen mit der Anordnung Hooke's
zusammen, gerade wie auch spätere Aufstellungen von
Skalen, wie z. B. die von liéaunmr. Dass Huygens
selbst sich mit Herstellung von Thermometern nach dem
von ihm angegebenen Prinzip befasst habe, wird uns nir-
gends berichtet; seinen Namen tragen keine Thermometer.
Überhaupt scheinen alle geschlossenen mit Wein-
geist gefüllten Thermometer bis in das folgende Jahr-
hundert hinein mit dem Namen Florentinerthermometer
bezeichnet worden zu sein, und da sie weniger zu wissen-
schaftlicher Beobachtung als zu täglichem Gebrauche
verwendet wurden, war der Anspruch auf Vergleichbar-
— 30 —
keit nur bescheiden. Wenn nur jeder, der sein Ther-
mometer besass, ihm entnehmen konnte, ob und in
welchem Masse ungefähr die Temperatur in dem Räume,
in dem das Instrument sich befand, geschwankt habe.
Wahrscheinlich hängt mit diesem Gebrauche auch die
verbreitete Einteilung zusammen, die ausging von einer
erträglichen Mitteltemperatur (Tempere) und nach beiden
Seiten fortschritt zur höchsten Sommertemperatur und
zur intensivsten Winterkälte. Es existieren wohl nicht
mehr viele Florentinerthermometer dieser geringern
Sorte; sonst wäre es interessant, sich von der Berech-
tigung der Klagen zu überzeugen, die von allen Seiten
in Bezug auf deren Unzuverlässigkeit vernommen werden.
Die physikalische Sammlung des Bernoullianums
besitzt unter ihren alten, nach und nach recht selten
gewordenen Thermometern auch ein solches, angebracht
neben einem Barometer. Es trägt die Überschrift :
Thermometrum Academiae Florentinae und hat eine
auf Papier gedruckte Skala, die nicht gerade besonderes
Vertrauen erweckt. Um die Frage zu entscheiden, ob
dieses Thermometer die Skala der Akademiker zeige
oder eine andere, wurde das Instrument von dem Brette
losgelöst und Herr Dr. Henri Yeillon hatte die Freund-
lichkeit die Skala mit derjenigen eines Quecksilberther-
mometers C. zu vergleichen, d. h. zwei Punkte festzu-
stellen, aus denen man annähernd den Charakter der
Skala erschliessen konnte.
Er fand folgende Übereinstimmung :
40° Florenz = 40° C.
— 18° Florenz = 0° C.
Hienach fällt
0° Florenz = 12,4° C,
d. h. auf Tempéré.
— 40° Florenz = — 15,2° C.
— 31 —
Wenn man nun 40° C. als höchste Sommerwärme,
- 15,2 C. als intensivste Winterkälte ansehen kann,
so wäre die Skala des Florentinerthermometers der
Basler Sammlung :
Winterkälte: Tempéré: Sommerhitze:
— 40 ° 0 ° + 40 °
Von dieser Skala, die ohne Berücksichtigung der
ungleichen Ausdehnung von Weingeist und Quecksilber
erhalten worden ist, ist nur ein kleiner Schritt zu der
ersten Skala, mit der Fahrenheit seine ersten genauen
Thermometer versehen hat :
Winterkälte : Tempéré : Sommerhitze :
— 90 ° 0 ° -f 90 °
Von diesen drei Stationen ist das Tempéré auf
spätem Einteilungen immer wieder erschienen und heute
noch nicht aus dem Gebrauche verschwunden.
8) Anwendung des Quecksilbers.
Als wichtigste Änderung, die im Laufe der Zeit
an dem Elorentinerthermometer angebracht worden ist,
muss die Anwendung von Quecksilber angesehen werden.
Alle gebräuchlichen und über die Länder verbreiteten
Instrumente enthielten anfangs Weingeist, gefärbt oder
ungefärbt; er eignete sich hiezu wegen seines grossen
Ausdehnungskoeffizienten und seines niedrigen Gefrier-
punktes. Der Nachteil der ungleichmässigen Aus-
dehnung bei verschieden hohen Temperaturen war zu-
nächst noch unbekannt. Neben dem Weingeist be-
gegnet man aber auch dem Weine, dem Wasser und
selbst dem Quecksilber, letzterm freilich nur sehr ver-
einzelt und ohne Nachfolge. In der That findet sich
die erste Spur einer solchen Verwendung schon bei
den Akademikern del Cimento. In den Verhandlungen
— 32 —
dieser Akademie, nämlich in den aus den Tagebüchern
geschöpften Aggiunti, dem Supplement der Saggi, ist
ein Versuch beschrieben, angestellt mit einem Wasser-
und einem Quecksilbertliermometer.1) Nachdem darge-
than worden, dass es zur Erwärmung des Quecksilbers
einer kleinem Wärmemenge bedürfe, als zu der gleich
grossen Menge Wassers und dass die Erwärmung
schneller erfolge, fährt der Bericht fort :
In altre esperienze, similmente ripetute più volte
trovarono che immersi due termometri equali, uno dei
quali a mercurio, l'altro ad acqua, nei liquidi stessi.
il mercurio si muove il primo, ma percorre un tratto
più brève, lo che essi espressero dicendo che è meno
distraibile, cioè capace di minor dilatatione.
Aus diesem Versuche sind weitere Folgerungen
nicht gezogen worden und es sind deshalb auch keine
Thermometer, mit Quecksilber gefüllt, in allgemeinern
Gebrauch gekommen. Ein solches ist jedoch in die Hände
Boulliaîi's gelangt, vielleicht von ihm selbst verfertigt
und kurze Zeit beobachtet, dann aber als zu träge bei
Seite gelegt wrorden.
Abbé 31aze, der die Beobachtungen Ismail Boulliait's
aufgefunden und die Reise des Florentin erthermometers
von Florenz über Polen nach Paris bekannt gemacht
hat, berichtet folgendes 3) :
Sur le premier thermomètre à mercure. Dans
l'histoire du thermomètre, écrite par M. Renou avec un
soin et une érudition qu'on ne saurait contester, on lit:
„Fahrenheit est le premier qui ait construit un ther-
momètre à mercure, etc. La date si intéressante pour
lès météorologistes, du thermomètre à mercure, peut
donc être rapportée à 1721". Or dès la fin de Mars
1' Âggiunti ai Saggi 1841. p. LXXIV.
2) C. R. CXX. p. 732-733. (1895.)
— 33 —
1659, ou 62 ans avant l'invention de Fahrenheit, lsmaël
Boulliau employait un thermomètre à mercure con-
curremment avec son thermomètre de Florence. Ce
thermomètre avait une échelle arbitraire, mais il nous
a été possible de la déterminer en profitant de cette
circonstance que les observations ont été faites com-
parativement avec d'autres pour lesquelles le thermo-
mètre employé était celui de l'Académie del Cimento.
Ayant constaté que le degré 6 est celui qui revient le
plus souvent, nous en avons calculé la valeur par la
méthode des moindres carrés. Cette valeur est 6,66° C,
avec une erreur probable de 0,21 °. Malheureusement
les observations donnant les autres degrés sont trop
peu nombreuses pour qu'il y ait été possible de pro-
céder de même à leur égard. Cependant la comparaison
des moyennes nous a permis de fixer, avec une assez
grande probabilité, la valeur du degré inconnu à 10,07° C,
ce qui met le Zéro de cette échelle à — 53,76 ° C. La
température de la glace fondante serait de 5,34 ° C, et
celle de l'eau bouillante 15,27° C.
Il est probable que ce degré, qui en représente
plus de dix des nôtres, était indiqué par une distance
linéaire assez courte; ce qui explique comment le même
degré mercuriel peut avoir été noté comme équivalant
tantôt à un degré, tantôt à un autre du thermomètre
del Cimento. Cela nous fait aussi comprendre pour-
quoi, après six semaines, Boulliau cessa de consulter
régulièrement ce thermomètre paresseux et presque sans
variations. Il est possible aussi que le souvenir de
cet échec soit pour quelque chose dans la préférence
que, pendant longtemps, les savants français ont donné
à l'alcool comme liquide thermométrique.
Es ist nicht zu bestreiten, dass hier der Versuch
vorliegt, Quecksilber als thermometrische Substanz zu
3
— 34 —
verwenden, aber ein im Ganzen misslungener, indem
Boulliau weiter keinen Gebrauch von diesem Instru-
mente gemacht hat. Wahrscheinlich wurde eine Wein-
geistthermometerröhre mit Quecksilber gefüllt, das nun
bei dem 5 bis 6 mal kleinern Ausdehnungskoeffizienten
des Quecksilbers einen ebensoviel mal kleinern Aus-
schlag geben musste als das Weingeistthermometer.
Zur Unterstützung der Behauptung, dass Queck-
silber schon nach der Mitte des 17. Jahrhunderts an-
gewandt worden sei, wird etwa noch angeführt, dass im
Programm der Aufgaben der zu gründenden franzö-
sischen Akademie vorkomme: Observer les fenomenes
du Ciel et de la Terre par le moyen des Thermomètres
du vif argent etc.
Wir haben diese bemerkenswerte Stelle etwas ge-
nauer anzusehen : ')
Am 6. April 1663 schreibt Chr. Huygens an Lode-
wijk Huygens von Paris aus:
Monsieur de Montmor accompagné de l'Abbe Charles
et Monsieur Sorblere me vinrent visiter, qui m'ont prié
que je me trouvasse Mardy qui vient (le 10 Avril) à
l'assemblée pour entendre les nouvelles loix et ordon-
nances que l'on y va establir.
Hieran schliesst sich ein Schriftstück à Christiaan
Huygens (No. 1105) betitelt: Projet de la Compagnie
des Sciences et des Arts, in dem die Aufgaben der zu-
künftigen Gesellschaft aufgezählt werden, und unter
ihnen (p. 327) :
La Compagnie entretiendra commerce avec toutes
les autres Académies et avec tous les sçavants de tous
les Pays. Pour s'instruire réciproquement de ce qu'il y
a de particulier dans la Nature et dans les arts, et de
ce qui se fera de nouveau touchant les Livres et les
l) Huygens, Oeuvres compl. Bd. IV, p. 323. — 325- 327.
35
sciences, Et pour observer par ce moyen en tous les
Lieux, les Saisons les vents, le plus grand chaud, le
plus grand froid, la déclinaison de l'Aimant, les flux et
reflux des Mers, les Eclipses, les Comètes, les météores
et les autres fenomenes du Ciel et de la Terre par les
moyen des Thermomètres du vifargent, des pendules et
de tout les autres instruments nécessaires pour pouvoir
en suitte faire nue histoire de la Nature la plus uni-
verselle qui soit possible, sur la quelle comme sur de
solides fondemens on puisse travailler à bastir une
Physique etc.
Zieht man, was sprachlich unrichtig ist, Thermo-
mètres und du vif argent zusammen, so klingt die Stelle
wirklich so, als sollten Beobachtungen mit Quecksilber-
thermometern angestellt werden ; trennt man aber die
beiden, so muss jedem eine besondere Bedeutung zu-
kommen, und da bietet sich sogleich die Erklärung,
dass mit Vif argent die Quecksilbersäule des Torri-
ce//i'schen Versuches gemeint sein muss. Die Stelle
heisst also : „mittelst Thermometern, Quecksilbersäulen,
Pendeln und allen andern Instrumenten etc." Man
hatte eben für das Instrument des To)'ricelli' sehen Ver-
suches noch keinen besondern Namen; denn der nament-
lich in England gebräuchliche Name : Wetterglas, wurde
für das Thermometer gebraucht. Boy le braucht (1665)
in seinen Experiments touching Cold (z. B. p. 19. 23. 26)
den Ausdruck: Mercurial Cylinder in the Torricellian
Experiment.
Zum erstenmal begegne ich dort (p. 27) dem Namen
Barometer, wobei Boy le beifügt : if to avoid Circumlocu-
tions I may so call the whole Instrument, wherein a
Mercurial Cylinder of 29 or 30 Inches is kept sus-
pended after te manner of the Torricellian Experiment.
Zu bemerken ist übrigens, dass der Irrtum wohl
— 36 —
daraus entsprungen ist, weil Thermomètres und du vif
argent nicht durch ein Komma getrennt sind.
Es fällt also auch dieses Argument für eine frühe
Verwendung des Quecksilbers zu thermometrischen
Zwecken dahin.
Erst mit E. Halley beginnt die wissenschaftliche
Untersuchung des Quecksilbers in Beziehung auf dessen
Ausdehnung, bezw. Verwendung als thermometrische
Substanz.1) Seine Absicht war die Mittel zu suchen,
durch die man übereinstimmende Thermometer erstellen
könne, ohne Vergleichung mit einem Normalthermometer.
Zu diesem Behufe untersuchte er das Verhalten ver-
schiedener Flüssigkeiten bei Erwärmung und Abkühlung,
darunter auch das Quecksilber. Er fand, dass dieses
bis zum Siedepunkt des Wassers (wahrscheinlich vom
Eispunkte an gerechnet) sich um den 74. Teil ausdehne,
dass es auf gleicher Höhe bleibe, so lange das "Wasser
im Kochen erhalten wurde und dass es die Temperatur
der Umgebung rasch annehme und verliere. Diese Eigen-
schaft würde das Quecksilber als thermometrische Flüssig-
keit empfehlen, wenn nur seine Ausdehnung beträcht-
licher wäre. Allen barometrischen Beobachtungen, die
nicht mit thermometrischen zusammengehen, sprach er
nur einen bedingten Wert zu, weil die Quecksilbersäule
bei gleichem Luftdruck, aber verschiedener Temperatur,
bald grösser, bald kleiner sein müsse. Halley hat also
die auch von frühern Forschern geahnte oder ange-
nommene Konstanz des Siedepunktes des Wassers er-
kannt und Quecksilber bedingt als thermometrische Sub-
stanz empfohlen ; den Gefrierpunkt hielt er für einen
kaum genau zu bestimmenden (p. 656).
Das Quecksilber hat denn auch Anwendung ge-
') Phil. Transact. Xo. 1!)7 p. 650— 656. 1688.
— 37 —
fanden durch Christian Wolf1), der folgende Beschrei-
bung gibt :
Therm oscopima aliud construere.
Resolittio. 1) Assumatur globus vitreus Mercurio
plenus colloque longiore instructus et aqiue in olla
contentée totus immittatur. 2) Mox sub olla excitetur
flamma, cumque aqua ebullit, tubus prope gradum, ubi
tum hseret Mercurius, hermetice sigilletur.
Demonstratio. Mercurius enim refrigeratus denuo
descendit in globum, adeoque tubus vacuus relinquitur.
Iam si calor externi seris globum ambientis auge-
tur, Mercurius rarefit et in Collum ascendit et caloris
incrementum indicat. Est ergo thermoscopium.
Scholion I. Thermoscopium hoc vel hieme replen-
dum est, vel aliquid Mercurii in tubo relinquendum, an-
tequam immittatur, ne ullus occurrat frigoris gradus
non notandus.
Scholion III. Ceterum hoc thermoscopium iisdem
defectibus laborat, quibus Florentinum, minus tarnen
sensibiliter mutationes caloris in aëre indicat. Usus ejus
ex subsequentibus mox elucesset.
Diesem Versuche möchte ich doch keine zu grosse
Bedeutung beimessen; denn es scheint dass das Wolf sehe
Thermometer nicht wesentlich besser beschaffen ge-
wesen sei, als das, mit welchem Boullian während einiger
Wochen Beobachtungen angestellt hat; denn da Wolf
sagt „minus tarnen sensibiliter mutationes caloris in
aëre indicat", so hat er offenbar nicht ein Thermometer
gemacht, bei dem das Verhältnis der Röhre zur Kugel
ein passendes war; er hätte sonst beobachten müssen,
dass ein Quecksilberthermometer eher empfindlicher ist,
als ein Weingeistthermometer. Dass Wolf übrigens das
Quecksilberthermometer nicht zu allgemeinerer Ver-
i) Aërometriœ Elera. Lips. 1709. Prop. LXXIV Probl. XXXVI.
— 38 —
wendung gebracht hat, geht daraus hervor, dass er schon
in der Ausgabe seiner "Werke vom Jahre 1713, in der
Aërometrie, die einen Abschnitt der Elementa Mathe-
seos universse bildet, und in ihrem Caput VII die
Wärmemessung behandelt, von dem Quecksilber nicht
mehr spricht. Dem Florentinerthermometer spricht er
den Charakter eines Messinstrumentes ab „quonian'i
ratio caloris hodierni ad hesternum non indicatur, in-
strumentum calorem non metitur, adeoque Thermome-
trum non est."1)
Hiemit begegnen wir nun zeitlich demjenigen Phy-
siker, der sich um .die Herstellung und Verbreitung
guter, vergleichbarer, eine deutliche Sprache sprechender
Instrumente die grössten Verdienste erworben hat:
Daniel Gabriel Fahrenheit, der ohne allen Zweifel dem
Quecksilber in der Thermometrie eine Bedeutung ver-
schafft hat, die ihr keine spätere Zeit weder geraubt
hat, noch rauben wird. Von den verschiedenen Skalen
werden wir in einem folgenden Abschnitte zu reden
haben. Hier mögen nur diejenigen Notizen angeführt
werden, die uns über die Verwendung des Quecksilbers
Aufschluss erteilen.
Die relative Festigkeit des Wassersiedepunktes war
durch E. Halley festgestellt; mit einer Art von Luft-
thermometer wurde diese von Amontom ebenfalls ge-
funden,2) zugleich mit andern für die Physik der Luft
wichtigen Thatsachen. An Amontom schliesst nun
Fahrenheit an in einer Mitteilung, die er im Jahre
1724 in den Philosophical Transactions No. 381 I ver-
öffentlicht hat. Sie hat folgenden Wortlaut: 3)
!) Tom I. pag. 773.
2) Mém. d. l'Acad. IHM!) j>. 112; 1702 p. 167; 1703 p. 50.
3) Phil. Trans. 1724. No. 381. I.
— 39 —
Expérimenta circa graduai caloris liquorum non
nullorum ebullientium instituta A. Daniele Gabr. Fahren-
heit R. S. S.
Cum elapsis abhinc circiter decem annis in Histo-
ria Societatis Regiœ Parisiensis legissem, quod celeberri-
mus Amontonius, ope alicujus thermometri ab eo in-
venti, detexisset, a quam fixo caloris gracia ebullire:
statim magno accendebar desiderio, tbermometrum ejus-
modi mihimet ipsi prœparare, ut pulcbrum hocce naturse
phsenonienon mihi oculis perlustrare beeret, et de veri-
tate experimenti convictus essem.
Quapropter thermometri structuram quidem ten-
tabam, sed ob habitudinis sufhcientis in elaboratione
illius defectum, vana erant conamina, licet saepius iterata;
et quoniam etiam alia negotia prohibebant thermometri
elaborationi magis insistere, oportuniori repetitionem
illius dedicabam tempori. Cum defectu virium atque
temporis ardor non languescebat, œque avidus enim
experimenti exitum videndi manebam. In mentem autem
mihi veniebant ea, qua; solertissimus ille rerum natu-
ralium scrutator de rectificatione barometrorum scri]>
serat; observaverat enim altitudinem columnse mercuri-
alis in barometro a vario temperamento mercurii ali-
quantulum (satis sensibiliter tarnen) turbari. Ex his
rebar, quod tbermometrum fortasse e mercurio construi
possit, cujus structura non adeo difficilis foret, et cujus
tarnen ope experimentum maxime a me desideratum ex-
plorare liceret.
Prœparato ejusmodi thermometro (licet in multis
adliuc imperfecto) voto tarnen meo eventus respondebat ;
magna enim animi voluptate rei veritatem contem-
plabar.
Très jam erant anni elapsi, in quibus opticis aliis-
que incubuissem laboribus, cum cupidus fierem experi-
40
mentis explorare, an etiam alii liquores fixo ebullituri
essent gradu caloris. Exitus experimentorum sequenti
continetur tabula, cujus prima columna exhibet liquores
adhibitos; secunda illorum gravitatem spécificam; tertia
gradum caloris, ad quem unusquisque liquor ebulliendo
pertigit.
Gravitas speciüca liquorum Gradus ebullitione
ad 48 yr. calidorum acquisiti
Spiritus vel Alcobol vini . . 8260 1 76
Aqua plu via 10000 212
Spiritus nitri 12935 242
Lixivium cineris clavellati . . 15634 240
Oleum Vitrioli 18775 546
Gravitatem specineam cujuscunque liquoris adden-
dum necesse judicavi, ut si aliorum expérimenta jam in-
stituta, vel adhuc instituenda, a memoratis differrent,
colligi possit, an e variatione gravitatis specifica, vel ex
aliis differentia petenda sit causis. Expérimenta prae-
terea non eodem tempore sunt facta, et inde etiam
liquores vario teinperamenti vel caloris gradu erant
affecti, sed quoniam illorum gravitas diversimode et
inaequaliter turbatur, calculo illorum gravitatem ad 48
gradum (qui in tbermometris meis medium tenet locum
inter terminum intensissimi irigoris, arte commixtione
aqua-, glaciei, salisque Armoniaci, vel etiam maritimi,
confecti, et inter terminum caloris qui in sanguine ho-
minis sani reperitur) revocavi.
Aus der Darstellung Fahrenheits kann nicht mit
Bestimmtheit ein Jahr ermittelt werden, in dem er zu-
erst Quecksilber als thermometrische Substanz ange-
wendet hat; es herrscht auch bei den verschiedenen
Autoren hierin keine Übereinstimmung-, so verlegt Mus-
selten broeekr) dies in das Jahr 1709, was unmöglich
l) Musschenbroek. Introd. ad pb.il. nat IL § 1568.
— 41 —
ist, während andere in das Jahr 1714 und wieder andere
in das Jahr 1721. Diese Angaben erscheinen un-
richtig.
Vor 1714 kann es nicht geschehen sein, da er im
Jahre 1724 berichtet, es sei ihm vor 10 Jahren be-
kannt geworden, dass das Wasser bei einer bestimmten
Temperatur siede und dass er sich gerne von dieser
Thatsache selbst überzeugt hätte, dass ihm aber seine
Versuche misslungen seien, ohne Zweifel, weil er nur
Weingeistthermometer hiezu benützte. Später sei ihm
der Gedanke gekommen, wenn nach Amontons die Höhe
der Quecksilbersäule im Barometer einigermassen von
der Temperatur abhänge, so müsste auch aus Queck-
silber ein Thermometer konstruiert werden können.
Mit einem noch unvollkommenen Instrument dieser Art
hat er sich von der Richtigkeit der Thatsache (der
Konstanz des Siedepunktes) überzeugt. Nach weitern
drei Jahren beobachtete er die Beständigkeit der Siede-
punkte anderer Flüssigkeiten. Wir werden daher nicht
weit fehlen, wenn wir die Entstehung der guten und
vollkommenen Quecksilberthermometer in die Zeit um
1718 verlegen.
Im Jahre 1714 übergab Fahrenheit an Christian
Wolf1) in Halle zwei Thermometer, gefüllt mit blau
gefärbtem Weingeist. Die Röhre war in 26 gleiche
Teile geteilt, von denen jede wieder 4 Unterabteilungen
hatte. Von dieser Einteilung, über die in den Act.
Erudit. a° 1714 p. 380. 381 berichtet wird, soll später
noch gesprochen werden.
Die Fahrenheit'schen Thermometer, sowohl die mit
Weingeist als die mit Quecksilber gefüllten, die noch
dadurch vervollkommnet wurden, dass Fahrenheit die
Abhängigkeit des Siedepunktes vom Luftdruck entdeckte,
!) Act. Erud. Lips. 1714. p. 38ü ; V. Swinden p. 42.
— 42 —
wurden allgemein bewundert und allen andern Fabrikaten
vorgezogen.
So berichtet Désaguliers *) : Ces dernières années
on fait usage du vif argent dans les thermomètres et
l'on a trouvé qu'ils étaient plus utiles que tous les
autres .... On doit regarder Farenheit d'Amsterdam
comme l'inventeur de ce thermomètre et quoique Prins
et quelques autres en Angleterre, en Hollande, en France
et en d'autres pays ayent fait de pareils instruments,
comme Farenheit, nous les appellerons toujours Ther-
momètres de Farenheit, voyant que le Docteur Boer-
haave ne s'est servi que de ce thermomètre, et que la
plupart des thermomètres à vif argent ont été gradués
sur cette échelle.
Musschenbroek aber schreibt an dem angeführten Orte:
Cognitis bis vitiis, mercurius meliori ratione quam
vini Spiritus in usum vocatur, de quo substituendo pri-
mus auctor fuit Halteyus Anno 1680, verum Fahren-
heytius anno 1709 mercurialia thermometra fabrefacere
et divulgare coepit : et deinde poliendo ulterius per-
fecit. Mercurius punis, quantum hue usque a memo-
rato tempore observare lieuit, aeque dilatabilis, immu-
tatus et liquoris seterni in Belgio, Gallia, Anglia, licet
forte non in Russia perstitit, quod praeeipuum est.
Accedit, quod mercurius in pari volumine longe cele-
rius ab eodem calore afticiatur, quam spiritus vini
rectiticatus, aut Alcohol, aut quodeunque aliud cognitum
fluidum (aère excepto). Mercurius etiam omnium ci-
tissime refrigeratur.
Und an einer andren Stelle:2) Sunt hsec Thermos-
copia omnium hue usque cognitorum prœstantissimi,
*) Désaguliers. Cours d. phys. exp. Trad. p. Pezenas S. I.
Vol. II. Leç. X. 34. p. 328.
2) Teut. Ac. Cim, Addit. p. 13 (1731).
— 43 —
quse sequabilissime moventur, satis sensibilia sunt, atque
longe pluribus inserviunt experimentis, quam qme spiri-
tuin vini, serem aliudve fluicluni continent, aut etiam
magis composita sunt, veluti est Amontonsianum.
Boerhaave führt das Fahrenheit'sche Instrument
mit folgenden Worten ein : x)
Thermometrum hoc elegantissimum quod ex votis
meis perfecit ingeniosissimus in mechanicis artifex
Daniel Gabriel Fahrenheit.
Weiterhin :
Vos adite fontem, lseti discite et grati, quœ super
hac re ipse (Amontonius) commentatus est in monu-
mentis Regia? Scientiarum. Inde enim discetis, Egre-
gium hune virum re demonstrasse, quod Aqua Igné
calefaeta eo usque, ut vere ebulliat, dein auctiori Igné
apposito quoeunque nunquam adigi posse, ut plus ca-
lescat. Attamen .hoc nobile Inventum notabili sane ob-
servatione amplificandum est, quam subtiliter invenit
industrius Fahrenheitius. llle enim detexit, quod calor
aquae ejusdem ebullieniis semper major sit constanti
lege, quando ebullieniis aquae superficies premitur gra-
viori pondère Almosphaerae; rursumque idem calor
diminuatur ebullimti aquae, qaoties pondus atmos-
phaerae imminuitur. Igitur in gradu caloris aqiue fer-
ventis designando apprime necessarium est, ut adnote-
tur simul pondus aëris eo tempore in Barometro quum
aliter nihil certi scribatur etc.
Endlich : utamini tum, commendo, Ulis pulcherrimis
Thermometris Fahrenheitianis, quae de Mercurio conlîcit.
Als Nachteil des Weingeistes pflegte angeführt zu
werden, dass in den von Maupertuis 2) bei der arktischen
Gradmessung verwendeten Weineeistthermometern im
!) Boerkaave El. Chem. I 2. p. 170.
-) Maupertuis: La Figure de la Terre. Paris 173S- p. 58.
44 —
Januar 1737 die Flüssigkeit gefroren sei, als die Queck-
silberthermometer nach Réaumur auf 37° unter 0° ge-
sunken waren; die Skala entsprach nicht derjenigen, die
wir heute, wenn auch mit Unrecht, nach Réaumur be-
nennen. Die Entdeckung, dass das Quecksilber bei
tiefer Temperatur auch erstarre, verdankt man dem
Petersburger Akademiker J. A. Braun l), der in einem
Kältegemisch am 14. Dezember 1759 das Quecksilber
zum Gefrieren gebracht hat. An diesem Tage fiel eine
Kälte ein. wie sie mit Sicherheit nie in Petersburg be-
obachtet worden war; denn zwischen 9 — 10 Uhr vor-
mittags zeigte das Thermometer (De f hie) 205 Grade;
dies entspricht — 35,5° C. Die Temperaturen des
Kältegemisches sind in Zahlen ausgedrückt, die der
Wirklichkeit nicht entsprechen können (nämlich bis 470°
De l'Isle. was = — 213° C.) Dass vorher schon ver-
mutet wurde, in Sibirien seien auch Barometer und
Thermometer gefroren, erzählt Braun selbst.
Aus der vorausgehenden Darstellung geht hervor,
dass schon in der Jugendzeit der geschlossenen Ther-
mometer Versuche mit Quecksilber gemacht, dass diese
aber wegen des geringen Ausdehnungskoeffizienten oder
der damit verbundenen Unemplindlichkeit bald aufgegeben
worden sind. Erst Fahrenheit, der geübte Glastechniker,
und der genaue Beobachter physikalischer Vorgänge,
brachte es dahin, die Qualitäten des Quecksilbers zu
thermometrischen Zwecken zu verwenden und damit das
Instrument zu schaffen, dessen wir uns heute bedienen.
Die Herstellung der Skala wird Gegenstand des fol-
genden Abschnittes sein.
9) Fahrenheits Skalen.
Unter den heute im allgemeinen Gebrauch stehen-
den Thermoineterskalen nimmt die von Fahrenheit in
]j Nov. com Petrop. Vol. XI. p. 273.
— 45
sofern eine abweichende Stellung ein; als der Ausgangs-
punkt der Skala nicht der Schmelzpunkt des Eises ist,
sondern namhaft unter ihm sich befindet und zwar so,
dass er um 32 von den Graden unter dem Schmelzpunkt
liegt, die man erhält, wenn man den Fundamentalabstand
zwischen Schmelzpunkt und Siedepunkt bei 760 Milli-
meter Luftdruck in 180 gleiche Teile teilt. Dass Fahren-
heit selbst seine Skala anders abgeleitet hat, werden
wir im folgenden mitzuteilen haben. Für alle diejenigen,
die gewohnt sind, sich der 80 oder lOOteiligen Skala
zu bedienen, hat die Fahrenheit' sehe Skala etwas be-
fremdendes, fast sonderbares. Wie ist Fahrenheit zu
dieser Skale gekommen?
Die seltsamste Antwort auf diese Frage hat in
neuerer Zeit ein Engländer Samuel Wilks gegeben, der
in British Médical Journal 1900, 20. October, No. 2077
pag. 1212 folgendes schreibt:
My best endeavours made for man y years have altoge-
ther failed in obtaining an authentic aecount or reason as
to the principle on which Fahrenheit construeted bis
well-known scale, which is now universally used in Eng-
land. No mention of its meaning is to be found in any
work on natural philosophy or chemistry with which
I am acquainted, and I have not yet met with a pro-
fessor (and I have interrogated some of the most distin-
guished) who could give nie any information about it.
Most of them admitted that they were quite ignorant
of its origin, an two surmised that the number 180,
marking the degree between freezing and boiling had
something to do with the half circle. My friend. Mr.
Stromeyer, an engineer, told me some time ago that he
believed the scale was made from the température of the
blood, an probably this information was gained from the
Encyclopaedia Britanica, to which I shall presently refer.
— 46 —
Sir Isaak Newtons Scale. I should bave taken no
further trouble in the matter had uot my interest in it
been again revived by reading a paper in the Philoso-
phical Transactions for the year 1701, in which it is
proposed to make a thermometer founded on the tem-
pérature of the human body. The paper is anonymous,
but I believe it is the opinion of Lord Kelvin that it
was written by no less a man than Sir Isaak Newton.
The paper in the Philosophical Transactions sup-
posed to be written by Newton is to be found in Vol.
XXII pag. 824. April 1701.
Hier folgt nun die Beschreibung des Newton'schen
Leinölthermometers und dessen Skale, die auf zwei festen
Punkten beruht, nämlich der Temperatur des schmel-
zenden Schnees 0° und der Blutwärme des Menschen
12°; durch Auftragen weiterer Skalenteile gelangt man
bei 34° zum Siedepunkt des Wassers. Von einer Be-
rücksichtigung des Luftdrucks ist nicht die Rede. Näheres
über diese Skale folgt weiter unten.
Nun fährt Samuel Wilks fort:
A few years after the publication ot this paper
Fahrenheit made bis thermometer, and followed Newton
by making the température of the body bis first resting
place, counting upwards and downwards from this fixed
point. Whether he knew of Newton's essay I am not
aware, but in all probability he did. He found he could
get a greater cold than that of freezing water by mixing
together ice and sait. This point, he made bis zéro.
He thought also that it would be better if he enlarged
the scale by doubling the numbers, and making that of
the body 24 instead of 12, starting of course from bis
own zéro. This made the freezing point 8 and the
boiling point 53, which, as his predecessor has said, was
about three times that of the human body. His scale
— 47 —
then stood thus: Zéro that of ice and sait mixed, 8° for
freezing, 24° for human body, and 53° for boiling. He
then further extendet the scale by dividing each degree
into four parts, so if it is multiplied by four we bave
the scale now in use, 32° for freezing, 96° for the body,
and 212° for boiling. In this way the thermometer
seems to hâve been evolved. Subsequently thèse degrees
were still found to be too large for accurate measure-
ment, and so were divided into ten parts each. This
is a modem innovation, for the décimal System did not
come into vogue for many years after Fahrenheits time.
This information is gained from Encyclopaedia
Britanica, and I apprehend that the writer of the ar-
ticle must bave obtained it from authentic sources — from
the writings of Fahrenheit himself or from some of its
contemporaines. This thermometer, ivhich I always re-
gardée as an abomination, is now looked upon by me
with a great and two-fold interest.
Im Anschluss führt er noch eine andere Erklärung
an, die er aber verwirft. Er bemerkt weiter:
I cannot but hope that it is correct, for I must
admit that to a certain extent „my wish is father to the
thought." For the future, whenever I see a thermometer
in use to mark the température of the body, I shal be
reminded, that it was first used for this purpose in order
to mark the starting point of the scale from which all
other températures were to be reckoned. At the same
time there will be the pleasing remembrance that it was
our great Newton who, in all probability, suggested the
température of the body as the starting or determinate
point in the thermometer, and marking it by the round
number 12.
WUWs Kombination lässt sich in folgender Weise
zusammenfassen :
— 48 —
Weil der eine Punkt der Fahren he W 'sehen Skale
derselbe ist, den Neuion auch angewendet hat, nämlich
die Blutwärme eines gesunden Menschen, weil ferner
Neaion diesen Punkt vom Gefrierpunkt an gerechnet
mit 12 bezeichnet, Fahrenheit aber von einem
viel tiefern Punkte ausgehend diesen Punkt mit 24 be-
zeichnet, so ist offenbar Fahrenheit von Newton abhängig
und die sonst abscheuliche Skale der in England und
Amerika gebräuchlichen Thermometer wird zu einem
Gegenstände der Bewunderung.
Eine kühle, nicht national gefärbte Betrachtung des
Bestandes der Dinge führt zu anderm Schlüsse.
Nrwion erwähnt zum ersten Male Temperaturen
ganz allgemein in seinem grossen Werke, den Prinzipien,
und zwar in der Ausgabe von 1687 p. 498. 499.
Ideoque cum distantia Cometee a sole Dec. 8. ubi
in Perihelio versabatur, esset ad distantiam Terrœ a
Sole ut 6 ad 1000 circiter, calor Solis apud Cometam
eo tempore erat ad calorem Solis œstivi apud nos ut
1000000 ad 36 seu 28000 ad 1. Sed calor aquœ ebul-
lientis est quasi triplo major quam calor quem terra
arrida coneipit ad œstivum Solem; ut expertus sam:
et calor ferri candentis (si recte conjeetor) quasi triplo
vel quadruplo major quam calor aqiue ebullientis; adeo-
que calor quem terra arida apud Cometam in perihelio
versantem ex radiis Solaribus coneipere posset, quasi
2000 viribus major quam calor ferri candentis. Tanto
autem calore vapores et exhalationes, omnisque materia
volatilis statim consumi ac dissipari debuissent.
Wenn Newton sagt: ut expertus sum, so müssen
diese Angaben auf bestimmten Beobachtungen beruhen ;
der Ausgangspunkt kann kein anderer sein, als der Ge-
frierpunkt oder der Schmelzpunkt und die Beobachtungen
können nicht mit einem Weingeistthermometer angestellt
— 49 —
sein, sondern es bedurfte dazu wahrscheinlich schon des
Leinölthermometers und des glühenden Eisens, von denen
er in dem berühmten anonymen Aufsatze in den Philo-
sophical Transactions 1701. 270 spricht. Als fest sieht
Newton nach obiger Notiz an den Gefrierpunkt, die
höchste Sommerwärme und den Siedepunkt des Wassers.
Letzteres mit einer gewissen Einschränkung. Die Festig-
keit dieser drei Punkte hat aber nicht Neilion zuerst
oder allein erkannt, vielmehr wissen wir, dass diese
Kenntnis bis in die Zeit der Akademiker del Cimento
und Hiiygens zurückreicht und also nicht ein besonderes
Verdienst Newtons involviert. Und was die Blutwärme
des gesunden Menschen anbelangt, so wurde diese später
von Newton an die Stelle der höchsten Sommerwärme ge-
setzt, wie denn auch der frühere Akademiker A. Borelli
die Übereinstimmung dieser beiden Temperaturen bei
einem grössern Säugetier durch direkten Versuch er-
mittelt hat. Er teilt mit1):
Ut exacte gradum caloris cordis agnoscerem, Pisis
vivi cervi pectus aperiri curavi, et subito jussi thermo-
metrum per cicatricem intra cordis sinistrum ventricu-
lum insinuari: et vidi maximum gradum caliditatis non
excessisse gradus 40. quantus esse solet apud nos gradus
caliditatis solis œstivi. Et postquam similibus thermo-
metris mensuravi gradum caloris jecoris, pulmonum et
intestinarum in eodem cervo vivo, patuit eodem gradu
caloris foveri cor, ac viscera reliqua.
Newton hat keinen neuen festen Punkt aufgefunden,
der zur Einteilung der Thermometerskale geeignet ge-
wesen wäre, aber eine Flüssigkeit angewendet, die zu
der von ihm beabsichtigten Untersuchung recht dienlich,
zu allgemeinerem Gebrauche nie gekommen ist und hat
]) Borelli. De motu animalium. 1685. II. Cap. VIII prop. XCVI
pg. 187. 138.
4
50 —
durch eine höchst sinnreiche Verknüpfung mit einem sich
abkühlenden Körper Temperaturen bestimmen können,
die vor ihm unnahbar waren.
Und dass der Engländer zur Einteilung eines ge-
wissen Abstandes sich der Zahl 12 bediente, ist selbst-
verständlich.
Es ist niemals bezweifelt worden, dass der anonyme
Aufsatz in den Philo sophical Transactions l) von Newton
stamme. In den vergleichenden Übersichten der Thermo-
meter des 18. Jahrhunderts erscheint das Leinölinstru-
ment nie anders als mit den Namen Newtons und in
die Sammlung Newton'scher kleiner Schriften von Joh.
Gastilioneus 1744. op. XXI. p. 422 ist die anonyme
Arbeit aufgenommen. Die Autorität von Lord Kelcin
trägt zu dieser Kunde nichts bei.
Aus diesem Aufsatz erfahren wir, dass Newton den
Siedepunkt des Wassers nicht als einen ganz festen an-
gesehen hat; denn in der Scala graduum caloris führt
er bei 34° an:
Calor cpio aqua vehementer ebullit et mistura dua-
rum partium plumbi, trium partium stanni et quinque
partium bismuti defervendo rigescit. Incipit aqua ebul-
lire calore partium 33 et calorem partium 3472 ebul-
liendo vix concipit. Ferrum vero defervescens calore
partium 35 vel 36 ubi aqua calida & 37, ubi frigida in
ipsum guttatim incidit, desinit ebullitionem excitare.
Und weiterhin :
Primum igitur per Thermometrum ex oleo lini con-
structum inveni, quod si oleum ubi Thermometer in nive
liquescente locabatur occupabat spatium partium 10000,
idem oleum calore primi gradus seu corporis humani rare-
factum occupabat spatium 10256 et calore aquse jamjam
ebullire incipientis spatium 10705 et calore aqiue vehe-
*J Phil. Trans. 1701. Nr. 270.
— 51 —
monter ebullientis spatium 10725, et calore stanni liqué-
facti defervientis ubi incipit rigescere et consïstentiam
amalgamatis induere spatium 11516 et ubi omnino ri-
gescit spatium 11496. Igitur oleum rarefactum fuit ad
dilatatum in ratione 40 ad 39 per calorem corporis hu-
mani, in ratione 15 ad 14 per calorem stanni de-
fervientis ubi incipit coagulari et rigescere, et in ratione
23 ad 20 per calorem quo stannum deferviens omnino
rigescit. Rarefactio seris œquali calore fuit decuplo major
quam rarefactio olei, et rarefactio olei quasi quindecim
vicibus major quam rarefactio Spiritus vini. Et ex Lis
inventis ponendo calores olei ipsius rarefactioni propor-
tionales et pro calore corporis humani scribendo partes
12 prodiit calor aqiue ubi incipit ebullire partium 33 et
ubi vehementius ebullit partium 34; et calor stanni ubi
vel liquescit vel deferviendo incipit rigescere et consi-
stentiam amalgamatis induere prodiit partium 72, et ubi
defervendo rigescit et induratur partium 70.
So lange der Siedepunkt des Wassers durch Ein-
tauchen des Thermometers in die kochende Flüssigkeit
und ohne Berücksichtigung des Luftdruckes bestimmt
wurde, konnte wohl eine gewisse Unsicherheit konsta-
tiert werden; daher spricht diese eher für Genauigkeit
der Beobachtung als für das Gegenteil; doch hätte auch
die Körperwärme in gleicher Weise ein unsicheres Re-
sultat ausweisen sollen, da auch sie zwischen gewissen
Grenzen schwankt.
Um zu untersuchen, ob und in wie weit Fahrenheits
Skale von der Skale Newtons abhängig sei, müssen wir
die erstere möglichst weit zurückverfolgen.
Der am 24. Mai 1686 in Danzig geborene Daniel
Gabriel Fahrenheit war genötigt nach dem 1701 erfolgten
Tode seines Vaters in Amsterdam von 1702 an die
Handlung zu erlernen; dort hat er nach dem Berichte
— 52 —
eines Zeitgenossen die vier stipulierten Jahre „ausge-
standen." Sein Trieb zu den Studien war mächtiger als
der äussere Zwang. „Zu dem Ende that er viele be-
schwerliche Reisen zu Wasser und zu Lande, konferierte
mit den berühmtesten Mathematikern in Dänemark und
Schweden, verschickte seine Instrumente nach Ysland,
Capland und nach anderen Orten, von wannen ihm die
von curieusen Leuten gemachten Observationes nach
Amsterdam überschickt wurden; wie denn notorisch, dass
er bereits anno 1709 in dem harten Winter sehr merk-
würdige Remarques vermittelst seiner Wettergläser ge-
macht hat."
Welcher Art sind nun diese Thermometer ge-
wesen?
Von den Instrumenten, die in die früheste Arbeits-
zeit des jungen Fahrenheit zurückführen, wird behauptet,
dass sie mit den spätem in befriedigender Übereinstim-
mung gewesen seien. Die Skale aber, mit der sie ver-
sehen waren, hatte, entsprechend der Skale der ver-
käuflichen Florentinerthermometer, in der Mitte ein 0°,
Tempéré, und zählte sowohl nach der grössten Sonnen-
hitze, als nach der tiefsten Winterkälte je 90°, also:
- 90° tiefste Winterkälte,
0° Tempéré,
-j- 90° grösste Sonnenhitze.
(Siehe pag. 31.)
Während aber die Florentinerthermometer eine un-
sichere, nicht von Instrument zu Instrument überein-
stimmende Einteilung hatten, wird gerade diese Eigen-
schaft den Fahrenheit1 'sehen Instrumenten nachgerühmt.
Obgleich nun der Fabrikant sein Hilfsmittel geheim ge-
halten hat, müssen wir doch annehmen, dass seine Aus-
gangspunkte weniger schwankend waren als der Name,
mit dem sie bezeichnet wurden, vermuten Hesse; d. h.
— 53 —
er hat wahrscheinlich diese Punkte bestimmt durch
Schnee mit Salz und Körpertemperatur, wobei wohl als
Kontrollpunkt die längst als fest bekannte Temperatur
des schmelzenden Schnees verwendet wurde. Ohne eine
solche Annahme ist die grosse Übereinstimmung dieser
und der folgenden Fabrikate Fahrenheits nicht zu er-
klären.
In der Absicht, dieser Skale die negativen Grade
zu nehmen, hat der Danziger Michael Christian Hanow
in seiner Skale den tiefsten Punkt ( — 90 F) mit 0° be-
zeichnet, Tempéré mit 45° und den höchsten Punkt mit
90°, mit welcher Skale in Danzig 1739 — 1752 Beobach-
tungen angestellt worden sind1); da aber anno 1740 die
tiefste Temperatur um 10° tiefer lag als 0°, hat Hanow
die Skale um 10° gestreckt und nun 100° vom tiefsten
zum höchsten Punkte erhalten-, Tempéré fiel dann
auf 55°.
Durch seine Beziehungen und Besprechungen mit
den auswärtigen Gelehrten kam Fahrenheit dazu eine
andere Skale nicht sowohl zu erfinden, als zu adoptieren,
und zwar hat ohne Zweifel der Verkehr mit Olaf Rœmer,
dem berühmten Berechner der Lichtgeschwindigkeit und
Erfinder der hauptsächlichsten Instrumente unserer astro-
nomischen Observatorien, auf den jungen Fahrenheit den
grössten Einfluss ausgeübt. Wann die Änderung voll-
zogen worden ist, kann nicht mit Bestimmtheit angegeben
werden, weil Fahrenheit selbst über diesen Punkt, wie
über andere noch wichtigere in seinen ausführlichen Be-
schreibungen seiner Methode, schweigt. AVir finden aber
andere Zeuguisse:
Hermann Boerhaave (Elem. Chem. I. 2, p. 720)
spricht sich folgendermassen aus:
1) V. Swinden. p. 65. 66 und Hanow. Seltenk. der Natur
II. 269.
— 54 —
Incipit deinde actio Aquœ, proprie sic dicta?, in sol-
vendo propria vis tum demum, quando illa fluida adliuc
est in gradu proximo glaciei jamjam futurœ. Adeoque
secundum demonstrata superiora in calore graduum tri-
ginta duorum Thermometri Fahrenheitiani. In quo qui-
dem gradu incipit in a3re conglaciatio pruinosa. Atqui
sub hoc initio frigoris glacialis, anno nono hujus seculi,
dicitur insignis matbematicus Rœmerus Gedani obser-
vasse frigus hybernum usque ad gradum primum ejus-
dem Tbermoscopii, cujus ipse inventor primus fuerat.
Unde triginta duos gradus ibi tum increverat infra gla-
cialem gradum frigus.
Bœrhaave (Elem. Cbem. Ed. Basil. 1745. p. 164)
hielt die Temperatur des Nullpunktes für den tiefsten,
den die Natur hervorbringen könne, während auf künst-
liche Weise tiefere Temperaturen erzeugt werden können.
Natura nunquam generaverat Frigus nisi ad 0, tuni-
que animalia et vegetantia, ilico moriebantur omnia, hoc
correpta frigore. Ars deduxit ad 40 gradus ultra Frigus.
Verum ubi gradui 32, qui est congelationis, addentur 40
gradus, calor oritur in œre adeo fortis, ut eum diu con-
stanter talem homines difficile ferant, nisi refrigerii causas
vicesque interposuerint. Discimus hinc quis crederet?
Frigus conglaciandœ jamjam aqua? ultra hanc suam pote-
statem crescens visum fuisse ad 72 gradus ultra. Quid
fieret in natura rerum, si talis ibi unquam gigneretur
temperies ?
Es ist nicht wohl einzusehen, warum der Fahrcn-
heit'sche Nullpunkt von einem so erfahrenen Beobachter
wie Bœrhaave hat können als eine Minimaltemperatur
der Natur angesehen werden, wenn man bedenkt, dass
nach jetzigen Beobachtungen auch in unsern Gegenden
Temperaturen unter dem Fahrenheit' sehen Nullpunkt
( — 17,8 C) nicht ganz selten vorkommen, so in Basel
55
1830—27,0; 1845—23,3; 1879—24,0; 1893 — 23.2
u. s. w. (nach freundlicher Mitteilung von Herrn Prof.
A. Riggenbach).
Van Sirinden hat Grund anzunehmen, Rœmer habe
im Jahre 1709 nicht in Danzig beobachten können;
Bœrhaave führt diese Thatsache mit dicitur ein; den
andern Punkt aber „Thermoscopii, cujus ipse inventor
primus fuerat" berührt dies nicht. Ja das letztere wird doch
von einem unverdächtigen Zeugen, nämlich dem Danziger
M. Chr. Hanow des bestimmtesten bestätigt, wenn er
ausspricht1): Nach den wichtigsten Wettergläsern, welche
Herr Rœmer in Danzig angegeben hat und Herr Fahren-
heit am besten verfertigt, kochet das Wasser im 212.
und friert im 32. Grade.
Hier wird genau auseinandergehalten was liœmers
ist und was Fahrenheits: Ersterer hat die Skale ange-
geben, Fahrenheit hat die exakten Thermometer er-
stellt.
Hanow berichtet aus dem Jahre 17402), schon 20
Jahre vor 1709 habe ein Danziger, Namens Krikart,
ein Wetterglas, jedenfalls nach der gewöhnlichen Floren-
tinerart eingerichtet, besessen und beobachtet. Dieses
soll Fahrenheit zu Anfang des Frostes im Jahr 1708
mit frischem Weingeist gefüllt und nach der Angabe
liœmers gefüllt haben.
Über Fahrenheits Thermometer erfahren wir näheres
aus der Relatio de Novo Barometrorum concordantium
genere in den Act. Erud. a° 1714 p. 380. 381; der
Name des Verfassers ist nicht genannt; wahrscheinlich
ist der Aufsatz von Chr. Wolf in Halle geschrieben:
!) Merkwürdig, d. Natur. 1737.
-) Nach Momber Alb. Prof. Daniel Gabr. Fahrenheit. Alt-
preuss. Monatschr. Bd. XXIV. 1887. Heft 1. 2. p. 145.
— 56 —
Qiue adeo hactenus desiderata fuerunt, barometra
et thermometra concordantia exquisita industria construit
Daniel Gabriel Fahrenheit, Dantiscanus, qui ab aliquo
tempore apud nos commoratur et in conficiendis therrao-
metris atque barometris tarn simplicibus quam compo-
sitis excellit. Artificium, quo liorum instrumentorum
concordiam constanter ex voto obtinet, ob ratioms do-
mesticas reticet; effectum tarnen observarunt multi, qui
ejus thermometra et barometra sibi compararunt. Ob-
tulit haud ita pridem duo thermometra Cl. Wolfio, Ma-
tern. Professori Halensi, ut ea sub examen revocaret.
In iis globulorum loco conspiciuntur cylindri, spiritu vini
colore cœruleo tincto repleti.
Scala utrique eadem applicata. longitudinis 6 digi-
torum cum y^ : tota dividitur in lu partes œquales, qua-
rum unaqiuelibet in quatuor subdividatur. Parti secundœ
a cylindro nuineratœ adscribitur frigus vehementissimum,
et ab eo usque ad extremitatem scake ascendendo nu-
merat gradus 24, quorum quartus frigus ingens, octavus
»rem frigidum, duodecimus temperatum, decimus sextus
calidum, vigesimus calorem ingentem, 24 denique sestum
intolerabilem indicat.
Contendit autem Fahrenheitius, sibi constare metho-
dum, qua (piivis alius ubivis terrarum thermometra con-
struere possit, suis etsi non visis similia, ita ut cum
iisdem in eodem loco reposita ad eosdein scalorum si-
milium gradus liquorum evectum, vel depressum exhi-
beant. Wolßus non solum per pluiïmos dies observavit
in utroque thermometro liquorem constanter ad eundem
gradum vel gradus ejusdem scapulum idem; verum etiam
in locis calidioribus mox liquorem in utroque œqualiter
prorsus ascendentem notavit.
Wenn wir nun die Ansicht zu begründen versucht
haben, dass die sog. Fahrenheit1 sehe Skale von Rœmer
— 57
zuerst angegeben worden sei, obgleich Fahrenheit selbst
bei deren Erstellung und Einteilung den Namen Rœmers
nicht nennt, so bleiben ihm noch der Verdienste genug :
Von der Verwendung des Quecksilbers ist schon die
Rede gewesen; den Einfluss des Luftdrucks auf die
Höhe des Siedepunkts richtig erkannt zu haben, die Er-
findung eines hierauf gegründeten Hypsometers und die
Beobachtung der Abkühlung des AVassers unter dem
Schmelzpunkt des Eises sind Thatsachen genug, um die
hohe Bedeutung und die Genauigkeit dieses Physikers
in vollem Masse zu dokumentieren.
Die Beschreibung der eigenen Thermometer gab
Fahrenheit, lange nachdem diese Instrumente schon all-
gemeine Anerkennung gefunden hatten, in den Phil.
Transact. vom Jahre 1724 Nr. 382 zu einer Zeit, da
ISeicton noch lebte und da dieser wohl hätte müssen ge-
nannt werden, wenn Fahrenheit dessen Skale einfach in
seine eigene verwandelt hätte, was nach dem voraus-
gehenden mehr als unwahrscheinlich ist. Seine eigenen
Thermometer beschreibt Fahrenheit in folgender Weise :
Duo potissimum gênera thermometrorum a me con-
ficiuntur, quorum unum spiritu vini et alterum argento
vivo est repletum: Longitudo eorum varia est, pro usu,
cui inservire debent: Omnia autem in eo conveniunt,
quod in omnibus scalœ gradibus concordent, interque
limites fixos variationes suas absolvant.
Thermometrorum scala, qua? meteorologicis obser-
vationibus solummodo inserviunt, infra a Zéro incipit et
96t0 gradu finitur. Hujus scalœ divisio tribus nititur
terminis fixis, qui arte sequenti modo parari possunt;
primus illorum in intima parte vel initio scalse reperitur
et coramixtione glaciei, aqiue, et salis Armoniaci vel
etiam maritimi acquiritur ; huic mixturœ si thermometron
imponitur, fluidum ejus usque ad gradum, qui Zéro no-
— 58 —
tatur, descendit. Melius autem hyeme, quam sestate lioc
experimentum succedit. Secundus terminus obtinetur,
si aqua et glacies absque memoratis salibus commis-
centur, imposito thermometro huic mixturae, fluidum ejus
tricesimum secundum occupât gradum, et terminus initii
congelationis a me vocatur; aqua3 enim stagnantes tenuis-
sime jam glacie obducuntur, quando hyeme liquor thermo-
metri bunce gradum attingit. Terminus tertius in non-
agesimo sexto gradu reperitur; et spiritus usque ad hune
gradum dilatatur, dum tbermometrum in ore vel sub ax-
illis bominis in statu sano viventis tarn diu tenetur donec
perfectissime colorem corporis œquisivit. Si vero calor
bominis febri vel alio morbo fervente laborantis investi-
gandus est, alio tbermometro utendum, cujus scala us-
que ad 128 vel 132 gradum prolongata est. An autem
bi gradus ferventissimo caloiï alicujus febris sufficiant
nondum expertus sura, vix tarnen credendum, quod cu-
jusdam febris fervor gradus memoratos excedere debeat.
Tbermometrorum scala, quorum ope ebullientium
liquorum gradus caloris investigatur, etiam a Zéro inci-
pit et 600 continet gradus, boc enim gradu Mercurius
ipse (quo thermometron repletum est) incipit ebullire.
Ut autem quoque thermometra ab omnibus muta-
tionibus caloris celeriter afficiantur, loco globulorum cy-
lindris vitreis sunt prœdita, eo enim modo ob majoris
superficiei quantitatem citius a variatione caloris iDene-
trantur.
Man kann die Frage aufwerfen, warum wohl Fahren-
heit, der schon vor seiner Bekanntschaft mit Rœmer vor-
treffliche Thermometer konstruiert hatte, sich durch diesen
bestimmen liess, von seiner Skale abzugeben und eine
Einteilung anzunehmen, welche Wilks „regardée! as an
abomination", bis dieser eine Beziehung zu Newton bat
herausklüeeln können.
— 59 —
Man war am Anfang des Jahrhunderts gewohnt,
vom Tempéré auszugehen und nach oben und unten die
Grade zu zählen, eine Gewohnheit, die bis in die jüngste
Zeit fortgedauert hat und vielleicht noch nicht ver-
schwunden ist. Sofern es sich nur um die täglichen
Beobachtungen im gewöhnlichen bürgerlichen Gebrauch
handelte, war diese Zählung auch ganz normal. Mit
der Verbreitung und namentlich mit der Verbesserung
der Instrumente kamen diese auch zu wissenschaftlicher
Verwendung, namentlich zu meteorologischen Zwecken.
Sobald aber einmal Tabellen von Beobachtungen zu-
sammengestellt wurden, war die fast gleich grosse Zahl
der positiven und der negativen Grade kein Vorteil
mehr, sondern ein Hindernis, vielleicht auch eine Quelle
mancher Versehen. Am einfachsten wurde das Hinder-
nis beseitigt dadurch, dass man den Ausgangspunkt der
Zählung möglichst tief wählte. Hiefür aber bot sich
dar die schon verwendete Temperatur der Mischung
von Schnee und Salz, die man als tiefste Temperatur
in der Natur ansah. Mit einem Male verringerte sich die
Anzahl der negativen Grade ungemein. Das haben
Rœmer und Fahrenheit eingesehen und darnach haben
sie gehandelt; das aber ist der grosse Vorzug der
englisch-amerikanischen Skala und um dieses Vorzugs
willen verdient sie heute wie zu allen Zeiten dankbares
Interesse.
ßesaguliers, der selbst unter der Leitung von Newton
Leinölthermometer konstruiert hat und der also mit ihrem
Wert und ihrer Beschaffenheit genau vertraut sein
musste, sagt, ohne irgend welche Beziehung zwischen
der Skale von Newton und der von Fahrenheit anzu-
geben, die oben zitierten Worte : Ces dernières années on
fait usage du vif argent dans les thermomètres et l'on a
trouvé qu'ils étaient plus utiles, que tous les autres . . .
— 60 —
Die allgemeine Anerkennung der Fahrenheit* sehen
Thermometer haben wir oben (p. 42 ff.) mit einigen Aus-
sagen Sachkundiger belegt. Auch die Übereinstimmung
früher erstellter Instrumente mit solchen aus späterer
Zeit wird durch Zeugnisse belegt, doch nicht ausnahmslos.
So sagt C. Kirch in seinen Annotationes in Thermo-
metra r), nachdem er sein in 24 — 26° geteiltes Thermo-
metra beschrieben hat, das vor 20 Jahren ab aecura-
tissimo Fahrenheitio confectum est:
Observavi ante aliquot annos, meum Thermometrum
cum alio Fahrenheitiano non penitus congruere, quare ab
ipso Cl. Dil. Fahrenheit novum et aecuratum Thermo-
metrum expetii, ut meum et aliorum Thermometra juxta
illud examinare possem. Inveni illud Thermometrum
cum alio Fahrenheitiano bene congruere, a meo vero
notabiliter differre.
Augustinus Grischow2) war in Berlin seit 1725 mit
meteorologischen Beobachtungen beauftragt; er ver-
schaffte sich teils auf eigene Kosten, teils aus den
Mitteln der königl. Akademie vorzügliche Thermometer
verschiedener Art, brachte sie an einen günstigen Ort
nach Norden in freie Luft und verglich sie sorgfältig.
Er berichtet nun (1740), dass ein vor 30 Jahren für
die Akademie von Fahrenheit selbst verfertigtes grosses
Thermometer mit einem von demselben Fahrenheit vor
wenig Jahren erstellten, von Amsterdam bezogenen, genau
übereinstimme. Diese und andere Erfahrungen be-
weisen, dass Fahrenheit von Anfang an mit einer grossen
Genauigkeit gearbeitet hat und dass die 3 Skalen, die
ursprüngliche von — 90 bis -j- 90, die kleine von 0 bis
24 und die durch Vierteilung erhaltene grosse von 0 bis
96 in Übereinstimmung geblieben sind.
i) Miscell. berol. 1737. V. 129.
-) Miscell. berol. 1710. VI. 267—312.
— 61 —
Van Swinden1), der auf die Vergleiclmng der ver-
schiedenen Skalen die grösste Sorgfalt verwendet hat,
glaubt nach seinen Erfahrungen und Beobachtungen zu
dem Urteil berechtigt zu sein:
Si maintenant l'on considère, que le premier Thermo-
mètre de Fahrenheit a été trouvé concordant avec le
second et le second avec le troisième ; qu'ils ont tous
été trouvés concordans entr'eux; que par conséquent le
premier et le second ont été construits, l'un et l'autre,
d'après des points fixes; que le troisième est en effet le
même thermomètre que le second; que Fahrenheit as-
suroit avoir une méthode secrette pour les construire,
et cela sans Etalon, car il n'étoit pas nécessaire de voir
un Thermomètre déjà construit, pour en graduer d'autres;
qu'il a publié en 1723 ou 1724 la manière dont il con-
struisoit le troisième Thermomètre, et enfin que les deux
points extrêmes de tous ces Thermomètres sont en effet
les mêmes quoiqu'ils ayent porté differens noms, il en
résultera je crois nécessairement que Fahrenheit a tou-
jours employé les mêmes points fixes dans la construction
de ses Thermomètres.
Newtons grosses Verdienst um die Wärmemessung
liegt keineswegs in der Wahl der festen Punkte; denn der
eine, die Temperatur des Blutes eines gesunden Mannes,
hat nur zweifelhaften AVert, und auch nicht in der Wahl der
Zahl 12, die er für die Anzahl der Grade zwischen
Eispunkt und Blutwärnie wählte, sondern in dem Ver-
suche die Temperaturen zu bestimmen, die mit keinem
Weingeistthermometer hatten können bestimmt werden,
weil sie über dem Siedepunkt des Weingeistes liegen,
also in der Wahl des Leinöles mit seinem hohen Siede-
punkt. Und zweitens in der Verknüpfung der Resultate,
die mit dem Leinölthermometer gewonnen wurden, mit
l) Diss. s. la comp. d. Therm. § 44.
— 62 —
den Resultaten, die mit einer regelmässig nach einem
bestimmten Gesetze sich abkühlenden, glühend gemachten
Eisenstange sich ergaben. So hat er unter anderm ge-
funden,
(141° C) dass bei 4S° N () ein Gemisch gleicher
Teile Wismut und
Zinn schmilzt,
(168° C) „ bei 57° N () ein Gemisch von 2
Teilen Zinn und 2
Teilen Blei,
(238° C) „ bei 81" N () Wismut,
(282° C) „ bei 96° N ( ) Blei,
(332° C) „ bei 114° N () im Dunkel beginnende
Rotglut u. s. w.
Fahrenheits Verdienst um die Wärmemessung be-
steht ebenfalls nicht in der Wahl gewisser fester Punkte
und gewiss nicht in der Zahl 24 ; es liegt an ganz anderm
Orte. Er hat Thermometer zu gewöhnlichem Gebrauche
mit grosser Sorgfalt hergestellt und eine grosse Über-
einstimmung vieler Instrumente erreicht; er hat das
Quecksilber in zweckmässiger Weise angewendet, die
Abhängigkeit des Siedepunktes vom Luftdruck erkannt
und berücksichtigt und hat auf den Rat eines ausge-
zeichnet erfahrenen Mannes, Olaf Rœmer, eine Skale
gewählt, die vor allen frühern und den meisten spätem
den Vorzug hat, dass die Anzahl der negativen Zahlen
besonders bei meteorologischen Beobachtungen ungemein
verringert ist. Eine gerechte und begründete Bewunde-
rung der Fahrenheit* sehen Arbeit stützt sich auf diese
Thatsachen und nicht auf die imaginäre Verwandtschaft
mit Newton.
10) Celsius-Christiii-Liuiié- Stromer.
Im Jahre 1844 hat Arago der Pariserakademie nach
einein Briefe des Herrn Requien in Avignon aus einem
— 63 —
Manuskripte Linné's, das Herrn D' Hombres-Firmas an-
gehört hat, folgenden Passus mitgeteilt:
Ego primus fui qui parare constitui therniometra
nostra, ubi punctum congelationis 0 et gradus coquentis
aqua? 100; et hoc pro hybernaculis horti; si Ins adsuetus
esses, certus sum quod ariderent.
Der Brief ist ohne Zeitangabe.
Renou (p. 37) zieht hieraus den Schluss: Mais il
est hors de doute que le thermomètre centigrade est dû
à Linné d'après une lettre de cet homme illustre citée
par Arago t. V. p. 608. Ce fait m'a été confirmé par
Mr. Hildbrandsson d'Upsal, qui ma dit que les droits
de Linné à cette découverte sont authentiques.
Auch die Encyclopredia Britannica stellt auf: Linnœus
introduced the mode of reckoning from 0° in smelting
ice to 100° in boiling water, which is now known as the
centigrade. In wiefern man hier von einer découverte
reden kann, ist nicht einzusehen. Es ist mir nicht be-
kannt, dass diese Angabe in der Folge bestätigt oder
berichtigt worden wäre, und doch ist sie besonderer Be-
achtung wert.
Zwei Forscher, die weit weg von einander wohnten
und ohne Zweifel von einander absolut unabhängig
arbeiteten, beschäftigten sich gleichzeitig mit der Her-
stellung und der Einteilung des Quecksilberthermometers ;
beide teilten den Fimdamentalabstand des Schmelzpunktes
und des Siedepunktes in 100 gleiche Teile, der eine be-
ginnend mit dem Schmelzpunkt 0U und aufsteigend zum
Siedepunkt 100", der andere beginnend mit dem Siede-
punkt 0Ü und absteigend zum Schmelzpunkt 100°; der
eine arbeitete in Lyon: Jean- Pierre Christin, ein Arzt,
der andere in Upsala: Andreas Celsius, der Astronom.
Über den ersten erhält man sicherste Kunde durch
einen Aufsatz von /. Fournet, Professeur à la faculté
— 64 —
des sciences à Lyon: Sur l'Invention du Thermomètre
centigrade à Mercure, faite à Lyon par M. Christin.
Notice lue à la Société d'agriculture de Lyon dans la
séance du 4 Juillet 1845.
Der andere aber hat seine Methode in einem Auf-
satze dargelegt, dessen deutsche Übersetzung heisst:
Beobachtungen von zween beständigen Graden auf einem
Thermometer, von Andreas Celsius in : der königl. Schwe-
dischen Akademie der Wissenschaften Abhandlungen
aus der Naturlehre etc. auf das Jahr 1742, übersetzt
von Abraham Gotihelf Kästner, Vierter Band, Hamburg
1750. p. 197—205.
Der Inhalt dieser beiden Abhandlungen ist kurz zu-
sammengefasst folgender:
Überzeugt von der Unzuverlässigkeit und der Unge-
nauigkeit der im südlichen Frankreich verbreiteten Thermo-
meter bemühte sich Christin bessere Instrumente zu er-
stellen ; unter den möglichen Flüssigkeiten hielt er für die ge-
eignetste das Quecksilber; er zog dieses dem Weingeist vor,
weil dieser den Nachteil hat bei niedrigen und höhern Tempe-
raturen sich ungleichmässig auszudehnen. Am 4. September
1740 zeigte er der Akademie in Lyon an, er habe ein
sicheres und einfaches Mittel gefunden zur Herstellung
guter Thermometer und er halte dafür, es müsse jeden-
falls die Zahl 80 für die Skale beibehalten werden, wie
bei der Einteilung des Kreises die Zahl 360. Man er-
kennt daraus, was für eine ungemessene Verehrung die
Arbeit Réaumur's genoss, der bei seiner Einteilung den
Siedepunkt des Weingeistes mit dem des Wassers ver-
wechselt hatte. Indessen hielt Christin an der Zahl 80
doch auf die Dauer nicht fest, sondern teilte im Juli
1743 in französischen Zeitungen sein hundertteiliges
Quecksilberthermometer mit unter dem Namen: Thermo-
mètre de Lyon, selon la mesure de la dilatation du mercure.
65 —
Die beiden festen Punkte wurden bestimmt durch
Eintauchen in siedendes Wasser und in gestossenes Eis.
Dass bei der Bestimmung des Siedepunktes der Baro-
meterstand berücksichtigt worden wäre, finde ich nirgends
angegeben. Der Abstand der beiden festen Punkte wurde
in 100 gleiche Teile geteilt.
An Neidern fehlte es Christin nicht, auch nicht an
Verteidigern. Verbreitet wurde das Lyonerthermometer
hauptsächlich in Paris, in der Provence und im Dauphiné,
während Lyon selbst es weniger freundlich soll aufge-
nommen haben. „Il en coûte à reconnaître le talent
de ses concitoyens."
„Si l'académie de Florence jouit de la gloire d'avoir
inventé le premier thermomètre, aujourd'hui le plus défec-
tueux de tous, combien est-il plus flatteur pour l'aca-
démie des beaux arts de Lyon de voir sortir de son
sein et de donner en quelque sorte la vie au plus par-
fait des thermomètres."
Mit diesem Thermometer ist die hundertteilige Skale
zuerst in Frankreich in Gebrauch gekommen. Bei der
Aufstellung des metrischen Systems mussten verschiedene
Temperaturen berücksichtigt werden; hiebei trat die
Centesimaleinteilung in den Vordergrund, so z. B. bei:
Vérification du mètre qui doit servir d'étalon provisoire 1).
Hier wird angegeben: La commission des poids et me-
sures a pensé qu'il convenoit de prendre pour point fixe
la température à dix degrés du thermomètre centigrade
und als Note wird beigefügt: Nous appelons thermomètre
centigrade celui dans lequel l'intervalle, entre le terme
de la glace et de l'eau bouillante est divisé en 100
parties égales ou degrés. Dans le thermomètre de
Réaumur cet intervalle est divisé en 80 degrés. Hier
l) Ann. d. chim. XX. 257.
66
wie weiterhin wird die De Lac'sche Skale fälschlicher-
weise als Réaumur 'sehe bezeichnet.
Auch Celsius knüpft an bei der Mangelhaftigkeit
der aus Deutschland nach Schweden kommenden Floren-
tinerthermometer. Auch er fand als zweckmässigste
Methode die Einteilung, die sich auf zwei feste Punkte
stützt, nämlich auf die Temperatur des schmelzenden
Schnees und des gefrierenden Wassers, wobei er be-
merkt, dass man nicht nach der Art von Réaumur die
Temperatur des gefrierenden Wassers, sondern die des
schmelzenden Schnees wählen und den Siedepunkt nicht
durch Eintauchen des Thermometers in siedendes Wasser,
sondern durch Einführen in den ausströmenden Dampf
bestimmen müsse. Hiebei sei aber nach den Ermitt-
lungen des erfahrenen Mechanikers in Amsterdam,
Fahrenheit, zu berücksichtigen, dass der Siedepunkt vom
Barometerstande abhängig sei, weshalb er selbst als nor-
malen Druck den mittleren Barometerstand von 25 Zoll,
3 Linien (schwedisch) annehme (1742). Versuche mit
schmelzendem Schnee hätten ihm die Beständigkeit der
Temperatur zu verschiedenen Zeiten und an weit aus-
einanderliegenden Orten gezeigt. Und zur Ermittlung
der wahren Siedetemperatur bediente er sich einer Thee-
kanne, aus deren Schnauze ein kräftiger Dampfstrom
blies. Auch beobachtete er, dass bei jähem Heraus-
nehmen aus dem Dampfe das Quecksilber anfänglich stieg.
Auf diese Untersuchungen hat Celsius mehrere Jahre
verwendet. Waren nun an einem Thermometer die
beiden Punkte bestimmt, so teilte er den Abstand in
hundert gleiche Teile ein so zwar, dass der Siedepunkt
mit 0°, der Gefrierpunkt mit 100° bezeichnet und die
Skale nach unten nach Bedarf verlängert wurde.
Mit diesem Thermometer sind in Upsala während
mehrerer Jahre Beobachtungen gemacht worden, die im
— 67
Auszug in den Abhandlungen der schwedischen Aka-
demie mitgeteilt sind und zwar erfahren wir je die
höchsten und niedrigsten Temperaturen der einzelnen
Monate 1742 bis 1750. Im 15. Bande der Abhand-
lungen (1750) steht unter der Beobachtungsreihe:
Zu merken: Des sei. Professors Celsius Thermo-
meter ist dergestalt eingerichtet, dass 0 beim Punkte
des siedenden Wassers und 100 beim Punkt des Ge-
frierens steht; aber an Herrn Prof. Strömers Thermo-
meter steht 0 beim Gefrierpunkt und 100 beim kochenden
Wasser. Man würde die einen Grade auf die Grade des an-
dern gebracht haben, wenn diese Unähnlichkeit nicht diente,
des sei. Observators (O. P. Hiorter) Beobachtungen von
Herrn Prof. Strömers seinen zu unterscheiden.
Das Thermometer von Celsius scheint lange Zeit
nicht weithin bekannt geworden zu sein; sagt doch P.
Cotte in seinem 1774 erschienenen Traité de Météoro-
logie III. p. 136:
Monsieur Celsius, Professeur d'Astronomie à Upsal
et l'un des Savans qui firent le Voyage au Pôle, pour
déterminer la Figure de la Terre, a communiqué aux
Physiciens de Suède un thermomètre de son invention,
dont f ignore la construction.
Und im eigenen Vaterlande kann den Bestrebungen
zur Verbesserung des Thermometers auch keine grosse
Bedeutung zugeschrieben worden sein; denn in dem
Nekrolog (Denkmaal) des Herrn Prof. A. Celsius im 8.
Bande der Abhandlungen (p. 143 ff.) wird wohl seiner
mathematischen Begabung, seiner astronomischen, magne-
tischen, geodätischen, optischen Arbeiten gedacht, wäh-
rend die thermometrischen Arbeiten mit keinem Worte
erwähnt werden.
Wo bleibt nun noch Platz für Linné? Verdankt
man ihm die ganze Arbeit des Celsius, der seine Unter-
— 68 —
suchungen mit so grosser Klarheit darlegt in einem
Bande der akademischen Schriften Schwedens, in dem
nicht weniger als fünf botanische Mitteilungen von Linné
stehen.
Liest man die Aussage Limits aufmerksam, so er-
kennt man, dass er nicht die centésimale Einteilung für
sich in Anspruch nimmt, wie Renou und mit ihm die
Encyclopœdia Britannica ableiten, sondern nur die Be-
zeichnung des Gefrierpunktes mit 0° und des Siede-
punktes mit 100°, ohne Zweifel mit Beziehung auf die
entgegengesetzte Ordnung von Celsius. Damit aber tritt
Linné nicht in Konkurrenz mit Celsius, sondern mit
Strömer, von dem wir nichts anderes wissen, als dass
an dem Thermometer, mit dem er beobachtete, eben-
falls der Gefrierpunkt mit 0° und der Siedepunkt mit
100° bezeichnet gewesen sei, ohne dass er diese Um-
kehrung für sich in Anspruch nimmt. Es kann also immer-
hin Linné diese Umkehrung zuerst vorgenommen haben.
Dies zu ermitteln habe ich mich in LzVme'schen Arbeiten
umgesehen und dabei folgenden Beleg dafür gefunden,
dass Linné vor dem Zeitpunkt, den Strömer angibt, sich
schon der umgekehrten, jetzt üblichen Skale bedient hat.
Caroli Linnœi Hortus Upsaliensis Vol. I. 1748 ent-
hält die Aufzählung und die Beschreibung der exotischen
Pflanzen, die von 1742 bis 1748 in dem botanischen
Garten von Upsala eingeführt worden sind. In dem Ab-
schnitt Horticultura Topographica finden sich folgende
Angaben :
Tempérât» planta? et gelu intensiore et calore hy-
bernaculi, supra gradum decimum caloris in domo ad-
scendente per hyemem lseduntur. Oalida*, Capenses seu
Aethiopicœ, non ferunt hyemes notrates sub dio, nee in
hybernaculo calido ultra 12 gradus servanda1, florent
hveme lubentissime.
— 69 —
In der am Ende des Buches stehenden Praefatio:
Calor summus 1747. 2 VII hora 3*/4 post merid. gr.
30 supra punctum congelationis.
Frigus summum 1740 25 I noct. gr. 28 infra punc-
tum congelationis, ubi punctum congelationis 0, calor
aqua? coquentis 100.
Diese präzise und deutliche Angabe Limits lässt
keinen Zweifel darüber, dass er vor Strömer die Um-
kehrung der Skale vorgenommen hat.
Wir werden also nicht weit von der Wahrheit uns
entfernen, wenn wir Celsius die sorgfältige Bestimmung
der festen Punkte und die centésimale Einteilung ihres
Abstandes, Linné die Umkehrung der Skale auf den
Thermometern für die Gewächshäuser, und Strömer die
Anwendung dieser letztern Skale zu meteorologischen
Beobachtungen zuschreiben. Man wird deshalb dieses
Thermometer mit Recht Schwedisches Thermometer
nennen, welchen Namen auch Van Swinden gebraucht1).
1) Suède. Lyon, nicht wie Carr. Bolton in seiner Vergleichs-
tabelle (Table of Thermometer Scales) angibt: Sue de Lyon, nach-
dem er einige Kolumnen früher schon Celsius, Christin und Strömer
aufgeführt hat.
Über die Einwirkung anorganischer und organischer
alkalischer Substanzen auf das Oxydationsvermögen
von Metallsalzen.
Von
Ed. Schaer.
(Pharmaceut. Institut der Universität Strassburg.)
Vor einiger Zeit habe ich, im engen Anschlüsse an
Schönbein' 'sehe Beobachtungen, an anderer Stelle l) Un-
tersuchungen .,über die aktivierenden "Wirkungen von
reduzierenden Substanzen und colloïdalen Edelmetallen,
sowie von Alkaloiden und andern basischen Stoffen auf
verschiedene oxydierende Verbindungen" veröffentlicht.
Dabei wurde auch gewisser „aktivierender" Einflüsse
gedacht, welche alkalisch reagierende Körper, nament-
lich Pflanzenbasen auf das Oxydationsvermögen ver-
schiedener Metallsalze ausüben und welche zuerst (1874)
von F. Schlag denhauff m (Nancy) bei Mischungen von
Ferrisalzen mit Pyrogallol, sowie von Quecksilberchlorid
mit Guajakharzlösung beobachtet worden sind.2)
Diese Versuche des letztgenannten Autors sind in
den letzten Jahren von mir durch eine Reihe weiterer
Beobachtungen ergänzt worden, die zum kleinern Teile in
der zu Anfang erwähnten Abhandlung Berücksichtigung
gefunden haben. In der Zwischenzeit sind mir durch
1) Liebig's Ann. der Chemie, 323 (1902) S. 32.
2) Union pharmaceutique XV (1874) p. 3 u. 37.
71
neue Versuche noch weitere Erscheinungen dieser Art
bekannt geworden und es ist daher vielleicht zweck-
mässig, in den folgenden Mitteilungen eine wenn auch
zunächst nur vorläufige Darlegung jener sonderbaren
Wirkungen alkalischer Stoffe zu geben, welche nicht
allein theoretisches Interesse beanspruchen dürfen, son-
dern möglicherweise auch bei verschiedenen empirisch
ausgebildeten chemischen Prozessen der Technik eine
Rolle spielen.
Es möge an dieser Stelle noch die Bemerkung
vorausgeschickt werden, dass eine gelegentliche ein-
gehendere Studie über die erwähnten chemischen Wir-
kungen in meinem Laboratorium beabsichtigt ist, über
deren Ergebnisse später an diesem oder anderem Orte
zu berichten sein wird.
Während es sich bei den oben angeführten ersten
Beobachtungen Schlagdenhauffens lediglich um einige
die Oxydationsvorgänge beschleunigende oder einleitende
Wirkungen von basischen Stoffen (Alkaloiden und ge-
wissen alkalischen anorganischen Substanzen) handelte,
welche bei Ferrichlorid, in Gegenwart von Pyrogallol,
oder bei Quecksilberchlorid, in Gegenwart von Guajak-
harzlösung, zu konstatieren waren, hat sich infolge der
neuen Versuche der Kreis der besagten Erscheinungen
auch auf anderweitige analoge Reaktionen ausgedehnt,
das heisst es lassen sich solche aktivierende Wirkungen
auch bei Kupferoxydsalzen und Silbersalzen (vermutlich
noch bei andern oxydierenden Metallsalzen) beobachten;
dieselben beschränken sich ferner nicht auf Pflanzen-
basen und alkalische anorganische Stoffe, sondern scheinen
mit einer gewissen Beschränkung auch basischen organi-
schen Substanzen, wie Anilin, Chinolin, Antipyrin,
Thaliin, Acetanilid u. s. w. zuzukommen und endlich
lassen sich dieselben nicht nur bei einigen wenigen oxy-
— 72 —
dablen Materien, wie Guajakharz (resp. Guajakonsäure)
und Pyrogallol nachweisen ; sie treten vielmehr in man-
chen Fällen auch dann auf, wenn zum Beispiel Indigo,
Aloin (resp. Isobarhaloin), Natalaloin, Anilin, Guajakol,
Phenylendiamin, Brasilin und wohl noch andere organi-
sche Stoffe zur Erkennung der Oxydationsreaktion ver-
wendet werden.
Nach dem eben gesagten ist vielleicht der Schluss
gerechtfertigt, dass es sich um chemische Vorgänge
von allgemeiner Bedeutung handelt, welche im Zusammen-
hange beobachtet und besprochen zu werden verdienen.
Was zunächst die schon mehrfach erwähnten Ver-
suche von Schlag denhau ff en betrifft, die sich auf Mi-
schungen von Pyrogallol mit Ferrichlorid, Mercurichlorid
und Kujrferchlorid, sowie auf Gemenge von Guajakharz-
lösung und Mercurichlorid beziehen, so ergeben die-
selben auf das deutlichste die „aktivierenden" Wirkungen
der alkalischen anorganischen Stoffe, sowie einer Anzahl
von Pflanzenbasen. Die bei weiterer Verfolgung jener
Beobachtungen über das Verhalten von Ferrisalzen zu
oxydablen Substanzen (in Gegenwart alkalischer Stoffe)
vorgenommenen Versuche sind noch nicht hinreichend
abgeschlossen, um hier mitgeteilt zu werden, und ich
gehe deshalb sogleich zur Besprechung der aktivierenden
Wirkungen bei Kupfer-, Quecksilber- (Mercuri-) und
Silbersalzen über und zwar soll zunächst von den Oxy-
dationswirkungen der Kupfersalze auf Guajakharz die
Rede sein. Wie ich in verschiedenen früheren Publi-
kationen, auf die hier nicht von neuem einzugehen ist,
gezeigt habe, vermögen die Lösungen anorganischer und
organischer Cuprisalze innerhalb gewisser Konzentra-
tionsgrenzen und namentlich bei erhöhter Temperatur
die Guajakharzlösung direkt ohne Mitwirkung anderer
Substanzen zu bläuen und es sind deshalb alle ein-
— 73 —
sclilägigen Versuche über Wirkung dritter Stoffe mit
stark verdünnten Kupfersalzlösungen vorzunehmen, von
denen festzustellen ist, dass sie innerhalb gewisser Tem-
peraturgrenzen die Guajakharzlösung („Guajaktinktur"
Schönbeins) unter allen Umständen intakt lassen. Im
weiteren ist es empfehlenswert, an Stelle des bisherigen,
nicht allein von Schöllbein, sondern auch von allen
neueren Autoren benützten Verfahrens der Anwendung
der Guajakharzlösung in alkoholischer oder alkoholisch-
wässriger Mischung die von E. Paelzold (Inaug.-Diss.
Strassburg 1901) vorgeschlagene Methode der Verwen-
dung einer 1 — -2prozentigen Chloroformlösung des Harzes
(oder noch besser einer 1/i — lprozentigen Lösung reiner
Guajakon säure in Chloroform) einzuführen, wobei sich
das in Chloroform leicht lösliche Guajakblau, falls ge-
bildet, rasch und scharf aus den wässrigen Reaktions-
gemischen abscheidet.
Bringt man zu einer nicht gebläuten Mischung der
eben genannten Guajaklösung mit stark verdünnter
Kupfersalzlösung (zum Beispiel Kupfersulfat, -Acetat
oder -Formiat) kleine Mengen von Alkaloiden, so wird
in den meisten Fällen, so namentlich bei Atropin, Co-
niin, Veratrin, Morphin, Codein, aber auch bei den
übrigen wichtigen Pflanzenbasen, schon in der Kälte oder
nach kurzer leichterer Erwärmung die Bildung von
Guajakblau bewirkt, das heisst es scheidet sich nach
kurzem Schütteln die Chloroformlösung mit mehr oder
weniger tiefblauer Färbung ab, während bei Zusatz von
Coffein, das noch eine gewisse Basizität aufweist, aber
nicht mehr zu den eigentlichen Pflanzenalkaloiden ge-
rechnet wird, keine Veränderung eintritt, ebensowenig
bei Anwendung von Glycosiden (Amygdalin, Phloridzin,
Salicin etc.) oder anderen indifferenten Stoffen (San-
tonin, Cumarin, Picrotoxin etc.).
— 74 —
Man möchte auf den ersten Augenblick geneigt
sein, die bei Gegenwart von Alkaloiden durch Kupfer-
salze (sowie durch die später zu nennenden Quecksilber-
und Silbersalze) bewirkten Oxydationserscheinungen da-
rauf zurückzuführen, dass durch die Ptlanzenbasen in
ähnlicher Weise wie durch alkalische anorganische Stoffe
aus den Metallsalzen freies Metalloxyd respektive Oxyd-
hydrat abgeschieden wird und letzterem die energischen
Oxydationswirkungen zukommen, wie ja in der That ver-
schiedene Oxyde und Superoxyde von Schwermetallen,
unter andern Silberoxyd und Quecksilberoxyd, die Guajak-
lösung energisch zu bläuen vermögen, während andrer-
seits zum Beispiel Eisenoxyd und Kupferoxyd nebst
ihren Hydraten unter gewöhnlichen Umständen ohne
Wirkung auf besagtes Reagens sind. Für die letztge-
nannten Metalloxyde respektive deren Salze würde somit
jene Erklärung nicht stichhaltig sein, wohl aber könnte
sie für die Silbersalze und Mercurisalze in Frage kommen,
da in der Litteratur vielfach die Angabe verbreitet ist,
dass im allgemeinen die Ptlanzenbasen von deutlich al-
kalischer Reaktion die Salze der Erden und Schwer-
metalle unter Abscheidung ihrer Oxyde zu zerlegen ver-
mögen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass dieser Satz
nur in ganz bedingtem Masse richtig ist. Allerdings
zerlegen einige Alkaloide, wie beispielsweise das Coniin
unter andern die Kupfer- und Silbersalze, andere wie
zum Beispiel das Atropin die Mercurisalze ; in vielen
andern Fällen aber ist eine Abscheidung von Metall-
oxyd entweder nur bei Anwendung der freien iUkaloide
in Substanz oder in konzentrierterer Lösung (Morphin)
oder bei höherer Temperatur (Strychnin) zu konstatieren,
oder sie bezieht sich nur auf einzelne Metallsalze und
ist namentlich bei Verwendung so verdünnter Alkaloid-
und Metallsalzlösungen, wie solche zu meinen Versuchen
— 75 -
gedient haben, nicht oder nur ganz ausnahmsweise zu
beobachten. Es wird unter diesen Umständen auch der
Vergleich mit den oxydierenden Wirkungen konzentrier-
terer alkalischer Metallsalzlösungen, wie etwa der al-
kalischen Kupfertartratlösung oder der alkalischen Wis-
muttartratlösung (auf Traubenzucker etc.) hinfällig und
wir sind gezwungen, für die Mehrzahl der Fälle eigen-
tümliche Kontaktwirkungen anzunehmen, welche bei den
Metallsalzen mit direkt oxydierend wirkenden Oxyden
(wie zum Beispiel den Mercurisalzen oder Silbersalzen)
etwa auch als „ Wirkungen prädisponierender Verwandt-
schaft" (zwischen Alkaloid und Säure des betreffenden
Metallsalzes) aufgefasst werden könnten. In vielen Fällen
und bei gewissen Konzentrationsverhältnissen der Re-
aktionsmischungen gilt das oben gesagte auch für die
Wirkung der noch zu erwähnenden weiteren anorgani-
schen und organischen alkalischen Substanzen.
In gleicher Weise, wie die Pflanzenbasen, zum Teil
noch in intensiverer Weise vermögen auch anorganische
alkalische Stoffe die Bläuung der Guajakharzlösung
durch stark verdünnte Kupfersalzlösungen zu bewirken.
Es gilt dies sowohl von stark verdünnter Kalkhydrat-
lösung1) (Kalkwasser), oder Barythydratlösung, als auch
von den schwach alkalisch reagierenden Carbonaten wie
Calciumcarbonat, sowie von einer Anzahl alkalisch rea-
gierender Salze, wie namentlich Natriumacetat und Na-
triumphosphat, aber auch von Natriumsalicylat und
Natron seifen, selbst wenn letztere frei von Atznatron
oder Xatriumcarbonat sind, endlich auch von verdünntem
*) Bei der bekannten grossen Empfindlichkeit des (ruajak-
blaus für Alkalien eignen sich die Lösungen der gewöhnlichen Atz-
alkalien zu diesen Versuchen nicht oder wenigstens nur bei An-
wendung der (Tuajak-Chloroformlösung und hei Einhaltung starker
Yerdiinnunsf.
— 76 —
Ammoniak.1) Ebenso tritt eine Bläuung der Guajakharz-
lösung ein, wenn verdünnte Kupfersalzlösungen unter
Zusatz kleiner Mengen des allerdings stark alkalisch
reagierenden Anilins oder Chinolins auf erstere ein-
wirken, während dagegen die Gegenwart der vom Anilin
deri vierenden Verbindungen Acetanilid und Phenacetin
sowie des Antipyrins (Phenyldimethylpyrazolons) und
Thallins die Kupfersalze nicht zu aktivieren vermag.
Nachdem seinerzeit Schlag denhauff en (1. s. c.) die
tiefe Bräunung einer gelblich gefärbten kupfersalzhaltigen
Pyrogalloilösmig durch verschiedene Pflanzenbasen be-
obachtet hatte, konnte ich in Bestätigung seiner Ver-
suche konstatieren, dass eine energische Oxydation des
Pyrogallols durch Kupfersalz bei Gegenwart der Mehr-
zahl der Alkaloide sowie verschiedener oben erwähnter
alkalischer anorganischer Stoffe eintritt, während Glyco-
side und andere neutrale Substanzen keine aktivierende
Wirkung äussern. Es werden diese Versuche später
weiter fortgesetzt und ergänzt werden.
Ebenso auffällig ist die aktivierende "Wirkung von
Pflanzenbasen, insbesondere von stark basischen Al-
kaloiden wie zum Beispiel des Atropins bei Zusatz zu
hellgelb gefärbten kupfersalzhaltigen Lösungen des Aloim.2)
J) Die aktivierenden "Wirkungen selbst sehr kleiner Ammoniak-
mengen auf Kupfersalze (gegenüber Guajaklösung) habe ich bereits
vor vielen Jahren (Zeitschr. f. analyt. Chemie v. Fresenius, 1874, I)
experimentell nachgewiesen.
-) Wie an diesem Orte (Bd. XIII., 299 ) in dem Aufsatze über
Guajakblau und Aloinrot bereits angegeben worden ist, entsteht
das von Kluntje zuerst beobachtete violettrote Oxydationsprodukt
nach Léger lediglich aus dem im käuflichen Barbadoes-Aloin mit-
enthaltsnen „Isobarbaloin." Es möge deshalb hier die Notiz beige-
fügt werden, dass nach meinen neuesten Beobachtungen ein mit
dem früher beschriebenen Aloinrot identisches oder jedenfalls nahe
verwandtes Produkt bei verschiedenen durch Kupfersalze oder an-
— Vi —
Es tritt unter diesen Umständen jene Oxydation des
Aloins, unter Bildung des „Aloinrots" das heisst eines
Oxydationsproduktes mit locker gebundenem Sauerstoff,
ein, welche schon vor Jahren bei den sogenannten
K l un f/e' sehen Aloereaktionen (Einwirkung von Kupfer-
salz auf Aloelösung bei Zusatz von Cyaniden oder von
Haloidsalzen) beobachtet und unlängst von mir in einer
ausführlichen Studie weiter verfolgt worden ist.1)
Wenn eine hellgelbe Aloinlösung (in Methylalkohol
oder verdünntem Äthylalkohol) mit sehr wenig Kupfer-
salz versetzt wird, so wird dieselbe canariengelb und
nimmt sodann nach Zufügen einer kleinern Menge alko-
holischer Atropinlösung oder Coniinlösung beim Stehen,
langsam in der Kälte, bedeutend rascher nach Erwär-
mung der Reaktionsmischung, allmählich die intensiv
himbeer-purpurrote Farbe an, welche den Aloinrot-
lösungen zukommt. Wird an Stelle der genannten Al-
kaloide eine Anilinlösung verwendet, so färbt sich die
Flüssigkeit nach dem Erwärmen nicht purpurrot, son-
dern mehr gelbrot. Das Verhalten anderer schon oben
erwähnter alkalischer Substanzen wird durch spätere
Versuche festzustellen sein. Dagegen hat sich ergeben,
das die Alkaloide auch noch anderweitige energische
Oxydationswirkungen der Kupferoxydsalze auszulösen
vermögen; so bewirken beispielsweise die genannten
Pflanzenbasen und zweifellos auch noch andere Alkaloide
die Entfärbung von Indigolösung durch Kupfersalz (in
der Wärme) und ebenso eine intensive Rötung der
kupfersalzhaltigen Paraphenylendiamin-Lösung, während
dere Substanzen bewirkten Oxydationen auch aus dem „Natalaloinu
(Aloin der Natal-Aloë) gebildet wird, obwohl dieses Aloin bis in
die letzte Zeit als von den übrigen Aloinen nicht unerheblich ab-
weichend betrachtet wurde.
!) Vergl. Archiv der Pharmacie 2:18 (1900) S. 42 u. 279.
— 78 —
andrerseits die Alkaloide die verdünnten Kupfersalz-
lösungen gegenüber Jodkaliumstärkelösung, Guajakol und
Anilin nicht zu „aktivieren" scheinen.
Ebenso auffallend, wie bei den Kupferlösungen, sind
die Wirkungen alkalisch reagierender Stoffe bei Mer-
curisalzen, von welchen allerdings bis jetzt nur das Mer-
curichlorid näher untersucht worden ist.
Nicht allein konnte in Übereinstimmung mit den
frühern Versuchen von Schlag denhau ff en die intensive
Bläuung eines Gemenges von Mercurichloridlösung
und Guajakharzlösung durch die Mehrzahl der
Pflanzenbasen — sowie das Ausbleiben des „akti-
vierenden" Einflusses bei Coffein, sowie bei den
Glykosiden u. s. w. (siehe oben) — bestätigt werden,
sondern es zeigte sich, dass eine grössere Zahl zum
Teil schon von dem genannten Autor angeführter al-
kalischer anorganischer Substanzen (vor allem die bei
den Kupfersalzen bereits erwähnten unlöslichen Hydrate
und Carbonate der Erden und alkalischen Erden, sowie
manche alkalisch reagierende Salze) in gleicher Weise
die mit Mercurisalz versetzte Guajaklösung energisch zu
bläuen vermögen. Es geschieht dies bei allen genannten
Stoffen selbst dann, wenn eine Abscheidung von Queck-
silberoxyd, wie sie zum Beispiel bei Einwirkung von
Atropin oder von Magnesiumoxyd zu beobachten ist,
nicht konstatiert werden kann.
Organische alkalische Stoffe, so Acetanilid, Anti-
pyrin, Phenacetin verhalten sich ebenso indifferent wie
bei Kupfersalzlösung, wogegen Thaliin, Anilin und
Chinolin auch hier eine Bläuung der B,eaktionsmischung
bedingen. Es ist wahrscheinlich, dass eine erhebliche
Zahl anderer noch nicht geprüfter anorganischer und
organischer Stoffe alkalischer Natur ein gleiches Ver-
halten aufweist und dass somit die Beschleunigung oder
— 79 —
Auslösimg oxydierender Wirkungen von Kupferoxyd-
und Quecksilberoxydsalzen eine empfindliche Reaktion
auf die Gegenwart selbst kleiner Mengen alkalisch rea-
gierender Substanzen darstellt. *)
Wie bei den Kupfersalzlösungen, so führt auch bei
Mercurichlorid die Anwendung der Guajakharzlösung
in Chloroform in manchen Fällen zu einer viel schärferen
Reaktion, namentlich für Fälle gefärbter Lösungen und
besonders auch deshalb, weil das Guajakblau in Ohloro-
formlösung weit stabiler zu sein scheint, als in alko-
holisch-wässeriger Lösung.
Wie zwischen dem Verhalten der mit wenig Mer-
curichlorid oder mit Kupfersalz versetzten Pyrogallol-
lösungen in Gegenwart von Alkaloiden (Atropin, Coniin
etc.) vollkommene Analogie besteht, insofern in beiden
Fällen starke Bräunung respektive Oxydation jener
Substanz eintritt, so zeigt das Mercurisalz auch eine
entsprechende Wirkung auf Aloinlösung. Lösungen des
Barbaloins oder Natalaloins (siehe oben) nehmen nach
Zusatz einiger Tropfen einer kaltgesättigten Quecksilber-
chloridlösung und nachheriger Beimischung gelösten
Atropins, Coniins und anderer Alkaloide schon in der
Kälte, etwas rascher bei leichter Erwärmung die inten-
sive Aloinrotfarbe an, während auch hier das alkalische
Anilin eine dunkel rotgelbe Färbung hervorruft.
Endlich möge noch hervorgehoben werden, dass
auch hinsichtlich der Entfärbung der Indigolösung, so-
wie der Rötung der Phenylendiaminlösung durch Mer-
curichlorid eine aktivierende Wirkung der Alkaloide
in genau gleicher Weise wie bei Kupferlösung konsta-
x) So zeigten neuere, während des Druckes dieser Mitteilung
vorgenommene Versuche, dass u. A. auch Piper idin und Triae-
thylamin selbst in kleinsten Mengen sowohl Cuprisalze als Mercuri-
chlorid gegen Guajakharz und gegen Aloin zu activieren vermögen.
— 80 —
tiert werden konnte und dass auch hier bei Einwirkung
auf Gruajakollösung ein negatives Verhalten zu beob-
achten war.
Die bisherigen Ergebnisse veranlassten mich, auch
noch das Silbernitrat in Bezug auf aktivierende Ein-
flüsse alkalischer Substanzen zu untersuchen, da be-
kanntlich dieses Salz einerseits durch leichte Reduzier-
barkeit bei Kontakt mit zahlreichen anorganischen und
organischen Stoffen (Ferrosalze, Thiosulfate, Ameisen-
säure, Aldehyde, Pyrogallol etc.) sich auszeichnet, andrer-
seits in verdünntem Lösungen sich manchen oxydabeln
Substanzen, wie Guajakharz, Indigoblau gegenüber in-
different verhält. Die angestellten Versuche haben ge-
zeigt, dass in mancher Hinsicht deutliche Analogien, in
einigen Punkten jedoch auffallende Abweichungen im
Vergleiche mit den Cupri- und Mersurisalzen bestehen.
In Betreff des Verhaltens zu Guajakharz- oder
Guajakonsäurelösung wurde beobachtet, dass verschiedene
Alkaloide, so namentlich das Atropin, Veratrin, Chinin
und sonderbarer Weise auch das so schwach basische
Coffein intensive Bläuung der silbernitrathaltigen Guajak-
lösung hervorrufen, während sich das Morphin, Codein,
Strychnin und Brucin gegen Erwartung negativ ver-
halten.
In gleicher Weise, wie die mehrfach genannten al-
kalischen anorganischen Stoffe, zum Beispiel Kalkhydrat,
Calciumcarbonat, Natriumacetat, Borax u. s. w. die
Bläuung der Guajakharzlösung selbst durch stark ver-
dünnte Kupfersalz- und Quecksilberchloridlösungen be-
wirken, so erfolgt eine solche Aktivierung auch bei ver-
dünnter Silbersalzlösung und im weitern ist es be-
merkenswert, dass mehrere organische Substanzen basi-
schen Charakters, welche wie Acetanilid, Antipyrin und
Phenacetin weder bei Kupfer- noch bei Quecksilbersalz
— 81
eine Bläuung des Reaktionsgemisches hervorrufen oder
wie Thallin nur bei Mercurichlorid eine solche Wirkung
zeigen, bei Silbernitrat einen bald schwächeren, bald
intensiveren aktivierenden Einfluss äussern, wie denn
zum Beispiel durch kleine Thallinmengen tiefe Bläuung
der mit sehr verdünnter Silberlösung geschüttelten Gua-
jakchloroformlösung bewirkt wird. Ebenso vermögen auch
die beiden stark basischen Benzolderivate Anilin und
Chinolin starke Oxydation des Guajakkarzes unter Bil-
dung von Guajakblau einzuleiten.
Die aktivierende Wirkung einzelner Pflanzenbasen
auf Silbernitrat erstreckt sich auch auf oxydierende
Reaktionen des Silbersalzes gegenüber anderen oxyda-
beln organischen Stoffen ; so wird beispielsweise ver-
dünnte Indigolösung nach Zusatz geringer Mengen von
Atropin relativ rasch durch solche Silberlösungen ent-
färbt, welche an und für sich eine entbläuende respek-
tive oxydierende Wirkung auf diesen Farbstoff nicht
äussern, und ebenso bewirkt stark verdünnte Silber-
lösung in Gegenwart des genannten Alkaloides starke
Bräunung einer alkoholisch-wässerigen Guajakollösung.
Bei diesen beiden letztgenannten Reaktionen sind jedoch
gewisse andere Pflanzenbasen, wie Brucin, Veratrin und
Coffein (siehe oben), wenigstens in der Kälte, ohne
Wirkung.
Was endlich die oxydierende Wirkung des Silber-
nitrates auf Aloinlösungen (unter Bildung des Aloin-
rotes) betrifft, so ist auch hier ein durchaus ähnliches
Verhalten, wie bei den Kupieroxydsalzen und bei Mer-
curichlorid zu konstatieren. Während eine stark ver-
dünnte Silbernitratlösung in der Kälte keine Rötung
der verdünnten Lösungen von isobarbaloinhaltigem Alain
oder von Natal- A loin zu bewirken vermag, erfolgt nach
relativ kurzer Zeit die Aloinrotbildung, wenn den Re-
6
82
aktionsraischungen kleine Mengen einzelner freier Al-
kaloide, wie Atropin, Coniin, Chinin zugefügt werden,
während auch hier Coffein, abweichend von der Guajak-
harz-Silbersalz-Reaktion ohne Wirkung bleibt. Es ist
wahrscheinlich, dass bei spateren Beobachtungen auch
noch eine Reihe anderer Pflanzenbasen einen aktivieren-
den Einfluss zeigen wird.
Wenn wir die vorstehend mitgeteilten Thatsachen,
welche übrigens nur als Ergebnisse vorläufiger Beob-
achtungen zu betrachten sind, näher ins Auge fassen
und uns daran erinnern, dass sich sehr analoge Er-
scheinungen bei verschiedenen Gruppen von oxydierend
wirkenden Metallsalzen wiederholen, wenn wir endlich
konstatieren können, dass die geschilderten „aktivieren-
den" Einflüsse basischer Stoffe nicht nur da beobachtet
werden, wo durch die alkalische Substanz eine Ab-
scheidung von Oxyden respektive Oxydhydraten aus den
betreffenden Metallsalzen bewirkt wird, sondera auch in
den Fällen und unter solchen Bedingungen, wo eine
solche Zerlegung der Metallsalze nicht konstatiert wer-
den kann, so werden wir uns der Meinung kaum ver-
schliessen können, dass diesen „aktivierenden" Wirkun-
gen auch ein theoretisches Interesse zukommt und dass
die Kenntnis solcher allgemeiner verbreiteten Erschei-
nungen manche schon längst bekannte Reaktionen viel-
leicht in ein etwas anderes Licht rückt. Um hier nur
ein derartiges Beispiel anzuführen, dessen nähere Be-
sprechung in einer andern Zeitschrift erfolgen soll, möge
an die in der medizinischen Chemie bekannte „Biuret-
Reaktion" erinnert werden, welche zur Identifizierung
sowohl von Harnstoff als auch von Eiweisstoffen dient.
Dieselbe beruht auf einer Veränderung (Oxydation) des
aus Harnstoff bei längerem Schmelzen gebildeten Biurets
und wird so ausgeführt, dass das Objekt (bei Eiweiss-
— 83 —
Reaktionen die auf Albuminstoffe zu prüfende Lösung)
mit einer gewissen Menge Natron- oder Kalilauge ver-
setzt und sodann wenig Kupfersulfatlösung zugefügt wird,
wobei meist schon in der Kälte, oder nach leichter Er-
wärmung eine violettrote Färbung eintritt. Versuche,
die von mir anlässlich dieser Studie über den Einfluss
basischer Stoffe auf das Oxydationsvermögen der Kupfer-
salze angestellt worden sind, haben sofort ergeben, dass
die Biuretreaktion nicht allein, wie zu erwarten war,
mit jedem löslichen Kupferoxydsalze, sondern auch mit
einer ganzen Reihe alkalisch reagierender Substanzen
(selbst bei Anwendung kleiner Mengen) eintritt, so bei-
spielsweise, wenn die Lösung der kaustischen Alkalien
durch Kalk- oder Barythydrat, durch kleine Mengen
Ammoniak, auch durch gewisse Pflanzenalkaloide (Atro-
pin-, Coniin-Lösung) ersetzt wird, ja selbst bei Anwen-
dung einer äusserst schwer löslichen alkalischen Sub-
stanz, der gebrannten Magnesia (Magnesiumoxyd). Es
ist somit die fragliche Reaktion keineswegs an die An-
wendung von Kali oder Natron, das heisst an eine stark
alkalische Reaktion der Flüssigkeit gebunden, sondern
erfolgt auch in schwach alkalischen Reaktionsgemischen,
was sicherlich um so bemerkenswerter ist, als bisher
wohl die Ansicht vorgeherrscht hat, dass bei der Biuret-
reaktion mit Albumin durch die Wirkung des starken
Alkalis zunächst irgend eine Spaltung des Eiweisskörpers
unter Bildung des Biuretkomplexes erfolge, welch letz-
terer sodann, wie bei dem entsprechenden Versuche mit
reinem Harnstoff, durch die stark alkalische Kupfer-
lösung unter Bildung des violetten Produktes verändert
respektive oxydiert werde. Aus dem Gesagten müssen
wir aber schliessen, dass die blosse Einwirkung des
Kupfersalzes bei gleichzeitiger, wenn auch schwacher
alkalischer Reaktion genügt, um das Eiweissmolekül zu
— 84 —
„erschüttern," die Biuretbildung und die sofortige Oxy-
dation dieser letzteren Substanz zu veranlassen. Wir
könnten somit diese Erscheinung, im Sinne älterer Auf-
fassungen, als Wirkungen „prädisponierender Verwandt-
schaft" deuten; jedenfalls aber schliessen sich die Vor-
gänge bei der unter sehr verschiedenen Bedingungen
eintretenden Biuret-Reaktion durchaus den unter Alkali-
Einfluss erfolgenden Oxydationswirkungen der Kupfer-
oxydsalze und anderer Metallsalze an, welche den Haupt-
inhalt der vorliegenden Mitteilung bilden.
Sirassburg, im September 1902.
Die Pygmäen und ihre systematische Stellung
innerhalb des Menschengeschlechtes.
Von
J. Kollmann.
Mit i Figuren im Text.
Diese kleine Studie ist Herrn Professor Hagenbach- Bischof f
gewidmet als Ausdruck des Dankes für das warme Interesse, das er
seit einem Vierteljahrhundert der anatomischen Anstalt in Basel ent-
gegengebracht hat.
Eine besondere Abart des Menschengeschlechtes,
die Pygmäen, ziehen mehr und mehr die Aufmerksam-
keit der Naturforscher auf sich ; denn die Nachweise
mehren sich, und damit die Bedeutung dieser Erschei-
nung für die Urgeschichte des Menschengeschlechtes.
Solange nur in Afrika und dem Inselarchipel kleine
Menschen gefunden wurden, erschienen sie als ein Ku-
riosum, das au sich von hohem Interesse war schon
wegen der Angaben Homers und anderer griechischer
Autoren, aber weiter ging das Interesse bei weitaus den
meisten Schriftstellern nicht. Es verging eine verhält-
nismässig lange Zeit, bis die Beurteilung etwas tiefer
griff. Noch bis zu Anfang der siebziger Jahre und
selbst noch nach dem Erscheinen des interessanten Bu-
ches von Schweinfurth, „Im Herzen Afrikas", hielt man
— 86 —
die Angabe von Pygmäen nördlich vom Äquator für
reine Erfindung, für mythisch, und als er gar ein Re-
giment derselben bei dem König der Mombottu gesehen
haben wollte, da hielten nicht wenige diese Angaben
des erfolgreichen Reisenden zum mindesten für Jäger-
latein.
In dieser geringschätzenden Auffassung hat sich
allmählich ein kleiner Wandel vollzogen, weil das höchste
Interesse in der Frage gipfelt: Wie verhalten sich die
Pygmäen ihrer Abstammung nach zu den andern Stäm-
men, unter denen sie leben ? Wenn es unzweifelhaft ist,
dass die Akka, die Batua und andere — Neger, und zwar
Zwergneger sind, so dürfen sie nicht allein für sich be-
trachtet werden, sondern nur im Zusammenhang mit
andern Negern. Denn eine Verwandtschaft zwischen
ihnen muss doch vorhanden sein. In der nämlichen
Form tritt uns dasselbe Problem überall entgegen, ob
wir die Weddas von Ceylon, die Negritos der Philip-
pinen und die Zwerge der Halbinsel Malakka betrachten
oder ob wir die Pygmäen Europas berücksichtigen. Bei
den letzteren wird die Frage bis zu einem gewissen
Grade akut. Solange nur von den Zwergvölkern unter
den farbigen Rassen die Rede ist, trägt die ganze Er-
örterung mehr einen akademischen Charakter; sie be-
rührt uns nicht unmittelbar. Sobald aber unsere eigene
Abstammung dabei auf der Tagesordnung erscheint,
erhöht sich die Teilnahme an der Diskussion, denn sie
gewinnt eine grössere Aktualität.
Dabei kommt noch ein anderer Umstand in Be-
tracht. Solange Pygmäenfunde in Europa vereinzelt
auftraten, war trotz der Verwandtschaftsfrage das Inter-
esse kaum lebhafter erregt worden, denn so ein paar
Zwerge konnten ja auch am Ende pathologisch sein.
Sie fielen unter den Begriff degenerierter Rassen, wie
— 87 —
wohl manche dachten. Diese Beurteilung wird aber
immer unzulänglicher, denn es bestätigt sich mehr
und mehr, dass Europa einst eine ganze Bevölkerung
von Pygmäen besass, wie heute noch die Philippinen
oder Ceylon oder das dunkle Afrika. In dieser Hin-
sicht sei deshalb daran erinnert, dass in der Schweiz,
und zwar an drei verschiedenen Orten, Pygmäenknochen
in Gräbern der neolithischen „Periode, vermischt mit
Skelettresten hochgewachsener Europäer gefunden worden
sind. Wie noch heute die farbigen Pygmäen zumeist
mit den farbigen hochgewachsenen Stämmen zusammen
leben, so war dies während der neolithischen Periode
auch in Europa der Fall. Das beweist jede neue Ent-
deckung dieser Art, so z. B. in Frankreich. In einer
neolithischen Station, genannt Cave aux Fées bei Brueil
(Departement Seine-et-Oise) sind Knochen von Pygmäen
neben Knochen hochgewachsener Leute gefunden wor-
den, und zwar bis zu 9 Prozent. Das ist freilich nicht
übermässig viel, aber man weiss ja, wie bei Ausgrabun-
gen mit den Menschenresten verfahren wird, sie werden
in unglaublicher Weise verschleudert. Es ist deshalb
gar nicht anzunehmen, dass gerade die Pygmäenknochen
mit besonderer Sorgfalt gesammelt wurden. Wenn nun
dennoch so viele dort in jener Periode sicher nachge-
wiesen sind, so fällt gerade ein solches Zahlenverhältnis
um so bedeutender ins Gewicht.
In einer anderen neolithischen Station ist das Ver-
fahren übereinstimmend. Unter den langen Knochen
von Mureaux belinden sich solche von Pygmäen und
von hochgewachsenen Leuten. Dasselbe ist der Fall in
einem dritten Gräberfelde bei Chalons-sur-Marne, dessen
Knocheninhalt von Manouvrier unter Mithülfe von Po-
kro/vsky beschrieben worden ist. Als die erwähnten
Gräberfunde in Frankreich geborgen wurden, war die
— 88 —
Thatsache von dem Vorhandensein von Pygmäen in
Europa noch nicht genügend bekannt und so kommt
es, dass das Vorkommen der Knochen zwerghafter
Leute in Frankreich noch bis heute gar keine weitere
Berücksichtigung gefunden hat. Aber die Vergleichung
der Zahlen über die Länge der Oberschenkelknochen
beweist doch klar, dass in Frankreich in der neolithi-
schen Periode an drei verschiedenen Orten Pygmäen
zusammen mit den hochgewachsenen Leuten gelebt ha-
ben. Man darf mit Sicherheit darauf rechnen, dass
noch viele Funde der Art gemacht werden, denn die
Höhlenforschung ist dort sehr ergiebig. Zahlreiche und
wichtige Beiträge haben die Anthropologen dieses Lan-
des schon geliefert, besonders für die neolithische Pe-
riode, denn in den Höhlen findet sich ein Material an
Schädeln und Knochen in einer Vollständigkeit und
Menge, wie es in Europa kaum irgendwo mit solcher
Reichhaltigkeit anzutreffen ist.
Jüngst sind nun endlich auch in Deutschland Grab-
felder aufgedeckt worden, welche neben Resten von
hochgewachsenen Leuten europäischer Abstammung auch
Pygmäenknochen enthielten. Die Fundorte liegen ein-
mal am Rhein (bei AVorms und Egisheim) und dann
fern ab zwischen Breslau und dem Zobten, dem frucht-
barsten Gebiete Schlesiens. Diese schlesischen Funde
ragen in die Bronze-, in die römische und in die sla-
vische Periode herein ! Prof. Thilenius hat die Pygmäen
durch Messung unzweifelhaft nachgewiesen. ') Damit
rückt die Existenz der Rassenzwerge der Jetztzeit ziem-
lich nahe, und dem Funde kommt eine besondere Be-
deutung zu. Denn es wird dadurch bewiesen, dass das
Vorkommen der Pygmäen in Europa viel länger ge-
i) Globus Bd. 81 Nr. 17. 1902.
— 89 —
dauert bat, als man bei den bisberigen Funden in der
Schweiz und in Prankreich annehmen durfte. Dieser
Umstand kann kaum überschätzt werden, wenn man
beachtet, dass in Europa noch heute auch lebende Pyg-
mäen vorkommen. Serpi und Manila haben in Sizilien,
namentlich in der Provinz Girgenti, die unzweifelhaf-
testen Belege von lebenden Rassenzwergen erbracht.
Bei einem Besuche in dem anthropologischen In-
stitut in Rom wurde mir eine Reihe solcher Schädel
vorgelegt, die Dr. Mantia auf Friedhöfen gesammelt
hatte. Einen aus dieser seltenen Reihe hat mir Pro-
fessor Sergi sogar zum Geschenk gemacht, er ist der
craniologischen Sammlung der Anatomie in Basel ein-
verleibt worden. Alle Schädel sind „normal", d. h. sie
tragen keine Zeichen von Verkümmerung durch patho-
logische Prozesse an sich. Der Nachweis von Pygmäen
ist von den beiden italienischen Forschern auch durch
andere Kennzeichen geliefert worden, so dass über das
Vorkommen von Rassenzwergen in Sizilien bis in die
jüngsten Tage herein keine Zweifel bestehen können.
Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes folgt (Seite 90)
die Abbildung des si/.ilischen Pygmäenschädels aus der
Basler Sammlung, von oben gesehen und daneben die
Abbildung eines Europäerschädels der grossen Rasse.
Durch diese Nebeneinanderstellung wird der Unterschied
unverkennbar.
Nachdem nun auch in der Schweiz, in Frankreich
und in Deutschland Reste von Pygmäen gefunden wur-
den, welche von der neolithischen bis zu der slavischen
Periode fortlaufen, so ergiebt sich ein Verhalten, das
mit demjenigen Asiens, Afrikas und des südlichen In-
selarchipels übereinstimmt. Alle diese Kontinente be-
sitzen eine kleine Abart des Menschengeschlechtes, welche
durch besondere Merkmale von den grossen Rassen
— 90
abweicht. Das ist ein Ergebnis von grosser, allgemeiner
Tragweite. Denn alle, welche von dem Gesichtspunkt
der Entwicklung aus die Menschenrassen ins Auge
fassen, werden zu der Erwägung gelangen : das Men-
schengeschlecht war ursprünglich aus Pygmäen und aus
hochgewachsenen Rassen zusammengesetzt.
Mit jedem neuen Funde über die Verbreitung der
Pygmäen wächst die Bedeutung dieser Thatsache. Wir
haben bis jetzt angenommen, die grossen Rassen seien
die einzigen Formen des Menschen gewesen, welche den
Fig. 1. Schädel eines Pygmäen aus Sizilien. Kapazität 1031 cem
und Schädel eines Europäers, grosse Rasse, Kapazität 1460 cem.
Erdball bevölkert haben, jetzt erfahren wir, dass auch
kleine Menschenrassen dazu beigetragen haben. Dass
dies in einem sehr weiten Umfang der Fall war, be-
weisen schon die obigen kurzen Nachrichten über vier
Kontinente : nämlich über Europa, Asien, Afrika und
den Inselarchipel. Noch stand bis jetzt der grosse
amerikanische Kontinent aus. Nunmehr hat sich für
die neue Welt der Nachweis führen lassen, dass die
Bevölkerung jenes Kontinentes ebenfalls Pygmäen ein-
schliesst.
91 —
Nachrichten über Pygmäen in Amerika sind von
Anthropologen Amerikas zwar noch nicht beigebracht
worden. Brinton verwies alle Angaben dieser Art von
A. v. Humboldt, Martins u. A. in das Bereich der Fa-
bel. Mit Unrecht, denn auf dem altberühmten Toten-
felde von Ancon und in den Ruinen von Pachacamäc
enthalten die Gräber neben Schädeln und Skeletten der
grossen Leute auch solche von Pygmäen. Das greifbare
Beweismaterial hat die Prinzessin Thérèse von Bayern
beigebracht. Unter den von ihr persönlich gesammelten
Schädeln befinden sich solche von grosser Kapazität und
solche von kleiner oder sogen. Nanocephale. Die Zwerg-
köpfe besitzen eine Kapazität von nur 1060 bis 1192 ccm
und damit dieselbe Kleinheit, wie die Schädel der Wed-
das, der Negritos, der Andamanen, der Buschmänner
und der zwerghaften Europäer. Alle Erfahrungen über
die körperlichen Eigenschaften der Pygmäen zeigen nun,
dass die Bässen mit kleinen Köpfen auch von geringer
Körperhöhe sind. Wir dürfen also von den kleinen
Schädeln aus mit Sicherheit den Schluss ziehen, dass
die Menschen mit den kleinen Köpfen aus Amerika
ebenfalls klein von Statur waren. Glücklicherweise ist
dafür auch ein direkter Beweis beigebracht. Prinzessin
Thérèse hat auch zwei Oberschenkelknochen von jenen
beiden Grabstätten mitgebracht, und beide ergeben, ob-
wohl sie von völlig ausgewachsenen Individuen herrüh-
ren, dennoch nur eine Körperhöhe von H61 und 1463
mm, Masse, die pygmäenhaft sind, wie jene der Weddas
oder anderer Zwergvölker.
Es war ein überaus glücklicher Griff, neben den
Schädeln auch noch ein paar Schenkelknochen nach
Europa zu transportieren, denn damit vermehrte sich
die Menge und die Bedeutung der Belege. Schädel und
Extremitätenknochen zusammen genommen, haben die
92
nämliche Beweiskraft wie lebende Pygmäen selbst. Das
Vorkommen von dieser Urform des Menschengeschlech-
tes auch in Amerika ist damit ein für allemal festge-
stellt und jeder fernere Zweifel ausgeschlossen. Jetzt
handelt es sich nur noch darum, die weitere Verbrei-
tung dort nachzuweisen, und hierzu finden sich schon
manche Anhaltspunkte in der Litteratur. Nach iCOr-
bigmj beträgt die mittlere Körperhöhe der modernen
Peruaner unter 1600 mm, ein Mass, das zu der Ver-
Fig. '2. Schädel eines Pygmäen. Kapazität 1070 com (J. Ranke).
Schädel eines Mannes der grossen Rasse, Kapazität 1-1-84
(jR. Yirchow). Beide von den Grabfeldern Peru's.
mutung berechtigt, dass auch heute noch Pygmäen unter
ihnen leben wie vor 400 Jahren. - - Die kleinen Schä-
del sind schon Morton aufgefallen, denn er fand bei den
Peruanern die kleinste Kapazität unter allen Amerika-
nern. R. Virchow sah unter den von ihm untersuchten
Peruanerschädeln auch ausgemachte Pygmäenköpfe (er
nennt sie Nanocephale), ohne alle Deformation. R. G.
Jl/ilibiirtons und Mac Ritchies Angaben über amerika-
nische Zwergrassen sind von vielen Seiten recht abfällig
— 93
beurteilt worden, allein es dürfte nunmehr nach den
obigen Belegen denn doch geraten sein, diesen Berichten
etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn unter
einer Anzahl von 33 Schädeln nachweislich 15 Pygmäen
vorhanden sind (Ranke1), dann muss die Zwergbevölke-
rung doch recht ansehnlich gewesen sein, und es ist
anzunehmen, dass sie nicht nur auf Ancon und Pacha-
camâc beschränkt war. Die Litteratur ist auch nach
dieser Seite ziemlich ergiebig. Ich will nur eine That-
sache anführen, welche zeigt, dass Pygmäen weit unten
auf der südlichen Hälfte Amerikas einst vorkamen. Ten
Kate hat aus dem Museum von La Plata über die
Grösse von Kniescheiben berichtet, die an den Skeletten
südamerikanischer Herkunft gefunden wurden. Voraus-
geschickt möge zunächst werden, dass die Kniescheibe
in einem bestimmten proportionalen Verhältniss zur Kör-
perhöhe des Individuums steht, sie ist klein bei kleinen
Leuten und gross bei grossen. Laien wie Anatomen
werden dies unbedingt als richtig anerkennen. Die Un-
terschiede betragen nahezu 2 cm. Ten Kate sind nun
zweierlei Kniescheiben aufgefallen, solche, die gross sind,
wie die der hochgewachsenen Europäer, und kleine, wie
die der Pygmäen. Der Verfasser hat nur die eine
Thatsache an sich veröffentlicht und durch tadellose
Abbildungen erläutert, ohne doch von Pygmäen zu
sprechen, ebensowenig wie dies Ranke und Virchow bei
der Erwähnung der Schädel aus den Totenfeldern von
Peru gethan haben. Aber nach allen Erfahrungen über
die körperlichen Eigenschaften der Rassenzwergc geht
aus den Angaben über die Kniescheiben deutlich her-
1) Joh. Ranke, Beschreibung der Schädel von Ancon und Pa-
châcamâc, welche I. K. H. Prinzessin Thérèse von Bayern gesam-
melt hat. Abhandlungen der königl. Akademie der Wissenschaften
in München 1900. 4°. Mit 9 Tafeln.
— 94
vor, dass wir es mit Teilen eines Zwergvolkes zu thun
haben, das dort in den Gebieten des La Plata mit
einem Volke von grossen Leuten zusammengelebt hat.
Für mich besteht hierüber auf Grund der vorlie-
genden Kniescheiben nicht der geringste Zweifel, ebenso
wenig darüber, dass Ehrenreich unter den Botokuden
noch lebende Pygmäen angetroffen hat. Ich schliesse
dies aus der Körperhöhe eines Mannes von 146 cm und
zweier von R. Virchow gemessener Skelette, die nur
eine Körperhöhe von 148 und 140 cm ergaben. Porte
endlich findet unter demselben Volke Körperhöhen von
1,85 m, also sehr grosse Leute, daneben aber auch
kleine, und zwar Männer und Frauen, die nur 116 bis
135 cm hoch sind! Dazu kommen auch Nachweise von
Schädeln mit kleiner Kapazität, die von den verschie-
densten Autoren bestätigt werden (Lacerda und Peixoto,
Canestrini e Moschen, R. Virchow). Also auch in die-
sem Gebiete amerikanischer Stämme die nämliche in
allen übrigen Kontinenten vorkommende Erscheinung:
das Zusammenleben grosser Rassen mit Zwergrassen.
Und das ist noch in der jüngsten Zeit der Fall gewesen
in den eben angeführten Gebieten Amerikas wie auch
auf der Santa Cruz-Insel und in Kalifornien.
So wären denn nach den vorliegenden Erfahrungen
die Pygmäen auch über den amerikanischen Kontinent
zerstreut wie über den von Europa, Asien, Afrika und
den Inselarchipel. Damit scheint mir ein schwerwie-
gendes Hindernis beseitigt, das bisher einer tieferen
natürlichen Deutung der Pygmäen entgegenstand. Die
Funde in Europa und Amerika sowie jene auf den übri-
gen Kontinenten drängen mehr und mehr dahin, die
Pygmäen als Urrassen aufzufassen, die zuerst in die
Erscheinung traten. Aus ihnen haben sich dann, durch
Mutation, die hochgewachsenen Rassen entwickelt.
— 95
Ehe ich auf die Begründung des letzten Satzes
eingehe, sind zwei schwerwiegende Einwände zu berück-
sichtigen, die bisher laut geworden sind : erstens der
Widerspruch gegen die tiefgreifende Verschiedenheit
zwischen den Pygmäen und den grossen Leuten, und
zweitens der Widerspruch gegen die Annahme eines
hohen Alters der Pygmäen, wie es dem übrigen, grossen
Menschentum zukommt.
Man hört von vielen Seiten die Behauptung, die
Zwerge seien auf pathologischer Grundlage entstanden.
Allein diese Annahme beruht auf der Verwechslung
kleiner degenerierter Menschen, wie sie überall einmal
vorkommen, mit den kleinen Rassenmenschen, die man
genauer erst seit den letzten Dezennien kennt. Kleine
verkümmerte Menschen, Bucklige u. dergl. wurden im-
mer Zwerge genannt und auch als Pygmäen bezeichnet.
Die meisten von uns haben solch traurige Gestalten
gesehen. Ich habe vorgeschlagen sie Kümmerzicerge
zu nennen, zum Unterschied von den kleinen aber ge-
sunden Rassenmenschen, von denen weiter oben die
Rede war. Diese kennen von Angesicht zu Angesicht
nur die kühnen Reisenden, welche sie in der Wildniss
aufgesucht haben. Diese Zwerge müssen durch ein an-
deres Wort als solche kenntlich gemacht werden, und
werden am besten Rassenzwerge oder Pygmäen genannt.
Das letztere Wort stammt aus der klassischen Zeit und
wird, wie wir sehen werden, mit Recht für die Rassen-
zwerge beibehalten, welche die Alten bereits als solche
kannten.
Zu weiterer Aufklärung sei noch folgendes be-
merkt. Kümmerzwerge, oft auch Liliputaner genannt,
entstehen nachweislich durch Degeneration, wobei man
annimmt, dass schon die Keimzelle abnorm war. Ihre
Körperhöhe schwankt zwischen 1 Meter und 1,30, sie
— 96
sind dabei nicht übel proportioniert mit Ausnahme des
Kopfes. Über einem kleinen Gesicht erhebt sieh näm-
lich in der Regel ein etwas grosser Oberkopf, der Ge-
hirn genug einschliesst, um sich in der menschlichen
Gesellschaft geschickt zu benehmen. Solche Kümmer-
zwerge treten isoliert auf inmitten der grossgewachsenen
Bevölkerung. Das einzelne Glied einer Familie bleibt
zwerghaft, während die übrigen normal sind. Solche
Kümmerzwerge werden bisweilen durch geschickte Un-
ternehmer von vielen Orten her zusammengebracht und
zu einer kleinen Schauspielertruppe vereinigt, die überall
das Entzücken der Kinder bildet. Mit solch verküm-
merten kleinen Scharen haben die in freier Natur auf-
gewachsenen Rassenzwerge aber nichts zu thun Es ist
leider noch nicht hinreichend bekannt, warum die Küm-
merzwerge auf einer kindlichen Stufe des Wachstums
stehen bleiben, wobei namentlich das Knochensystem
affiziert ist. Die Epiphysenknorpel der Extremitäten-
knochen sind ebenso wie manche Knorpel an der Schä-
delbasis bei diesen Zwergen selbst in einem Alter von
30 — 36 Jahren noch unversehrt erhalten, also noch zu
einer Zeit, in welcher bei normalen Menschen und auch
bei den Rassenzwergen diese Knorpel längst verknöchert
sind.
Solche Kümmerzwerge, deren äussere Erscheinung
noch etwas anziehendes weil etwas kindliches an sich
trägt, sind aber nicht die einzigen Formen, unter denen
kleine Menschen „Zwerge" auftreten. Starke Grade
von Rachitis erzeugen Gestalten, die zwerghaft und ver-
krüppelt zugleich sind. Die psychischen Qualitäten kön-
nen dabei schwanken zwischen hochgradiger Intelligenz
und stumpfem Blödsinn. In diese weite Kategorie ge-
hören die Zwerge, die in dem Rom der Cäsaren, an
den Fürstenhöfen Europas, Afrikas und Indiens zu al-
— 97
lerhand Kurzweil, auch als „Hofnarren" verwendet wur-
den. Speke (64) sah einen solchen bei einem Negerkönig
in Unyoro, also einen Kümmerzwerg, keinen Rassen-
zwerg. Übrigens hat Speke auch eine Abbildung dieses
verkümmerten Menschen gegeben, so dass dadurch jeder
Zweifel über die Degeneration dieses Zwergen ausge-
schlossen ist. Speke hatte es mit einem rachitischen
Manne der im übrigen grossen Negerrasse zu thun. Die
Herren Bretts und Kolisko haben in einem grossen
Werke (00) alle die verschiedenen Sorten der Kümmer-
zwerge aufgeführt, welche auf pathologischer Grundlage
entstehen. Es gibt fünf verschiedene Arten, welche das
Minimalmass der Körpergrösse der betreffenden Men-
schenrasse nicht erreichen. Diese Zwergarten, von de-
nen die eine oder andere jedem Leser bekannt sein
dürfte, haben mit den Rassenzwergen nur die geringe
Körperhöhe gemeinsam. Diese ist aber bei den Küm-
merzwergen eine krankhafte, bei den Rassenzwergen
dagegen eine rassentiafte Eigentümlichkeit.
Dieser bedeutungsvolle Unterschied ist erst jetzt
allmählich klar gelegt worden, deshalb kann es kaum
überraschen, dass diese beiden so grundverschiedenen
Zwergarten oft miteinander verwechselt wurden, so dass
es oft schwer fällt, zu entscheiden, von welcher Art
eigentlich die Rede ist. Dies gilt namentlich bezüglich
der klassischen Nachrichten. So ist denn allmählich
eine Zweifelsucht entstanden, die viel zu weit gegangen
ist; sie hat schon im Altertum begonnen und sich bis
in unsere Tage herein fortgesetzt. Ein auffallendes
Beispiel dieser Art findet sich bei dem hervorragenden
Geographen G. Forster, der sich einst auch über die
Existenz der Pygmäen ausgelassen hat, ein Artikel, an
den eben jetzt wieder aufs neue erinnert wird. Forster
ist der Ansicht, die Sage von dem Volk der Pygmäen
7
98 —
„das an des Okeanos strömenden Fluten von den Kra-
nichen mit Mord und Verderben bedroht wird" (Ilias
III, 6), habe nichts gemein mit der Kunde von kleinen
Menschenstämmen in Afrika. Diese Auffassung war da-
mals (1784) gewiss berechtigt, weil man von Pygmäen
im Innern Afrikas nichts bestimmtes wusste. Wenn ein
scharfsinniger Artikel nach fast hundert Jahren in Pe-
termanns Mitteilungen (71) noch dieselbe Stellung ein-
nimmt und meint, es handle sich um eine vollständige
Fabel, so ist dies angesichts der Entdeckungen über
Pygmäen offenbar etwas zu weit gegangen. Man darf
die Ansicht Strabo's nicht ohne weiteres wiederholen,
der da meinte, was die Dichter, der Sänger der Iliade
und sein Vorgänger oder Zeitgenosse Hesiodus von
Pygmäen gesagt hätten, sei lediglich der „Ergötzung
wegen mitgeteilt." In den beiden obenerwähnten Ar-
tikeln sind überdies auch die Angaben von Aristoteles,
Plinius und Herodot einer ablehnenden Kritik unterzogen
worden.
Ich möchte für die teilweise Richtigkeit der alten
Angaben eintreten, weil in der jüngsten Zeit in Ober-
ägypten neben den Resten der hochgewachsenen Rassen
auch Reste von Pygmäen gefunden wurden.
Unter der Leitung von W. 31. F. Pétrie (96) hat
jene englische Gesellschaft, die sich die archäologische
Erforschung Ägyptens zur Aufgabe gemacht, wertvolle
Resultate in Abydos und seiner nächsten Umgebung
erzielt. Die Resultate liegen in vier inhaltsreichen
Bänden veröffentlicht vor, zu denen noch eine beson-
dere Abhandlung von Randal Maclver hinzukommt (Ol),
welche die craniologischen Schätze aufführt, die sowohl
der Steinzeit Oberägyptens als der Metallzeit, und zwar
der ersten Dynastien angehören. Die Leute, welche in
diesen Gräbern von Abydos, wie sie generell heissen
— 99 —
sollen, bestattet sind, lebten lange vor den trojanischen
Kämpfen und lange vor dem unsterblichen Sänger der
Utas. Die englischen Gelehrten, deren Angaben ich
auf Grund der Publikationen ein vollkommenes Ver-
trauen entgegenbringe, nennen für die untersuchten
Grabfelder und ihre Entstehung die Zeit zwischen 4000
bis 6000 Jahre vor Christus. Maclver hat seiner Ab-
handlung mehrere photographische Tafeln beigegeben,
auf denen die Schädel in drei verschiedenen Ansichten
mit peinlicher Sorgfalt wiedergegeben sind. Aus diesen
Tafeln lässt sich mit aller nur wünschenswerten Sicher-
heit entnehmen, dass die Bevölkerung von Abgdos aus
Abkömmlingen der grossen Rassen Afrikas und aus
Abkömmlingen von Pggmäen zusammengesetzt war1), und
zwar kamen gerade Pygmäen vor in einem Verhältnis
von etwa 20%. Nehmen wir an, dort oben habe eine
Bevölkerung Von 50,000 Seelen gelebt, so befand sich
darunter die ansehnliche Menge von etwa 10,000 Pyg-
mäen. Woher sie kamen, ist natürlich unbekannt, aber
man wird nicht fehlgehen, wenn man ihre Heimat im
Sudan annehmen will. Die Figur 3 ist nach einer
Photographie angefertigt, die ich Herrn Maclver ver-
danke. Sie zeigt einen Pygmäenschädel und daneben
den Schädel eines Abkömmlings der grossen Rassen,
beide aus der Urzeit Oberägyptens.
Angesichts dieser unbestreitbaren Beweise über das
Vorkommen von Pygmäen in Oberägypten zwischen
4000 — 6000 vor Christus ist es in hohem Grade wahr-
scheinlich, ja fast gewiss, dass Aristoteles, Homer, He-
siodus und andere Schriftsteller des Altertums eine zu-
treffende Nachricht von dem Vorkommen dieser Passen-
zwerge erhalten hatten. Die skeptische Abwehr durch
Strabo war ungerechtfertigt. An den Angaben über
1) Darunter befand sich auch ein Kümmerzwerg.
100 —
Pygmäen an den Quellen des Nil bleibt auch nach Be-
seitigung aller poetischen Zuthaten dennoch ein wahrer
Kern. Thatsächlich kamen dort Pygmäen vor. Ossa
loquuntur.
Nun kommen aber neue Zweifel anderer Art. Viele
angesehene Anthropologen und Ethnologen sprechen die
Vermutung aus, alle die bisher bekannt gewordenen
Pygmäenrassen seien lediglich degenerierte Abkömmlinge
der grossen Leute, unter denen sie entweder in abhängi-
Fig. 3. Schädel eines Pygmäen und Schädel eines prähistorischen
Nordal'rikancrs, beide aus Abydos. Nach Maclver.
ger Stellung leben, oder von denen sie sich getrennt
haben. Die geringe Körpergrösse soll von Nahrungs-
mangel herrühren, v. Wissmann, der an seinen Batua
eine Durchnittsgrösse von 1,40 Meter feststellte, v.
François, der am obern Tschuappa die Männer ebenso
gross fand und die Weiber auf 1,20 Meter schätzte,
Schweinfwrth, Long, Felkiri, Emin-Pascha, Stnhlmann,
Osk. Lenz, G. A. Fischer u. A., sie alle sollten von pa-
thologischen, degenerierten Menschen getäuscht worden
sein? Den ersten Anstoss zu dieser seltsamen Beurtei-
loi
limg gab vielleicht die Meinung von R. Virckow, es
gäbe manche degenerierte Menschenrassen. Er wollte
damit gewisse somatische Eigenschaften der Lappen
und der Grönländer treffen, eine Anschauung, die sich
wohl begründen lässt. Bezüglich der Rassenzwerge
kenne ich aber keine bezügliche Bemerkung von ihm,
im Gegenteil bezüglich der Weddas hat er eine solche
Auffassung sogar zurückgewiesen und in einer langen
Diskussion im Schosse der Berliner anthropologischen
Gesellschaft ist er Nehring entgegengetreten, der seine
Vorstellung von Kümmerformen im Tierreich auch auf
gewisse Menschenrassen, insbesonders auf die Pygmäen
übertragen wollte. Eine ausführliche Darstellung dieser
Ansicht findet sich bei Ranke (94) und neuerdings bei
Sokolowski (02). Sie ist keineswegs neu. Man lese nur
die Darlegungen der Herrn Sarasin (92); da wird sich
zeigen, dass ähnliche Urteile in zahlreichen Abstufungen
schon abgegeben wurden hinab bis zur Vermutung, die
Weddas seien Affen. Wenn neuestens die alte Variante
wiederkehrt, die Weddas seien gewissermassen Singha-
lesen unreinen Blutes, die überdies durch ihr Wald-
und Jägerleben degeneriert und verwildert seien, so
muss man fragen, wo denn irgendwo in der Welt das
Wald- und Jägerleben degeneriert hätte? Abgesehen
davon, dass alle jetzigen Kulturvölker einmal durch
dieses Leben hindurchgegangen und sich trotzdem und
gerade deshalb vortrefflich erhalten haben, genügt es ja
nur an die Indianer, die Neger, die Australier u. s. w.
zu erinnern. Wer hätte jetzt nicht solche Leute gese-
hen, welche in Karawanen durch Europa geführt werden
und doch wahrlich das Gegenteil von Degenerationsvor-
gängen zeigen.
Die Degenerationshypothese ist eine voreilige Ent-
scheidung über die Rassenzwerge, entstanden unter dem
— 102
Eindruck jener verkümmerten Jammergestalten, denen
jeder von uns schon im Leben begegnet ist, entstanden
unter dem Eindruck pathologischer Zwerge, deren Ent-
stehungsgeschichte oben erwähnt wurde. Beobachter,
die sich nach dieser Richtung hin ihre Objektivität be-
wahrt oder gar direkt mit den lebenden Rassenzwergen
verkehrt haben, drücken sich über die körperliche Be-
schaffenheit ganz anders aus. Ich nenne zuerst über
die Wecldas die Herren Sarasin, deren Angaben in
dieser Hinsicht ganz entschieden im Gegensatz stehen
zu der Degenerationshypothese. Im Laufe des "Winters
war dann Dr. Leopold Rütimeyer, ein vielbeschäftigter
Arzt aus Basel, in Gesellschaft der Herren Sarasin in
Ceylon, und hat die Weddas aufgesucht. Er sprach sich
in einem Vortrag in der Naturforschenden Gesellschaft
zu Basel !) ganz entschieden gegen die Degenerations-
hypothese aus mit folgenden Worten: wenn man die in
ihrer Weise für die Lebensaufgaben vollkommen aus-
gerüsteten, kräftigen und gesunden Naturweddas sieht,
so wie wir sie gesehen haben, so wird man eine solche
Idee, es handle sich um Kümmerformen, als gekünstelt
und unnatürlich zurückweisen.2)
Soviel gegen die Degenerationshypothese mit dem
Zusatz, dass keines der Pygmäenskelette, die ich ge-
sehen, Spuren der Degeneration erkennen liess, und
') Sitzung im Juli 1902 im Bernoullianum. Der Vortrag
wird im Druck erscheinen.
L') Zwei andere Beobachter, deren Werke ich nicht selbst ge-
sehen, über deren Inhalt ich aber von kompetenten Personen un-
terrichtet bin, finden die Pygmäen Afrika's kräftig gebaut mit gut
entwickelter Muskulatur. Diese Männer, welche direkt mit den
Pygmäen und längere Zeit sogar verkehrt haben, berichten nichts
über Degeneration. Die Namen der beiden Kenner der afrikani-
schen Pygmäen sind Lloyd und Johnston. Die Titel siehe unten
unter Nr. 09 und 02.
103 —
ihre Zahl ist doch schon recht ansehnlich. Sie umfasst
zunächst die Skelette der Schweizer Pygmäen, dann die
zahlreichen Skelette von Pygmäen, die im Besitze der
Herren Sarasin in Basel sich befinden, und ein An-
damanenskelett in Florenz, das ich mit Mantegazza
und Regalia untersucht habe. Unter der freundlichen
Führung des leider schon verstorbenen Sir Will. Floiver
konnte ich die Skelette der beiden afrikanischen Pyg-
mäen sehen, die sich in dem Museum of Natural history
in London befinden und die s. Z. von Emin Pascha
dorthin geschenkt wurden. Ich kenne die Schädel si-
zilianischer, afrikanischer, indischer und amerikanischer
Pygmäen und bestreite, dass an denselben Spuren von
Degeneration bemerkbar sind. Die Skelette stammen alle
von gesunden Repräsentanten der Rassenzwerge, die in
den ebengenannten Kontinenten gelebt haben.
Um die Stellung der Pygmäen innerhalb des Men-
schengeschlechtes später diskutieren zu können, muss
jetzt noch ein anderer Einwand erwähnt werden.
Bei Gelegenheit der Diskussion über den Anthro-
poiden von Trinil, den Pithecanthropus erectus Dubois
habe ich die Thesis aufgestellt (95), die Pygmäen seien
die Vorläufer der grossen Rassen. Diese Thesis wird
bestritten und darauf hingewiesen, im Diluvium seien
bisher nur grosse Bässen gefunden worden, diese seien
deshalb älter, die Grossen stellten den Anfang der
Menschheit dar (Nehring). Dieser Einwurf erscheint
zweifellos vielen sehr bedeutungsvoll, obwohl nach meiner
Meinung das Gewicht dieser Gegenbemerkung sehr ge-
ring ist. Denn es dürfte sehr schwer fallen, irgend
einen Naturforscher zu finden, der annehmen wollte, die
Pygmäen seien erst in der neolithischen Periode ent-
standen. Zu der Zeit, als die Menschheit entstand,
mussten die beiden Formen mindestens gleichzeitig auf-
104 —
treten. Wenn es die Grossen waren, die zuerst auf-
traten, dann mussten nach den allgemeinen entwick-
lungsgeschiehtlichen Prinzipen die Kleinen doch eben-
falls mitentstehen. Eine doppelte, unabhängige Ent-
stehung des Menschengeschlechtes ist naturwissenschaft-
lich betrachtet eine Unmöglichkeit. In solchen Streitfällen
ist die Cardinalfrage am Platz : Gibt es eine Descendenz
oder gibt es keine. Bekennt sich ein Naturforscher zu
der grossen Lehre von der Descendenz, so bleibt kein
anderer Ausweg, als die Annahme, dass die Pygmäen
und die Grossen in einem Descendenzverhältnisse zu
einander stehen Dann aber muss irgend eine Ent-
scheidung gegeben werden. Da liegen nur zwei Mög-
lichkeiten vor: entweder stammen die Kleinen von den
Grossen ab, oder die Grossen von den Kleinen. Das
erstere läuft auf die Degenerationshypothese hinaus, die
unhaltbar und falsch ist. Es bleibt also descendenz-
theoretisch nur die zweite Möglichkeit bestehen, dass
die Grossen von den Kleinen abstammen. Das ist nun
in der That nicht nur meine Überzeugung, sondern
wohl die aller Naturforscher, welche sich mit diesem
Problem beschäftigen.
Von allen Beobachtern, die sich eingehend mit den
Pygmäen befasst haben und namentlich von allen, die
sie aus eigener Anschauung kennen, und deren Urteil
darf wohl am meisten Beachtung finden, werden die
Rassenzwerge als Urrassen bezeichnet. Die ganze Er-
scheinung dieser Menschenabart legt stets den Gedanken
an Urrassen sofort nahe, wie aus allen Reiseberichten
einstimmig hervorgeht. Diese Zwergrassen haben in
ihrer Erscheinung etwas „primitives", etwas ursprüng-
liches an sich im Vergleich zu den grossen Rassen.
Der Ausdruck „Urrasse" deutet dabei darauf hin, dass
die Pygmäen die ersten Bewohner des betreffenden Ge-
— 105 —
bietes waren. Das ist überdies eine Auffassung, die
auch in den Überlieferungen der verschiedensten Völker
enthalten ist, seien sie Kultur- oder Naturvölker.
Das Fehlen der Überreste in dem Diluvium fällt
diesen Urteilen gegenüber nicht so sehr ins Gewicht,
wie man glauben möchte. Die Funde werden nicht
ausbleiben. Wenn sie bis jetzt mit den Grossen zu-
sammen in dem Diluvium nicht gefunden wurden, so
rührt dies wohl davon her, dass sich die Grossen von
den Pygmäen getrennt haben, nachdem die Descendenz
vollzogen war. Sie lebten, beide Formen, dann ge-
trennt, in isolierten Horden wie noch jetzt in Central-
afrika, oder auf Ceylon. So lege ich denn weniger Ge-
wicht auf die Thatsache des Fehlens im Diluvium, da-
gegen vielmehr auf das übereinstimmende Urteil kom-
petenter Naturforscher, welche die Rassenzwerge als
Urrassen betrachten, womit sie die Überzeugung aus-
drücken wollen, aus dem Geschlecht der Rassenzwerge
sei das Geschlecht der Grossen und zwar auf dem
Wege des Transformismus hervorgegangen. Diese Auf-
fassung stimmt mit allem überein, was wir von dem
stammesgeschichtlichen Entwicklungsgang wissen. Die
kleinen Formen der Pflanzen und Tiere sind immer den
grossen vorausgegangen. Zuerst erschienen die Kleineu
auf dem Schauplatz, dann erst kamen die Grossen, die
sich aus den Kleinen entwickelten im Laufe der Zeit.
Das Gegenteil stände in offenem Widerspruch mit den
Regeln der Entwicklung. Der aufsteigende Gang schreitet
wie ein ehernes Gesetz fort. Die Forschungen der
Botanik, der Zoologie, der vergleichenden Anatomie und
der Palaeontologie bestätigen dies überall. Die Riesen-
amphibien, die Riesensaurier, die Riesenvögel, die gros-
sen Raubtiere, die grossen Einhufer und die grossen
Wiederkäuer — sie alle sind nicht unvermittelt sofort
— 106 —
als grosse Formen entstanden, sondern haben sich aus
den verwandten, nahestehenden kiemern Arten allmählich
entwickelt. Zu den schon vorhandenen Thatsachen hat
Wortmann neue hinzugefügt (Nr. 98).
Nach all diesen Darlegungen ist es klar, dass nicht
die geringste Veranlassung vorliegt, für den Menschen
einen andern Entwicklungsgang anzunehmen, man muss
vielmehr voraussetzen, dass die grossen Menschenrassen
aus den kleinen, also aus den Pygmäen hervorgegangen
sind, ein Gedankengang, der mit Anschauungen R. Vir-
chow's übereinstimmt und sich wohl mit denen vieler
Naturforscher decken wird, sobald sie sich einmal mit
diesem Problem beschäftigen werden.
Um diesen Gedankengang nicht bloss in Worten,
sondern sozusagen sichtbarlich zu veranschaulichen, be-
diene ich mich des folgenden Schemas, wie es im täg-
lichen Leben stets angewendet wird, sobald es sich
darum handelt, komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse
einer Familie darzustellen. Dieses Schema besteht der
Hauptsache nach aus divergierenden Linien, die von
bestimmten Punkten ausgehen (Fig. 4). Zu diesem Schema
diene die folgende Erläuterung. Durch römisch I, einem
Rechteck, ist die Urhorde des Pygmäengeschlechts ver-
sinnlicht. Sie war klein und bestand aus gleichartigen
unter sich übereinstimmenden Individuen. Die Erfah-
rungen über die geographische Verbreitung der Tierwelt
drängen dahin, für diese Urhorde ein einziges Ursprungs-
centruin anzunehmen. In diesem Centrum vermehrten
sie sich zu einem grossen Urstamm von Pygmäen.
Das kann als die erste Periode (I) in der Entivick-
lung des Menschengeschlechts bezeichnet werden. Wo
sich dieses Centrum befand und wie lange diese erste
Periode dauerte, kann hier nicht erörtert werden. Die
zweite Periode in der Entwicklung des Menschenge-
107
schlechtes begann nach den Regeln der Descendenz da-
mit, dass sich aus der Spezies der Rassenzwerge, das
ist aus der Urhorde drei Unterarten oder Subspezies
Gr.
Gr.
P-
Gr.
•••
\ ÇT)Gr\ 0Gr.
P(p Pf) P
Q
V. Typen.
„ psâ IV. Rassen.
jpGr. III. P=Pyomäen
/ Gr.= Grosse Sub-
H spezies.
II. Subzpezies der
Pygmäen.
WBfflM^ I. Urhorde von
MMwmm Pygmäen.
Fig. 4. Schematische Darstellung der Entwicklung des Menschengeschlechts und
der systematischen Stellung der Pygmäen zu den grossen Rassen.
derselben kleinen Menschen entwickelten, welche sich
durch Haar, Hautfarbe und durch die Form der Hirn-
schädel von einander unterschieden. Nimmt man die
Form der Haare als bezeichnendes Merkmal, so sind
— 108 —
diese drei Subspezies als wellhaarige (cymotriche) ,
als wollhaarige (ulotriche) und als straffhaarige (lisso-
triche) zu unterscheiden. Diese drei Subspezies sind
noch heute am Leben. Zu der wellhaarigen Subspezies
gehören die Weddas und die indischen Pygmäen, zu
der wollhaarigen die afrikanischen Zwergrassen und die
Negritos und zu den straffhaarigen die amerikanischen
Pygmäen.
Diese zweite Periode der Evolution der Pygmäen
ist in dem Schema als ein System divergierender Linien
angedeutet, welche schliesslich in kleinen Kreisen endi-
gen Diese kleinen Kreise sind verschieden, um die
bestehenden Unterschiede innerhalb der drei Subspezies
anzudeuten. Die divergierenden Linien sollen gleich-
zeitig die Thatsache der Wanderung ausdrücken, durch
welche die Rassenzwerge in die verschiedenen Konti-
nente vordrangen.
Die dritte Evolutionsperiode entwickelte eine grosse
und bedeutungsvolle Mannigfaltigkeit des Menschenge-
schlechts dadurch, dass zu den Pygmäen noch die
Grossen hinzukamen. Aus der cymo-, ulo- und lisso-
trichen Subzpezies der Pygmäen entstehen ebensoviele
grosse Subspezies, die in gleicher Weise von einander
verschieden sind, wie die Pygmäen. Zieht man auch
hier, nach dem Vorgange Haeckels, der die Gliederung
des Menschengeschlechts am ausführlichsten behandelt
hat (89), die Haare als unterscheidendes Merkmal heran,
dann sind diese grossen Subspezies am besten ebenfalls
als cymo-, ulo- und lissotriche zu unterscheiden. Dieser
Vorgang stellt die dritte Schöpfungsperiode des Menschen
dar, und ist (siehe Schema römisch III) dadurch ausge-
drückt, dass ein kleiner und ein dazu gehöriger grosser
Kreis dreimal wiederkehrt und dass der grosse als eine
Abzweigung des kleinen erscheint.
— 109 —
Der Vorgang hat sich wie bei den Pflanzen und
Tieren in der Weise abgespielt, dass ein Teil der Pyg-
mäen sich in grosse Rassen innerhalb einiger Genera-
tionen umwandelte und zwar durch Mutation, durch
einen Vorgang, den neuerdings de Vries (01) ausführlich
geschildert hat. Die Anwendung der Erfahrungen über
Mutation für die Naturgeschichte des Menschen ist dann
von mir kurz durchgeführt worden (Ol).
Mit dieser dritten Entwicklungsreihe ist die Urge-
schichte der Menschheit noch nicht abgeschlossen. Aus
den Subspezies entwickelten sich nunmehr erst die gros-
sen und diu kleinen Rassen, die wir nach den Eigen-
schaften des Gesichtes klassifizieren. Damit beginnt
Die vierte Evolutionsperiode des Menschengeschlechts,
diejenige der Rassen. In jedem Rassenkontinent treten
Rassen auf; die wellhaarige Subspezies der Grossen
lässt aus sich wellhaarige Rassen hervorgehen, die woll-
haarige Subspezies wollhaarige Rassen und ebenso die
straffhaarige Subspezies straffhaarige Rassen. Diese
Periode halte ich für ausserordentlich bedeutungsvoll,
weil sich damit charakteristische Verschiedenheiten in
sehr auffallender Weise ausprägen. Die langen Gesichter
und die breiten sind wichtige Entwicklungsstufen, die
in ihrem ganzen Umfang noch nicht gewürdigt worden
sind. In beiden Rassen, den Lepto- und den Chamae-
prosopen, sind scharfe und charakteristische Zeichen
vorhanden, welche durch die Corrélation in einen ganz
bestimmten Zusammenhang gebracht werden. Dazu
kommen die Veränderungen an der Hirnkapsel, wodurch
in jedem Rassen kontinent Langschädel, Kurzschädel und
mittellange oder Mesocephalen entstehen. Die anthro-
pologischen Arbeiten der letzten Jahrzehnte haben zahl-
reiche Beweise für diese Gliederung des Menschenge-
schlechtes gebracht. Die Zeit, in der diese Gliederung
— 110 —
stattfand, lässt sich annähernd skizzieren ; sie fand wohl
um die diluviale Epoche herum ihren vorläufigen Ab-
schluss. doch damit noch nicht ihr Ende. Denn die
Menschheit entwickelt sich somatisch noch weiter inso-
fern in jedem Rassenkontinent noch weitere Differen-
zierungen vorkommen. Sie sind am genauesten in dem
Kontinent der wellhaarigen Rassen und namentlich Eu-
ropas bekannt, wo die blauen, braunen und grauen
Augen, die hellen Haare und die helle Haut u. s. w.
hinzukommen.
Die fünfte Stufe in der Entwicklung der Mensch-
heit ist diejenige, in der wir uns jetzt befinden. Die
Gliederung hat sich vermehrt und es sind wie im Tier-
und Pflanzenreich Formen entstanden, die als Lokalva-
rietäten unterschieden werden können und für die ich
den Namen „Typen" vorschlage. Es finden sich z. B.
in Europa zwei t/rachi/cephale blonde Typen, und ein
brachycephaler brünetter Typus ; dann zwei dolichocé-
phale blonde Typen und ein dolichocephaler brünetter
Typus, also mindestens sechs verschiedene Lokalvarie-
täten oder Typen, die Mesocephalen nicht mitgerechnet.
In miserai Schema ist nicht genug Raum vorhanden,
um die ganze Reichhaltigkeit der Gliederung zum Aus-
druck zu bringen, sie ist also durch die divergierenden
Linien nur angedeutet.
Nach der Ausbildung der obenerwähnten Typen
ist die Reihe der Mutationsperiode für die grossen
Rassen vorläufig als abgeschlossen zu betrachten. Alle
Zeichen deuten darauf hin, dass seit mehr als 10,000
Jahren keine neue Mutationsperiode eingetreten ist.
Nach all dem, was die neolithische und die paläolithische
Periode an Funden menschlicher Knochen geliefert hat,
sind die Rassen und ihre Varietäten bezüglich ihrer
charakteristischen Merkmale persistent d. h. unverändert
— 111 —
geblieben, wahrscheinlich aber seit einer längern Zeit
als oben in Zahlen angegeben wurde.
Das in Figur 4 aufgebaute Schema ist, wie aus der
Deutung desselben hervorgeht, in den Perioden röm.
III — V auf unbestrittene Thatsachen der Anthropologie
hin aufgebaut. Nach all dem, was überdies die Ent-
wicklung der Tierformen gelehrt hat, darf man also an-
nehmen, dass das Schema der Wahrheit in Bezug auf
Gliederung und Differenzierung der grossen Hassen
wenigstens in den Hauptpunkten nahe komme.1)
Die Beziehungen der Pygmäen zu diesen grossen
Rassen und die Stellung der Pygmäen in dem System
ist zwar in dem Schema und in den ersten erklärenden
Sätzen schon hinreichend dargelegt, allein einige zusam-
menhängende Bemerkungen mögen hierüber noch Platz
rinden.
Die Pygmäen sind nach meiner Darstellung die
Stammform des Menschengeschlechtes, dem phylogene-
tischen Gesetz entsprechend, dass die grossen Formen
aus den kleinen durch Descendenz hervorgehen.
Nach den Erfahrungen von de Vries (Ol) treten
die neuen Eigenschaften sofort in einer bedeutenden
Anzahl von Individuen gleichzeitig auf und zwar in un-
gefähr 3 °/o. Denken wir uns eine Horde von 100,000
sprachlosen Quadrumanen, gleichviel welches Namens,
als Vorläufer der Pygmäen, dann würden 3000 dersel-
1) Die oben augewandte Terminologie für die verschiedenen
Gliederungen der Menschheit sei hier übersichtlich aneinanderge-
reiht (vergleiche das Schemai:
1) Spezies = Art, zum erstenmal aufgetreten als Urhorde von
Pygmäen : Römisch I des Schema.
2) Subspezies — Abart, aus der Spezies hervorgegangen. Nr. II.
3) Rassen, aus den Subspezies hervorgegangen. Schema Nr. IV.
4) Varietäten Typen = Lokalvarietäten, aus den Rassen her-
vorgegangen (siehe Schema Nr. Vi.
— 112 —
ben, sobald die Mutationsperiode eintritt, auf einmal in
Pygmäen mit menschlicher, artikulierter Sprache und
einem höhern Gehirnvolumen, mit aufrechtem Gang und
mit geringem Haarwuchs umgewandelt werden. Diese
3000 bildeten die Urhorde, den Urstamm des Menschen-
geschlechtes. Noch gleichartig gebaut und beschaffen,
stellen sie den Ausgangspunkt aller weitern Entwick-
lungsformen des Menschengeschlechts dar. (Siehe Schema
röm. I).
Diese Urhorde begann nun ihre weitere Entwick-
lung. Durch eine Reihe von Mutationen entstanden
Horden mit Wellhaar, Horden mit Wollhaar und Hor-
den mit Straffhaar, die sich trennten, mit Eigenschaften,
die thatsächlich bei den Pygmäen der verschiedenen
Rassenkontinente vorkommen. Dieser Vorgang ist durch
römisch II ausgedrückt.
Aus diesen drei neuen und jetzt durch viele Merk-
male verschiedenen Pygmäenhorden (röm. II) erfolgte
die grosse Thal, die Geburt der grossen Rassen, welche
durch ein grösseres und schwereres Gehirn die Pygmäen
übertreffen und dadurch für den Kampf ums Dasein
und für die Beherrschung der Welt besser ausgerüstet
wurden. Dieses wichtige Ereignis ist in dem Schema
bei röm. III dadurch angedeutet worden, dass neben
jeden der drei kleinen Kreise ein grosser gesetzt wurde,
der überdies mit dem kleinen in Zusammenhang steht
durch eine Linie. Diese Linie ist von grosser Bedeu-
tung, denn sie soll ausdrücken, dass die Grossen durch
Descendeuz von den Pygmäen abstammen.
Nachdem eine weitere Divergenz der Pygmäen, wie
sie aus dem Schema namentlich bei römisch IV ange-
deutet ist, wegen des Mangels bezüglicher Untersuchun-
gen noch nicht hinreichend festgestellt ist, wurde die
Fortpflanzungslinie der Pygmäen gerade in die Höhe
113
gezogen und endigt neben denjenigen Linien, welche die
Varietäten der grossen Hassen andeuten (bei röm. V).
Obwohl die vorhergehenden Ausführungen lediglich
dazu dienen sollten, die Stellung der Pygmäen innerhalb
des Menschengeschlechtes darzulegen, gehen aus dem
Schema, das diese Stellung zum Ausdruck bringt, doch
noch zwei wichtige Umstände hervor: erstens, dass die
Pygmäen ebensogut wie die grossen Rassen Mutations-
perioden durchgemacht haben und zweitens, dass den
Mutationsperioden solche der Konstanz gefolgt sind, in
denen zwar so, wie wir dies jetzt noch beobachten, eine
Menge von sog. Anomalien in den einzelnen Organen
auftraten, aber eine fortschrittliche Umänderung der
Formen dennoch ausgeschlossen blieb.
So folgten den Mutationsperioden, trotz der sog.
Anomalien oder Abnormitäten, wieder Perioden der
Dauerbarkeit, wie sich denn auch jetzt die ganze Mensch-
heit, soweit die Beobachtung aufweist, in einem solchen
Zustande des Gleichgewichtes befindet, so dass man von
den verschiedenen Typen der Jetztzeit (siehe Schema
röm. V) als von Dauertypen sprechen darf.
Aus dem Schema Fig. 4 ist die progressive Ent-
wicklung von einer pygmäenhaften Urhorde zu den Pyg-
mäen und von den Pygmäen zu den hochgewachsenen
Rassen nur in den allgemeinsten Zügen angedeutet.
Spezielle Fälle bleiben zunächst völlig ausser Diskus-
sion, wozu ich z. B. den von /?. Virchow (81) einst
bestrittenen Zusammenhang der Weddas mit den hoch-
gewachsenen Rassen Indiens, besonders den Singhalesen
hervorhebe. Ich führe zunächst seine Worte an, weil
sie gleichzeitig gegen die schon oben als irrig erwiesene
Degenerationshypothese Front machen: „Wie die Wed-
das nicht durch regressive Degeneration aus Singhalesen
hervorgegangen sind, so haben sie sich sicherlich nicht
— 114 —
durch einfache progressive Evolution zu Singhalesen
umgestaltet. Gegen einen solchen einfachen Zusammen-
hang sprechen namentlich die Unterschiede im Gesichts-
bau, welche alle Beobachter gleichmässig bezeugen." Ich
erkenne diesen doppelten Vorbehalt mit Freuden an.
Der erstere gegen die Degenerationshypothese stimmt
völlig mit meiner Erfahrung überein, und was die pro-
gressive Evolution der Pygmäen direkt zu den Singha-
lesen betrifft, so lehne ich eine solche genetische Be-
ziehung ebenfalls ab. Die Singhalesen sind, wie die Ta-
milen, Abkömmlinge hochgewachsener Rassen, aus ihnen
direkt hervorgegangen, also in erster Linie starmnver-
wandt nur mit den hochgewachsenen Rassen Indiens.
Erst in zweiter weit zurückliegender Linie (siehe das
Schema) darf man an eine Abstammung von Pygmäen
denken. Wie sich dieser Vorgang im Einzelnen ge-
staltet haben mag, muss zunächst noch unentschieden
bleiben. Dazu sind noch weitgehende Studien notwen-
dig. Nur soviel darf nach meiner Meinung angesichts
der Verschiedenheit unter den Pygmäenstämmen schon
heute ausgesagt werden, dass die grossen Rassen Euro-
pas, jene Asiens und jene Afrikas von verschiedenen
Pygmäenhorden abstammen, die schon in der Urzeit,
wohl im Tertiär aufgetreten sind. Von diesem weiten
Gesichtspunkt aus muss das Schema Fig. 4 betrachtet
werden. Die divergierenden Linien deuten auf Verschie-
denheiten des Ortes, die nach Kontinenten bemessen
werden müssen, und deuten auf Zeiträume, die nach
Jahrzehntausenden geschätzt werden sollen. Nur so
lässt sich die Thatsache verstehen, dass die Neger neben
sich wollhaarige negerartige Pygmäen besitzen, die cy-
motrichen Inder und Europäer cymotriche und die
lissotrichen Indianer lissotriche Pygmäen umschliessen.
115 —
Fassen wir das Ergebnis der vorliegenden Darle-
gungen zusammen, so ergibt sich folgendes:
1. Neben den grossen Rassen sind in allen Konti-
nenten auch kleine Menschenrassen zu linden, deren
Körperhöhe zwischen 120-150 cm, deren Hirngewicht
zwischen 900 und 1200 ccm. schwankt.
2. Auch der amerikanische Kontinent enthält Pyg-
mäen, wie sie zahlreich in Peru und an anderen Orten
nachgewiesen sind.
3. In Europa mehren sich die Pygmäenfunde; zeit-
lich reichen sie von der neolithischen Periode (Schweiz
etwa 10,000 Jahre v. Chr.) bis in unsere Tage (Sizilien)
herein und örtlich sind sie über Sizilien, die Schweiz,
Frankreich und Deutschland an mehreren Orten zer-
streut gewesen (nach Sergi auch in Russland).
4. Die Pygmäen sind keine verkümmerten degene-
rierten Abkömmlinge der grossen Rassen, sondern ge-
sunde und wohlentwickelte jedoch kleine Abarten des
Menschengeschlechts.
5. Die systematische Stellung zu den grossen Ras-
sen beruht in einer stammesgeschichtlichen Verwandt-
schaft, wobei die Pymäen als Urrassen aufzufassen
sind, aus denen sich die grossen Rassen entwickelt haben.
6. Die Nachrichten der Alten, sowohl der Natur-
forscher als der Dichter, über das Vorkommen von
Pygmäen an den afrikanischen Sümpfen, in denen man
sich den Ursprung des Nil dachte, sind in der Haupt-
sache zutreffend. In den Grabfeldern Oberägyptens,
die aus der Urzeit und der Zeit der ersten Dynastien
stammen, liegen Pygmäen neben den grossen Rassen
bestattet. Die Gräber gehören teilweise der neolithi-
schen Periode an. Zu gleicher Zeit, wie am Schweizers-
bild bei Schaffhausen, lebten auch in Oberägypten Pyg-
mäen zusammen mit den grossen Rassen.
Basel, im Juli 1901.
116 —
Literaturnachweise.
00 Breus u. Kolisko. Die pathologischen Becken formen. I. Bd, 1 Teil.
Leipzig u. Wien 1900. — Siehe dort die ausgedehnte Littera-
tur, auch der Arbeiten von R. Virchow, Marchand, Kaufmann u. a.
43 Forster's, Georg sämtliche Schriften. Vierter Band. Leipzig 1843.
S. 360.
89 Haeckel, E. Natürliche Schöpfungsgeschichte. 8. Auflage. Berlin
1889. 8°.
93 Hseckel. E. Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung
des Menschen. Vortrag. Bonn 1898. 8°.
02 Johnston, Sir H. The Uganda Protectorate. 2 vol. London 1902.
95 Kollmann, J. Verhandlungen der Berliner anthropologischen Ge-
sellschaft. Ausserordentliche Sitzung v. 14. Dez. 1895. Diskus-
sion über den Pithecanthropus erectus Dubois. Siehe dort auch
die Litteratur.
01 Kollmann, J. Die Fingerspitzen aus dem Pfahlbau von Corcelettes
(Schweiz) und die Persistenz der Rassen Archivio per l'An-
tropologia e l'Etnologia. Vol. XXXI 1901. Festschrift zur Ju-
belfeier der italienischen anthropologischen Gesellschaft.
99 Lloyd, A. B. In DwarfLand and Canibal Country. London 1899.
Eine Notiz in Journ. Anthr. Institut. London, Vol. XXX, 1900.
}vr. 280 (22).
01 Maclver, D. R. The earliest inhabitants of Abydos. Oxford 1901.
4°. Mit 7 photographischen Tafeln und mehreren Tabellen.
99 Marchand. Über einen Fall von Zwergwuchs. Sitzb. der Ges. zur
Beförderung der ges. Naturwissenschaften. Marburg, März 1899.
Siehe dort weitere Litteraturhinweise.
96 Pétrie, W. M. F. and Qu i bei I . J. E. Nequada and Ballas. London.
Publications of the Egypt exploration Fund. Mit 86 Tafeln.
Quaritsch 1896. 4".
00 Pétrie, W. M. F. with Griffith, F. L. The Royal Tombs. Publications
of the Egypt exploration Fund. London 1900. 4°. Mit 67 Taf.
01 Pétrie, W. M. F. with Chapters by Mace, A. C. Diospolis parva. Pu-
blications wie oben. London 1901. 4". Mit 48 Tafeln.
01 Pétrie, W. M. F. with Chapter by Griffith, F. L. The Royal Tombs
of the earliest Dynasties. Publications wie oben London 1901.
4". Mit 63 Tafeln.
— 117 —
01 Pétrie, W. M. F. The Royal Tombs of the earliest Dynasties. Lon-
don 1901. 4". Ein Atlas von mehr als 50 Tafeln. Publications
wie oben. Siehe ferner Journal of the Anthropological Institut
London 1898—1902. Ferner Zeitschrift für ägyptische Sprache
Bd. 35 mit Abhandlungen und Notizen von Sethe, Spiegelberg
und Ermann. Die Arbeiten von Amélineau. Les nouvelles fouilles
d'Abydos, waren mir leider nicht zugänglich. Ich kenne sie
nur aus einer Notiz von Maspero. Revue critique 1897.
94 Ranke, J. Der Mensch. 2. Aufl. 2. Bd. S. 114 u. ff. Leipzig
und Wien 1894. 8".
92 Sarasin, P. u. Fr. Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschungen
auf Ceylon. Bd. III. mit Atlas von 84 Tafeln. Wiesbaden
1892-1893.
02 Sokolowsky, A. Menschenkunde. Eine Naturgeschichte sämtlicher
Völkerrassen der Erde. 1902. Mit 41 Tafeln. 3. Aufl. Union
Deutsche Verlagsgesellschaft.
04 Speke, J. H. Journal of the discovery of the source of the Nile.
2. Auflage. London 1864. S. 551.
83 Virchow, Rud. Foetale Rachitis, Cretinismus u, Zwergwuchs. Arch.
für path. Anat. Bd. 94. Berlin 1883. — Dort sind Hinweise
auf die übrigen wichtigen Abhandlungen desselben Verfassers
zu finden, die sich auf diese Frage beziehen.
81 Virchow, R. Über die Weddas von Ceylon u. ihre Beziehungen zu
den Nachbarstämmen. Abhandlungen der Berliner Akademie.
Berlin 1881. 4°. Mit 3 Tafeln.
Reiss u. Stübel. Das Totenfeld von Ancon in Peru. Darin Abt. XIV.
Schädel von R. Virchow. Berlin. Folio. Mit Tafeln. 108-116.
01 De Vries. Die Mutationstheorie, Versuche und Beobachtungen
üb. die Entstehung der Arten im Pflanzenreiche. Leipzig 1901.
98 Wortmann, J. L. The extinct Gamelidae of North-America and some
associated Forms. Bulletin of the American Museum of Natural
History. Vol. X. 1898. 8°. Mit 1 Tafel und 23 Textfiguren.
71 Über Zwergvölker. Petermanns Mitteilungen. 17. Band. Gotha
1871. S. 1S9.
Marine Schmarotzer in Süsswasserfischen.
Von
F. Zschokke in Basel.
Die Zusammensetzung der Parasitenfauna eines
Tiers wird durch zwei Gruppen von Faktoren geregelt,
Verhältnisse der umgebenden Aussenwelt und Bedin-
gungen, die im bewohnten Wirt und im Parasiten selbst
liegen. Von den äusseren Momenten wirkt besonders
entscheidend auf den Schmarotzerbestand eines Organis-
mus der Charakter der mit ihm lebenden Tier- und
Pflanzenwelt. Zu ihr tritt der Parasitenträger in un-
unterbrochene, enge Wechselbeziehungen, von denen
sich die parasitologisch wichtigsten, wenn auch nicht
einzigen, in der gegenseitigen Lieferung und Abnahme
von Nahrungsmaterial ausdrücken. Tier und Pflanze
übertragen Schmarotzer auf Wirte und empfangen von
ihnen selbst wieder auf mannigfach gewählten Wegen
Parasitenbevölkerung. Die Wechselbeziehung von AVirt
und Zwischenwirt, Träger und Überträger, Räuber und
Beute prägt sich notwendigerweise im faunistischen Auf-
bau der Helmin thenwelt jedes Lebewesens aus.
Charakter von Fauna und Flora hängt indessen in
hohem Grade von äusseren lokalen Verhältnissen, von
der Natur des bewohnten Mediums, seinen physikalischen
und chemischen Eigenschaften ab. Mit ihnen wechselt
von Ort zu Ort die Tier- und Pflanzenwelt und gleich-
— 119 —
zeitig die sie begleitende Schmarotzergesellschaft. Wie
jedes Medium nur bestimmten Organismengruppen pas-
sende Heimat bietet, beherbergt auch seine Tierbe-
völkerung nur bestimmte, anderswo kaum vorkommende
Helminthen. Die chemischen und physikalischen Be-
dingungen des Mediums üben so durch Ausschluss und
Zulassung von Wirten und Zwischenwirten indirekt
einen tiefen, auswählenden Einfluss auf den Stand der
Schmarotzerfauna aus. Dieselben äusseren Verhältnisse
beeinflussen die Parasitenwelt aber auch direkt in allen
jenen so äusserst zahlreichen Fällen, in denen die Hel-
minthen gewisse Entwicklungsstadien, Eier, Embryonen,
Larven dem freien Medium anvertrauen. Von der
Aussenwelt werden nunmehr unmittelbar bestimmte
chemische und physikalische Bedingungen gefordert,
unter denen allein die betreffende Helminthenspezies
sich entwickeln kann und die sich oft weitgehend spezia-
lisieren. So wurde früher gezeigt, dass Reichtum und
Zusammensetzung der Helininthenfauna im stehenden
und Messenden Süsswasser nicht unbeträchtlich von
einander abweicht. Die Differenz erklärt sich zum
guten Teil dadurch, dass im ruhenden Wasser die Jugend-
stadien mancher parasitischen Würmer sich frei zu ent-
wickeln vermögen, während sie im Fluss oder Strom
nicht gedeihen (63).
Es wird somit jede Parasitenfauna gewissermassen
zum Spiegelbild der Biologie des Wirts, seiner Lebens-
gewohnheiten und besonders seiner Beziehungen zu den
Geschöpfen, die mit ihm den Wohnort teilen. Jeder
Nahrungs- und Wohnungswechsel eines Tiers findet
seinen Wiederhall in Veränderungen im Helminthenbe-
stand. Die Parasitenbevölkerung steht aber auch unter
dem direkten und indirekten Einfluss von Physik und
Chemie der umgebenden Aussenwelt.
— 120 —
Folgt so der Charakter parasitischer Gesellschaften
äusserem Drucke, so wird er nicht minder durch innere,
im Wirt und Parasiten selbst liegende Verhältnisse be-
stimmt. Jeder Schmarotzer passt sich im Bau und in
der Lebensgeschichte bis zu einem gewissen Grade
seiner Herberge, ihren anatomischen und physiologischen
Bedingungen an und spezialisiert sich in Bezug auf
dieselben. Er findet die zu seinem Gedeihen nötigen
Voraussetzungen nur in einem, oder relativ wenigen
Wirtskörpern realisiert.
Allerdings schwankt der Grad der Anpassungs-
fähigkeit an verschieden gebaute Wirte in weiten Grenzen.
Braun (3) erwähnt, dass oft nahe verwandte Tier-
arten von gleicher Ernährungs- und Lebensweise eine
recht verschiedene Cestodenbevölkerung beherbergen.
Phalaerocorax graculus und Lestris parasitica z. B.,
beides grosse Eischräuber, besitzen keine Bandwürmer,
trotzdem sie derselben Beute nachgehen, wie die nahe-
stehenden, an jenen Gästen reichen Lärm- und Sterna-
Arten. Dieser parasitologische Unterschied dürfte auf
einer Verschiedenheit der Verdauungssekrete von Phafa-
crocorax und Lestris gegenüber Larus und Sterna be-
ruhen. Im einen Fall würden die eingeführten Band-
wurmlarven der Verdauung erliegen, im anderen nicht.
Der physiologischen Differenz entspricht natürlich auch
eine anatomische.
In anderen Fällen dagegen dehnt ein Parasit sein
fannistisches Verbreitungsgebiet über Wirte sehr ver-
schiedener systematischer Stellung, d. h. sehr abweichen-
den Baus aus. So bewohnt, um nur extreme Vor-
kommnisse zu nennen, das für Süsswasserfische typische
Cestodengenus Iclithyotaenia auch Amphibien und Rep-
tilien, besonders Schlangen, und gedeiht der Bandwurm
von Gans und Ente, Drepanidotaenia lanceolata, auch
im Menschen (63).
121
In Echinorhynchus proleas kennen wir einen Para-
siten, der bereits seine Zwischenwirte aus sehr weitem
Kreise wählt und erwachsen die verschiedensten Fische
von Meer und Süsswasser besiedelt. Die Anoplocepha-
linen der Säuger kehren, nach Fuhrmann (6), in den
Vögeln wieder.
Wie sehr übrigens die vom Wirt selbst gegebenen
Bedingungen auf die Zusammensetzung einer Parasiten-
fauna entscheidend einwirken, wird uns bald der Süss-
wasserfisch Lola vulgaris zeigen. Er beherbergt eine
Reihe rein mariner, hauptsächlich den Gadiden zukom-
mender Helminthen. Trotzdem Stockfische und Trüschen
in einem ganz verschiedenen Medium. Meer und Süss-
wasser, sich aufhalten, trotzdem für sie die äusseren
Bedingungen wesentlich verschiedene sind und ihre
Lebensweise und Nahrung von einander abweicht, be-
sitzen sie doch einen gemeinsamen Bestand durchaus
typischer Helminthen. Die nahe systematische Verwandt-
schaft, der ähnliche anatomische Bau von Lola und
Gadus drückt sich in entsprechenden, parasitologischen
Verhältnissen aus.
Zwei Gruppen von Faktoren, äussere und innere,
legen somit Grenzen für die Schmarotzerfauna biologischer
und anatomischer Organismeneinheiten. Je ähnlicher
im allgemeinen in Bau und Lebensgewohnheit die Wirte
werden, desto ähnlicher wird auch ihre Schmarotzerwelt,
desto häufiger treten ihnen gemeinsame Parasiten auf.
Es kann nicht auffallen, dass der Parasitenbestand
der Vögel von demjenigen der Fische, die Helminthen-
welt der Säugetiere von derjenigen der Reptilien wesent-
lich abweicht.
Sogar innerhalb der grösseren, systematischen Ein-
heiten verbreiten sich gewisse parasitische Organismen
nur über bestimmte durch gemeinsame Lebensweise und
122
ähnlichen Bau umgrenzte Wirtsgruppen. So lassen sich
die schmarotzenden Würmer der Süsswasserfische im
allgemeinen denjenigen der Meerfische entgegenstellen.
Im Meer beherbergt wiederum Selacbier und Teleosteer
eine in mancher Hinsiebt verschiedene Würmerbevölke-
rung. Bei einer parasitologischen Untersuchung von
257 marinen Fischen, die sich auf 72 Arten, 20 Selacbier,
51 Teleosteer und 1 Ganoiden, verteilten, ergab sich
ein bedeutend überwiegender Reichtum an Schmarotzern
für Haifische und Rochen ; besonders gehörten die Cesto-
den last ausschliesslich den Knorpelfischen an. Im
Ganzen waren 18 Selacbier und 34 Teleosteer Para-
sitenträger; für sie gelten folgende Einzelzahlen:
Für jede Gruppe charakteristisch :
Infizierte Fischarten.
den.
atoclcn.
c
tu
rs
©
hoce-
en.
Total,
o
E
cd
= c«
(0
CS J=
e
s
o o.
o
h-
z
<
20 Selacbierarten
27
4
3
0
34
51 Teleosteerarten
6
12
17
1
36
Von 96 Exemplaren der Selacbier waren 14, von
160 Teleosteern 60 parasitenfrei. Die Selacbier er-
wiesen sich von einer relativ viel grösseren Arten- und
Individuenzahl von Schmarotzern besetzt, als die Tele-
osteer. Sehr wenige Formen infizieren gleichzeitig beide
Fischgruppen (58).
Zu ähnlichen Resultaten gelangte Lönnberg (24).
Die biologisch und anatomisch verschieden gestellten
Fischfamilien des Süsswassers, wie Cypriniden, Salmo-
niden, Barsche, Hechte, werden von durchaus typischen
Helminthen bewohnt. Oft charakterisieren die Schma-
123 —
rotzer sogar Genus und Spezies des Wirts. Aus dem
Reichtum und der Zusammensetzung der Parasitenfauna
eines Süsswasserfisches lässt sich erkennen, ob der be-
treffende Helminthenträger herbivor oder carnivor ist;
der Schmarotzerbestand verrät das Alter des Wirts, er
lässt mit einer gewissen Sicherheit Schlüsse zu, über
die Natur seines Standorts, Strom, Bach oder See und
über die Jahreszeit, in welcher er gefangen wurde.
Im allgemeinen wird aber die Verbreitung der para-
sitischen Spezies, wie des einzelnen Individuums, im
süssen Wasser wieder durch die beiden Faktorengruppen
der Aussenwelt und der Innenwelt bedingt.
Gegenwart und Abwesenheit passender Wirte und
Zwischenwirte, sowie Lebensgeschichte und Organisation
des Schmarotzers selbst und des Wirts sprechen ihr
entscheidendes Wort mit. Die Notwendigkeit Eier oder
freie Jugendstadien dem Wasser anzuvertrauen, bedeutet
für manchen Helminthen Einschränkung seines Ver-
breitungsbezirks.
Dass innerhalb der Klasse der Fische gewisse para-
sitische Würmer ihr durch Lebensweise und Bau der
Wirte begrenztes Verbreitungsgebiet wenigstens schein-
bar überschreiten können, fand bereits kurze Erwäh-
nung. Einige Fälle auffälligen Vorkommens von Schma-
rotzern in fremden Wirten und ungewohnten Medien
sollen auch in den folgenden Zeilen erwähnt und fau-
nistisch- biologisch gewürdigt werden.
Der einschneidende Gegensatz in den Lebensbe-
dingungen von Meer und Süsswasser, die Verschieden-
artigkeit der die beiden flüssigen Medien belebenden
Fauna, der abweichende Bau und die verschiedene
Lebensweise potamophiler und mariner Fische lässt
tiefgehende Unterschiede in der ichthyophilen Parasiten-
fauna beider Bezirke mit Recht erwarten.
124
In der Fischparasitenfauna des Süsswassers treten,
um nur die markantesten Erscheinungen zu nennen,
durchaus typisch und dominierend die Cestodengenera
Tchthyotaenia, Cyathocephalus, Caryophyllaeus, Corallo-
bothrium, Triaenophorus hervor-, in den Salmoniden lebt
Abothrium infündibuliforme, in den Karpfen regelmässig
die Larve von Ligula, in den Stichlingen diejenige von
Schistocephalus ; der breite Bandwurm des Menschen,
Dibolhriocephalus latus, benützt ebenfalls Süsswasser-
fische als Zwischenträger. Die Trematoden liefern, neben
zahlreichen charakteristischen Distomeen, wie Distomum
globiporum und D. isoporum für die Cypriniden, die
Kiemenschmarotzer Dipbzoon und Gyrodaetylus, die
Nematoden stellen Cncullanus und viele Ascariden, die
Acanthocephalen mehrere Echinorhynchen. Letztere sind
wieder besonders häufig in der rein potamophilen Gruppe
karpfenartiger Fische.
Dagegen umfasst die Schmarotzerfauna mariner
Fische, abgesehen von charakteristischen Acanthocephalen
und Nematoden, eine Fülle nur ihr eigener ektopara-
sitischer Trematoden. Auch die Distomeen finden reiche
Vertretung. Ganz besonders bestimmend und faunistisch
umschreibend aber stellen sich die Cestoden ein. Ihre
Repräsentanten im Meer sind viele typische Bothrio-
cephaliden ; die grosse Majorität der Ordnung der
Tetraphylliden mit den umfangreichen Familien der
Onchobothriiden , Phyllobothriiden und Lecanicephaliden.
Sie alle fehlen im Süsswasser vollkommen. Dasselbe
gilt von der Ordnung der Diphyllideen und Trypano-
rhynchen.
Die letzteren spielen in der Parasitenwelt der
marinen Fische durch weite Verbreitung, massenhaftes
Auftreten und weitgehende Spezialisierung des Haft-
apparats eine überaus wichtige Rolle. Ihr Scolex
— 125 —
zerfällt in Kopf- und Kopfstiel und trägt neben zwei
oder vier ßothridien, vier mit Hacken stark bewehrte,
rückziehbare Rüssel.
Im Larvenzustand leben die Trypanorhynchen als
„Tetrarhynchlts" eingekapselt in sehr verschiedenen
marinen Tieren. Bevorzugt werden die Knochenfische,
doch sind die Parasiten auch in Cephalopoden nicht
selten. Sie finden sich ferner in dekapoden Krebsen,
in Meerschildkröten und sogar in Polychaeten. Auch
die Selachier beherbergen hin und wieder Larven von
Trypanorhynchen, doch scheint es sich in diesen Fällen
um verirrte, auf den unrichtigen Zwischenwirt geratene
Exemplare zu handeln. Manche Tetrarhynchen be-
wohnen gleichzeitig die verschiedensten Fische; F. bi-
sulcatus Linton parasitiert sogar gleichzeitig in Teleo-
steern und Cephalopoden. Oft erweist sich derselbe
Fisch von mehreren — bis 6 - - Tetrarhynchen - Arten
besetzt. Die angedeuteten Verhältnisse mögen durch
einige Zahlen näher beleuchtet werden.
v. Linstow's Compendium nennt als Herberge
von Tetrarhynchen in der Larvengestalt 82 Knochen-
fische, 14 Selachier, 5 Cephalopoden, eine Schildkröte,
die Schnecke Tethys fimbriata und den Polychaeten
Aphrodite aculeata. In dem letztgenannten Tier er-
wähnt bereits Redi den Schmarotzer im Jahr 1684.
Nach der grossen Arbeit Vaullegeards (56)
verteilen sich 59 Spezies von Tetrar hynchus auf 53
Teleosteer, 15 Selachier, 2 Cephalopoden, Chelonia mi-
das und Aphrodite. Ausserdem entdeckte V a u 11 e g e a r d
den meistens in MustelllS vulgaris zur Strobila an-
wachsenden Tetrarhynchus ruficollis Eisenhardt in der
Leber und Leibeshöhle von 9 kurzschwänzigen Deka-
poden (55). Die Neapler Fische lieferten mir 11 Wirte
— ausschliesslich Selachier — und 12 Zwischenwirte
von Tetrarhynchen (58).
— 126 —
Im reiten Strobilazustand bevölkern die Trypano-
rhynchen massenhaft den Darm der Plagiostomen, viel
seltener und wahrscheinlich wieder nur verirrt, denjenigen
der Teleosteer.
Vaullegeard nennt als Hauptwirte 32 Rochen
und Haifische neben nur 2 Knochenfischen, v. L i n s t o w
33 Selachier, 5 Teleosteer und den Cephalopoden Loligo
vulgaris (11, 12). Raja elavata allein besitzt unter
seinen Parasiten acht Arten von Trypanorhynchen als
Strobilae. Im Kettenzustand sind die Würmer auf eine
Reihe von Gattungen — Rhynchobothrium, Dibothrio-
rhynckus, Telrarhunchobotlirium, Synbothrium etc. —
verteilt worden.
Die Wichtigkeit der Trypanorhynchen für die marine
Parasitologie hat sich aus den angeführten Daten so-
fort ergeben.
Im süssen Wasser werden diese Schmarotzer be-
deutungslos. Sie gelangen etwa in die Ströme durch
den Transport in Wanderfischen. Erst in neuester
Zeit aber konnte ich ihr freilich überaus seltenes Vor-
kommen in reinen Süsswasserfischen feststellen. Es
handelt sich dabei in allen Fällen, bei wanderndem und
stationärem Fisch des Süsswassers, um eingekapselte
Larven, also Tetrarhynchen. Reife Strobilae, Rhyncho-
bothrien, sind im Strom und See bis heute unbekannt
geblieben.
Van Beneden (54) führt zuerst die Trüsche,
Lota vulgaris, unter den Wirten von Tetrarlnjuchus an.
In demselben Fisch aus dem Genfersee traf ich später
ebenfalls Tetrarhynchencysten ; als weiteren Wirt von
Tetrar II y nchus kann ich den rein potamophilen Wels,
Silurus glanis, des Bielersees nennen. Die Fälle vom
Vorkommen der betreffenden Parasiten in Süsswasser-
fischen sollen weiter unten eingehende Würdigung finden.
— 127 —
Unter den Wanderfischen , die zwischen Meer
und Süsswasser regelmässig wechseln, bieten besonders
Lachs und Aal mehreren Arten von Tetrarhynchen
Herberge.
Lässt sich somit die Parasitenwelt mariner und
potamophiler Fische durch eine faunistische Schranke
ziemlich scharf von einander trennen, so fehlt es doch
nicht an Wirten, welche die Elemente beider Helminthen-
faunen in ihrem Körper vereinigen. Als solche para-
sitologische Bindeglieder zwischen Meer und Süsswasser
dokumentieren sich die Wanderfische. Sie schleppen
marine Parasiten in Fluss und See und tragen Schma-
rotzer der Süsswasserfische in das Meer hinaus.
Stör, Maifisch und Finte besitzen in ihrem Hel-
mintheninventar deutliche marine Beimengungen. Im
Aal mischen sich parasitische Würmer aus dem Meer
und dem Süsswasser mit Elementen, die nur dem Wander-
fisch angehören. Von seinen 48 Helminthen verbreiten
sich 17 ganz oder vorzugsweise in meerbewohnenden
Fischen. Allerdings wechselt der Charakter des Para-
sitenbestands je nach dem momentanen Aufenthaltsort
des Fischs. So fand Lin ton (20) im Meer erbeutete
Exemplare von Anguilla hauptsächlich mit marinen Para-
siten besetzt. Sie beherbergten folgende für Meerfische
typische Schmarotzer: Agamonema capsiilaria, Ecliino-
rhynchus agilis, Rhynchobothriwm heterospine, R. im-
parispine, R. bulbifer, R. spec, Scolex polyrnorphus,
Distornum grand iporum und D. vitellosum. Mitten in
dieser marinen Gesellschaft aber erscheint ein Ver-
treter des für Süsswasserfische so ungemein bezeichnen-
den Genus Ichthyotaenia, 1. dilntata, und Eclüno-
rhynchus globulosus, der im Süsswasser 24, im Meer
keinen einzigen Wirt zählt. Beide Würmer stellen sich
offenbar als sekundärer Import in das Salzwasser dar.
— 128
Parasitologisch ganz besonders lehrreich verhält sich,
nach früheren, ausführlichen Darstellungen (59, 60), der
grosse und kräftige Raub- und Wanderfisch Salmo salar.
In der lokal und temporal sich verändernden Zusam-
mensetzung seiner Parasitenfauna spiegelt sich nicht
nur die Gewohnheit weiter Wanderungen wieder, sie
spricht auch deutlich für den Umstand, dass der Lachs
in den verschiedenen Strömen ein recht verschiedenes
Nahrungsregime befolgt. Mit Schmarotzern reich be-
laden tritt Salmo salar seine Reise in das süsse Wasser
an. Er verliert im Laufe seiner Wanderung mehr
und mehr diejenigen Parasiten, welche den offenen
Darmkanal unterhalb des Pylorus bewohnen. Immer-
hin hat der Rheinlachs auch bei Basel noch als eine
ungemein reiche Helminthenherberge zu gelten. Er
und der Maifisch, die grossen Wanderer, führen eine
ganz fremde Schmarotzerwelt in den Rhein ; von ihren
20 Helminthen sind den Fischen des genannten Stroms
sonst 17 fremd. Die im fliessenden Wasser aus schon
angedeuteten Gründen wenig reich entfaltete Fauna
parasitischer Würmer erfährt im Oberlauf des Rheins
durch das Eintreffen von Alosa und Salmo eine Stei-
gerung von 2/5 der Spezieszahl.
Die faunistische Wichtigkeit dieses Helminthen-
imports wird ganz besonders dadurch erhöht, dass der
Rheinlachs eine ausschliesslich marine Parasitenwelt
trägt. Der Charakter seiner gesamten Wurmbevöl-
kerung deckt sich mit demjenigen der Helminthenge-
sellschaft irgend eines grösseren Meerfisches. Marine
Vertreter der Gattungen Ascaris, Echinorhynchus und
Distomutn, daneben besonders aber auch zahlreiche
Tetrarhynchen , drücken der Rheinlachsfauna durch
massenhaftes und weitverbreitetes Auftreten den charak-
teristischen Stempel auf; reine Süsswasserparasiten fehlen
129
ihr ganz. So erhält die Schmarotzergesellschaft der
Rheinfische überhaupt einen eigentümlichen Anstrich.
In diesen parasitologischen Verhältnissen spricht sich
die biologische Thatsache aus. dass der im Rhein auf-
steigende Lachs fastet. Mit dem Wegfall der Nahrung
schliesst sich im Süsswasser auch die Invasionspforte
für parasitische Würmer.
Ahnlich wie im Rhein lebt der Lachs in der Elbe;
er nimmt, nach F ritsch (5), auch in diesem Strom
bis zur Laichablage absolut keine Nahrung auf. Dem
entspricht wieder der rein marine Charakter der Para-
sitenbevölkerung des Elbelachs. Häufig tritt Tetra-
rhynchus macrobothrius v. Sieb, auf, daneben erscheint
die für Meerfische so charakteristische Cestodenlarve
Scolex polyworphus.
Anders dagegen verhalten sich die aus der Ostsee
in die Flüsse aufsteigenden Lachse. Sie ernähren sich
im Süsswasser reichlich und fügen so zu ihren marinen
Parasiten potamophile Formen. In der Ostsee bleiben
dem Lachs wenigstens diejenigen auf der Reise in das
süsse Wasser erworbenen Schmarotzer, die geschlossene
Organe bewohnen. Verhält sich also der Rheinlachs
in Bezug auf seine Schmarotzer wie ein Meerfisch, so
beherbergt dagegen der Lachs aus der Ostsee eine aus
marinen und potamophilen Elementen gemischte Hel-
minthengesellschaft.
Im Tay überwiegt in der Parasitenfauna von Salmo
salar an Menge und Häufigkeit der marine Bestandteil ;
doch weist die Gegenwart einiger Gäste von Süss-
wasserfischen darauf hin. dass der Lachs im schottischen
Fluss die Nahrung nicht ganz verschmäht.
Die Wanderfische erscheinen uns somit als fau-
nistische Vermittler zwischen Meer und Süsswasser. Sie
tragen typische Parasiten von dem einen Medium in
lJ
— 130 —
das andere und sorgen besonders dafür, dass im flies-
senden Wasser, Strom und Fluss, dessen Bedingungen
nur eine massige Entfaltung der Helminthenwelt ge-
statten, die parasitischen Würmer reichere Vertretung
rinden.
Im neuen Medium, Meer oder Süsswasser. wird
der eine oder andere durch die Wanderer importierte
Schmarotzer günstige Entwicklungsbedingungen und be-
sonders die nötigen neuen Wirte und Zwischenwirte
finden. Das führt zu einer dauernden Bereicherung der
marinen und potamophilen Fauna. Die Parasitenwelt
von Meer und Süsswasser erweitert ihr Gebiet, indem
sie sich gleichzeitig vermischt und durchdringt
Für diese Vermischung wurden in früheren Arbeiten
(59, 60, 62) zahlreiche Beispiele angeführt. Reine Meer-
parasiten, wie Ascaris clavata, Echiitorhynchus actis,
Dislomwm varicum, D. appendimdatiim , schmarotzen
auch in einzelnen Süsswasserfischen, während Echiuo-
rhynchus pmteus, E. angustaius, E. tuberosus, Triaeno-
pliorus nodulosus u. a. m. sekundär im Meer passende
Herberge finden. Besonders auffallend ist die Angabe
Rudolphis, dass der rein marine Schmarotzer Scolex
polymorphes auch im Süsswasserfisch Cottus gobio
vorkomme. Denselben Cestoden fand Frit seh, be-
gleitet von Distomum varicum und Ascaris clavata, im
Darm von jungen Lachsen, welche den Oberlauf der
Elbe noch nie verlassen hatten. Es setzen diese Funde
voraus, dass auch die ausgewachsene Kettenform von
Scolex polymorphus, das in Selachiern parasitierende
Galliobothrium , gelegentlich in die Flüsse verschleppt
werde.
Über das gegenseitige Verhältnis der Parasiten-
fauna mariner und potamophiler Fische mag auch die
folgende Betrachtung der Helminthen von zwei reinen
— 131 —
Süsswassertieren, Trüsche und AVels, Lotet vulgaris und
Silurus glanis, aufklären. Von ihnen zählt Lota noch
nahe Verwandte, die Gadiden, im Meer, während Silur n
auf stehende und seichte Süsswasser beschränkt ist ohne
mit Meerfischen in verwandtschaftlichen Beziehungen
zu stehen. Der engere oder weitere Zusammenhang
mit marinen Angehörigen drückt sich auch in der fau-
nistischen Zusammensetzung der Parasitenwelt beider
in Betracht fallenden Fische aus. Daneben wird sich
ergeben, dass das Vorkommen von Meerschmarotzern
im Süsswasser nicht allein auf die Einschleppung durch
die grossen Wanderer erklärt werden kann. Die Gegen-
wart dieser fremden Elemente in den Fischen von
»See und Fluss scheint, wenigstens in manchen Fällen,
auf alte, direkte Einfuhr zurückzuführen zu sein, die
sich vollzog, als der Wirt selbst aus dem Meer all-
mählich in das süsse Wasser überging.
Zur Aufstellung des parasitologischen Inventars von
Lota und Silurus diente, in Ergänzung des von L i n-
stow'schen Compendiums der Helminthologie und des
Nachtrags dazu (11, 12), die umfangreiche neuere Litte-
ratur über Fischparasiten, besonders die Arbeiten von :
Ariola (1), Braun (2), Hausmann (7), Jaquet
(8), Kr a einer (9), Largaiolli (10), v. Lin stow
(13—15), Linton (16—20), Lönnberg (21—24),
Matz (25), Monticelli (26—28), Müh lin g (29), C.
Parona (80, 31), Piesbergen (32). Pratt (35),
Prenant (36), v. Ratz (37), Riggenbach (38), G.
Schneider (39), Srarnek (40), Stiles (41),
S tos sich (42 — 53) und Zschokke (57—63). Für
Lota vulgaris Hess sich so die folgende, stattliche Para-
sitenliste gewinnen.
— 132 —
Parasitische Würmer von Lota vulgaris.
Name.
Zahl der Wirte.
Süsswasser-
Heer-
Wander-
Total.
Fische.
Fische.
Fische.
Nematodes.
1.
Ascaris mucronata
Schrank,
4
0
0
4
2.
Ascaris tenuissima Rud.,
1
1
0
2
3.
lotae Linst.,
1
0
0
1
4.
— acus Bloch,
10
9
3
15
5.
— capsularia Rud ,
2
55
3
60
6.
Cucullanus elegaus Zeel.,
13
0
5
18
7.
Trichosoma brevispi-
culum Linst.,
2
0
0
2
8.
Agamouema bicolor
Dies, ....
4
0
1
5
Acanthoce-
9.
Echinorhynchus globu-
phala.
losus Rud.,
24
0
1
25
10.
— tuiierosus Zed., .
9
2
1
12
11.
— angustatus Rud.,
20
8
2
30
12.
— proteusWestrumb,
37
19
8
64
13.
— acus Rud.,
3
37
0
40
14.
— borealis Linst., .
1
0
0
1
15.
— clavaeeeps Zed.,
17
0
2
19
16.
spec. Zschokke, .
1
0
Ö
1
Trematodes
.17,
Distomum tereticolle
Rud., . . .
10
0
3
13
18.
— simplex Olss. . .
1
10
1
12
19.
Apoblema appendicula-
tum Rud.,
5
60
8
73
20.
(iasterostomum fimbria-
tum v. Sieb., .
8
0
1
9
21.
Diplostomum volvens v.
Nordm.,
8
0
0
8
22.
Dipluzoon paradoxum v.
Nordm.,
14
0
0
14
Cestodes.
23.
Abothrium rugosum Rud.,
1
11
1
13
24.
— iniundibuliforme
Rud., ....
12
1
5
18
25.
Dibothriocephalus latus L.,
7
0
1
8
26.
Triaenophorus nodulosus
Rud
IG
3
3
22
27.
( yathoeephalus trunca-
tus Pallas,
9
0
2
11
28.
Ichthyotaenia ocellata
Rud., . . .
12
1
0
13
29.
— torulosa Ratsch, .
15
0
0
15
30.
Tetrarhynchus erinaceus
van Ben., (Larva).
1
19
1
21
31.
Cysticercus fallax Olss.,
1
0
0
1
138
Lola vulgaris bietet somit einer grossen Zahl para-
sitischer Würmer Herberge; aus ihren verschiedenen
Organen sind acht Nematoden, acht Acanthocephalen,
sechs Trematoden und neun Cestoden bekannt geworden.
Die faunistische Zusammensetzung der Schmarotzer-
welt des Fischs, der im süssen Wasser allein eine grosse
Gruppe rein mariner Verwandter vertritt, verdient in
einiger Hinsicht nähere Beachtung. Die Helminthen-
fauna besteht aus recht verschiedenen Elementen. Eine
erste Gruppe bilden die parasitischen Würmer, welche
bis heute einzig in Lola gefunden worden sind, die also
einstweilen als typische Gäste der Trüsche betrachtet
werden können. Ihre Zahl ist gering; ausser Ascaris
lolae Linst, gehören hieher nur zwei Kratzer, Echino-
rhgnchus borealis Linst, und eine nicht näher benannte
Art derselben Gattung, sowie die Cestodenlarve Cysti-
cercus fallax.
An Artenzahl tritt weit bedeutungsvoller das zweite
Element hervor, Parasiten, die ganz oder fast ganz auf
Wirte aus dem süssen Wasser beschränkt bleiben. Sie
stempeln Lola auch parasitologisch zum reinen Süss-
wasserbewohner. Einige schmarotzen auch in Wander-
fischen, nur wenige suchen in durchaus vereinzelten
Fällen marine Wirte auf.
Als ausschliessliche Süsswassertiere müssen unter
den Vertretern der zweiten Gruppe Ascaris mucronata,
Trichosoma brevispiculum, Diplostomum volvens, Diplo-
zoon paradoxum und Iclrfliyotamia torulosa betrachtet
werden ; ebenso rein potamophilen Charakter besitzen
aber auch die Würmer, welche ihren Wohnbezirk auf
Wanderfische wie Lachs, Stint, Schnäpel, Aal ausge-
dehnt haben. Es sind dies Cucullanus elegans, Aga-
monema bicolor, Ecliinorhynchus globulosus, E. clavac-
ceps, Distomum lereticolle, Gasterostomum fimbriatum,
134 —
Cyathocephalus truncatus und der breite Bandwurm.
Dibothriocepheihis latus, im Larvenzustand. Endlich
zählen zur zweiten Abteilung zwei sehr charakteristische
Schmarotzer zahlreicher Süsswasserfische, von denen jeder
einmal in einem marinen Wirt angetroffen wurde: Abo-
thrium infundibuliforme in Motella muslela und Jch-
thyotaenia ocellata in Sebastes norvégiens. Die zweite
Kategorie von Schmarotzern aus Lota umfasst eine
Grosszahl von Formen, die durch weite Verbreitung in
zahlreichen Wirten und oft durch massenhaftes Auf-
treten die Parasitenfauna der Süsswasserfische gerade-
zu charakterisieren. Es genüge in dieser Hinsicht
folgende Namen zu nennen: Cucullanus elegans, Echino-
rhyiiehvs globulosus, E. claceieceps, Distomum tereticolle,
Gasterostomwm fimbriatum, Diplozoon paraeloxum, Di-
plostomum volvens, lehthyotaenia torulosa,!. ocellata, Abo-
thrium infundibuliforme und Cyathocephalus truncatus.
Erwähnenswert ist auch die Thatsache, dass in der
Trüsche die parasitischen Würmer der verschiedensten
Familien von Süsswasserfischen zusammentreffen. Die
Cypriniden senden in den Darmkanal von Lota ihre
typischen Gäste Echinorhynchus glohulosus, E. clavaeceps
und lehthyotaenia torulosa, auf die Kiemen Diplozoon
paradoxum \ die Salmoniden liefern Cyathocephalus trun-
catus und das für ihre Abteilung so charakteristische
Abothrium infundibuliforme >■ ; dazu gesellt sich Aga-
moneiua bicolor aus den Barschen und Distomum tere-
ticolle des Hechtes. Die Parasitenfauna von Lota um-
fasst so die wichtigsten Elemente der in Süsswasser-
fischen überhaupt lebenden Schmarotzerwelt.
Als dritter Bestandteil der in Lota parasitierenden
Tiergesellschaft könnten Würmer betrachtet werden, die
bei weiter Verbreitung in Wirten des Süsswassers gleich-
zeitig in mehreren Meerfischen zu Hause sind. Zu dieser
— 135 —
Kategorie wären zu rechnen: Ascaris temässima, A. acus,
Echinorhynckus angustatus, E. proteus, E. tuber onus
und Triaenophorus nodulosus. Alle genannten Formen
machen faunistisch den Eindruck reiner Süsswassertiere,
denen es gelungen ist, ihren Wirtskreis allmählich in
mariner Richtung auszudehnen. Dabei spielten wohl
die Wanderfische , in denen die fraglichen Parasiten
ebenfalls nicht selten sind, eine vermittelnde Rolle-
Eine Ausnahmestellung nimmt Ascaris temässima ein.
Sie bewohnt einzig Lota und ihren marinen Verwandten
Merlangus vulgaris. So dürfte es schwer sein zu ent-
scheiden, ob die ursprüngliche Heimat des Nematoden
im Meer oder Süsswasser liege.
Ascaris acus gehört dagegen zum typischen Para-
sitenbestand von Hecht und, als eingekapselte Larve,
von zahlreichen Cypriniden; erst durch Lachs und Mai-
fisch dürfte sie auf die marinen Wirte Betone acus und
Clupea harengus übertragen worden sein. Ahnliches
gilt wohl von dem in zahlreichen und verschiedenen
Süsswasserfischen erwachsen und larvär schmarotzenden
Bandwurm Triaenophorus nodulosus. Er bewohnt auch
wandernde Salmoniden und verdankt ihnen den nur
selten beobachteten Import in die Meerfische Betone
acus, Ptatessa flesus und Hippocampus guttatus. Kaum
anders liegen die Verhältnisse für die drei Acanthoce-
phalen, Echinorhgnchus luberosus, E. angustatus und
E. proteus. Besonders die beiden letztgenannten Arten
gemessen in den allerverschiedensten, rein potamophilen
Fischen eine so weite Verbreitung, dass sie geradezu
als charakteristische Bestandteile der Süsswasserfauna
angesehen werden müssen. Sie stellen sich aber auch
in Wanderfischen ein und haben eine weitere Heimat
in einer nicht unbeträchtlichen Zahl von systematisch
recht verschieden gestellten Meerfischen gefunden. Echi-
— 136 —
norhynchus tuberosus bewohnt neben seinen regelmässigen
Wirten — Cypriniden, Hecht, Trüsche, Barsch, Stich-
ling — den Wanderer Aal und selten die marinen
Fische Belone acus und Rhombus maximus.
Die Parasitenfauna von Lota vulgaris fügt sich nach
allem, was bis jetzt auseinandergesetzt wurde, aus zahl-
reichen Süsswassertieren zusammen, von denen manche
eine mehr oder weniger weitreichende Expansionsfähig-
keit in der Richtung des Meeres besitzen.
Dazu gesellt sich indessen ein weiteres, fremdes
Element: Schmarotzer von marinem Habitus. Sie kommen
in anderen Süsswassertieren entweder gar nicht vor —
Distomum Simplex, Abothrium rugosum, Tetrarhynchus
ecrinaceus — oder schmarotzen, ausser in Lota. nur
noch in ganz wenigen potamophilen Fischen — Ascaris
capsularia, Apoblema appendiculatum, Eehinorhynchm
acus. Alle diese dem Süsswasser so fremden Geschöpfe
verbreiten sich dagegen sehr ausgiebig in marinen Wirten ;
sie sind somit wohl geeignet, der Parasitenfauna von
Lota vulgaris ein durchaus eigenartiges Gepräge zu
geben. Wichtig ist auch die Thatsache, dass mehrere
der betreffenden marinen Schmarotzer in den zwischen
Süsswasser und Meer faunistisch und biologisch ver-
mittelnden Wanderfischen nicht, oder nur selten auf-
treten.
Über die Verbreitung der einzelnen Parasiten marinen
Charakters von Lota vulgaris liegen folgende Daten
vor. Ascaris capsularia lebt eingekapselt in den ver-
schiedensten Meerfischen. Im Süsswasser parasitiert
sie in Trüsche und Hecht, ausserdem ist der Parasit
bekannt aus den Wanderfischen Stör, Lachs und Mai-
iisch. Sehr wahrscheinlich werden indessen unter dem
Namen A. capsularia die Larven verschiedener Nema-
toden zusammengefasst, so dass aus dem Vorkommen
— 137 —
dieser offenbar aus mehreren Formen zusammengesetzten
Art faunistische Schlüsse kaum gezogen werden können.
Echinorhynchus actis gehört, neben zahlreichsten
marinen Wirten, drei Süsswasserbewohnern, Hecht, Wels
und Trüsche, an. Er fehlt den Wanderfischen.
Distomum simplex parasitiert im süssen Wasser nur
in Lota ; im Meer bewohnt der Trematode eine grössere
Zahl systematisch ziemlich weit auseinanderliegender
Teleosteer; er wurde auch in Anguil/a vulgaris gefunden.
Von Apoblema appendiculatum bemerkt Monticelli, dass
es häufig in sehr vielen und sehr verschiedenen Fischen
lebe und von allen Angehörigen des alten Genus Disto-
mum die weiteste zoologische Verbreitung besitze. Es
werden für den Wurm etwa 60 marine Wirte aufge-
zählt; er besiedelt aber auch den Darm von acht Wander-
fischen und ist vielleicht von ihnen aus in seine Wirte
im süssen Wasser, Barsch, Trüsche, Forelle, Hecht,
Stichling vorgedrungen. Unter allen Umständen erweist
sich A. appendiculatum als sehr anpassungsfähig an
Wirte heterogener Lebensweise und verschiedenen Wohn-
orts, wenn auch manche Angaben über sein Vorkommen
der Nachprüfung bedürfen. Abotlrrium rugostim ist der
typische Parasit der marinen Gadiden; er findet sich
kaum in Fischen anderer Familien. So kann seine
Gegenwart im Stockfisch des süssen Wassers, Lota vul-
garis, kaum überraschen. Vereinzelt kommt Abothrium
in Salmo salar vor.
Das auffallendste, faunistische Faktum indessen bildet
das Vorkommen von Tetrarhgnchas erinaceus im Süss-
wasser. Damit erhält eiue grosse und relativ hoch spe-
zialisierte Cestodengruppe. die Trypanorhyncha, die sonst
durchaus auf marine Fische beschränkt bleibt, eine pota-
mophile Vertretung. Telrarlnjnvlius erinaceus Van Ben.
speziell findet sich als Larve in fünf oder sechs Teleo-
138
steern, die ausgewachsene Strobila lebt hauptsächlich im
Darm verschiedener Rochen. Wenn nach Vaullegeards
Annahme Rhynchobothrium imparispine Linton mit Tetra-
rhynchus erinaceus Van Ben. identisch ist, wächst die
Zahl der für den Parasiten bekannten Wirte und Zwischen-
wirte bedeutend an. Der Tetrarhynchus findet sich dann
in etwa zwanzig marinen Knochenfischen, die sich auf
sehr verschiedene systematische Gruppen verteilen. Als
Hauptwirte figurieren, neben den Angehörigen der Gat-
tung Raja, Tetronarce occidenlalis, Myliobatis freminvillei,
Scymnus lichia, Hexanchus grüeus und Heptanchus ci-
nereus. Von besonderer Bedeutung ist es, dass Linton
Rhynchobothrium imparispine (= Tetrarhynchus erinaceus
Van Benetl.), begleitet von mehreren anderen Vertretern
der Trypanorhynchen, eingekapselt im Aal nachweisen
konnte. Durch den Wanderfisch kann also auch in diesem
Fall der marine Parasit in das süsse Wasser verschleppt
werden.
Über das Vorkommen eingekapselter Tetrarhynchen
in der Trüsche besitzen wir eine Notiz P. J. Van
Benedens. Er zählt unter fünfzehn marinen Teleo-
steern, „qui nous ont montré des Tétrarhynques en voie
de développement entourés de leur gaine" ausdrücklich
auch die potamophile Lola vulgaris auf (54). Später
bezieht er sich auf das gegebene Verzeichnis mit den
Worten: „J'ai dit plus haut, pag. 81, en parlant du
développement des Tétrarhynques, quels sont les pois-
sons sur lesquels ces vers se trouvent le plus communé-
ment.'' Wo Van Benedens Tetrarhynchus aus Lota
systematisch unterzubringen ist und besonders ob er mit
T. erinaceus zusammenfällt, lässt sich leider nicht ent-
scheiden. Die durch Van Beneden auf ihre Para-
siten untersuchten Exemplare von Lota stammten höchst
wahrscheinlich aus dem Meer naheliegendem, mit dem-
— 139 —
selben in offener Verbindung stehendem Süsswasser des
belgischen Küstengebiets. Gelegentliche Einfuhr mariner
Schmarotzer, durch Wanderfische z. B. iu jene süssen
Gewässer scheint nicht ausgeschlossen.
Viel verwickelter liegen die hydrographischen und
damit die faunistischen und biologischen Verhältnisse
im zweiten Fall, in welchem Lota als Zwischenwirt von
Rhynchobothrien erkannt wurde. Das Exemplar der
Trüsche, das auf der Aussenfläche des Magens Tetra-
rhynchencysten trug, wurde im Januar 1884 im Genfer-
see gefangen (57). Es stammt somit aus einem Wasser-
becken, das seit sehr langer Zeit durch die Stromschnellen
im Engpass der Perte du Rhône vom Meer vollkommen
faunistisch abgeschlossen ist. An marinen Tierimport
in den Genfersee durch die Rhone kann in der Jetzt-
zeit oder in historischer Vergangenheit nicht gedacht
werden. Derselbe datiert in entlegene geologische
Epochen zurück. Besonders verhindert die Perte du
Rhône Fisch- und damit auch Parasitenwanderungen vom
Mittelmeer in den Léman.
Dem entspricht denn auch die Zusammensetzung
der Schmarotzerfauna der Genferseefische. Über die-
selbe konnte ich früher, im Gegensatz zu entsprechenden
Verhältnissen im grossen, nach dem Meer offen stehenden
Rheinstrom, mitteilen, dass ihr, mit Ausnahme des sehr
seltenen Tetrarhynchus aus Lota, ganz marine Elemente
vollkommen fehlen. Sie stellt in jeder Beziehung eine
reine und durchaus typische Tierwelt des Süsswassers
dar (62). Für Lota vulgaris des Geufersees speziell
gilt folgende Liste schmarotzender Würmer:
Ascaris capsularia,
A. acus,
A. ienuissima,
Cucutlanus elegans,
— 140 —
Echiriorhynchus angustatus,
E. proteus,
Distomum tereticolle,
Diplozoon paradoxum,
lchthyotaenia ocellata,
I. torulosa,
Cyathocephalus truncatus,
A bothrium infundibuliforme.
Abgesehen von der systematisch durchaus unsicheren
Ascaris capsularia, der daher bei unserer Betrachtung
ein Wert nicht zuzuschreiben ist, umschliesst die Liste
keine der von uns als marine Elemente gekennzeichneten
Schmarotzer. Sie setzt sich, vielleicht mit Ausnahme
der nur aus zwei Wirten bekannten Ascaris tenuissima,
aus typischen, weitverbreiteten und oft massenhaft auf-
tretenden Gästen von Süsswasserfischen zusammen.
Mitten in dieser ganz potamophilen Tierwelt taucht
der rein marine Tetrarhynchus erinaceus auf, der als
Larve zahlreiche Meerteleosteer, als geschlechtsreife Kette
Haifische und Rochen bewohnt. Allerdings scheint sein
Auftreten in Lota zu den grossen Seltenheiten zu ge-
hören. Dem ersten bekannten Fall hat sich bis heute
kein zweiter angereiht.
Tetrarhynchus erinaceus könnte in Lota als altes,
marines Relikt gedeutet werden, aus der Zeit stammend,
da der Fisch von den verwandten marinen Gadiden sich
löste und sich an die neue Süsswasserheimat anpasste.
Auf diesem Wege hätten Lota vulgaris auch die Meer-
parasiten begleitet und die Anpassung an das neue Me-
dium erfolgreich mitgemacht. Der Tetrarhynchus des
Genfersees würde so auf alte marine Beziehungen von
Wirt und Gast hinweisen.
Lönnberg äussert eine ähnliche Vermutung in Be-
zug auf das Vorkommen von Abothrium rugosum in Lota
— 141 -
aus skandinavischen Süsswasserseen. Die Spezies schma-
rotzt sonst nur in marinen Gadus-Avten, vielleicht, so
bemerkt der schwedische Zoologe, lässt ihr Auftreten
in Lota den Schluss zu, dass sie bereits spezifisch diffe-
renziert war, bevor die Gattungen Lota und Gadus sich
trennten (22).
An die Thatsache vom Vorkommen des Tetrarhyn-
chus erinuceus im Süsswasser und speziell im Genfer-
see; in den der Parasit nur vor langer Zeit eingeführt
werden konnte, knüpft sich naturgemäss die Frage, in
welchem Raubfisch die Bandwurmlarve zur geschlechts-
reifen Strobila auswachse. In dieser Richtung bewegen
wir uns auf dem Gebiet blosser Vermutungen. Reife
Rhynchobothrien sind bis heute in keinem Süsswasser-
fisch entdeckt worden. Sie müssen aber in potamo-
philen Wirten leben, wenn anders die Spezies sich wäh-
rend langer Zeit in einem vom Meer vollkommen ab-
getrennten Becken, wie dem Leman, halten soll. Am
ehesten dürfte der zu Telrarhytichns erinaceus gehörende
Kettenwurm in Hecht oder Forelle zu Hause sein.
Die Einstreuung mariner Elemente in die Parasiten-
fauna von Lota vulgaris erklärt sich auf verschiedenem
Wege. Zunächst mögen Wanderfische auch hier den
Import von Meerparasiten in das süsse Wasser besorgen.
Von den eingeführten Schmarotzern wird der eine oder
andere im Strom oder See passende Zwischenwirte und
Wirte rinden und so neues Bürgerrecht erwerben. Auf
diese Weise mag Apobkma appendiciUatum seine sekun-
däre Heimat im Süsswasser erreicht haben. Das Tier
und seine Verwandten schmarotzen erwachsen in zahl-
reichsten Meerfischen; es bewohnt aber auch nicht
weniger als acht regelmässig zwischen Meer und Süss-
wasser hin- und herziehende Wanderer. Als seine
Zwischenwirte giebt Pratt, neben anderen marinen.
- 142 —
pelagischen Organismen, hauptsächlich Copepoden an,
die im Meer und Süsswasser reichlich zur Verfügung
stehen (35). So mag Apoblema von breiter mariner
Basis ausgehend, sich allmählich in einer beschränkten
Zahl von potamophilen Fischen eingebürgert haben.
Unter den Wirten von Distomum simplex und Tctra-
rhynchus erinaceus figuriert der Aal, unter denjenigen
von Abothrium rugosum der Lachs-, Maifisch, Lachs und
Stör beherbergen Ascaris capsularia. Die genannten
Wanderfische könnten etwa für die Verschleppung der
betreffenden, sonst rein marinen Parasiten in das süsse
Wasser verantwortlich gemacht werden.
Für den Import gewisser Elemente in die Parasiten-
fauna der Trüsche vom Meer her spricht auch deutlich
die Thatsache, dass die marinen Schmarotzer von Lota
in dem Masse seltener werden, als die Entfernung vom
Meeresufer wächst. Würmer von marinem Charakter
fehlen den Trüschen des Genfersees, mit Ausnahme jenes
eigentümlichen , näher besprochenen Falls des Vor-
kommens von Tetrar hynchus erinaceus. Srâmek (40)
fand keine Meerparasiten in Lota aus der Elbe in Böhmen;
ich vermisste dieselben in demselben Fisch aus dem Rhein
bei Basel. Dagegen verzeichnet Van Beneden Te-
trarhynckus in Lota aus Gewässern nahe der belgischen
Küste; die Beobachtung, dass Echinor hynchus acus in
demselben Wirt vorkomme, machte Lönnberg (24) an
der Küste Skandinaviens; Abothrium rugosum und Apo-
blema appenäiculatam wurden von älteren und neueren
Autoren in Lota aus süssen Gewässern längs der Ufer
der Ostsee entdeckt. Für das Vorkommen von Disto-
iiiinii simplex in der Trüsche gilt ähnliches.
Alles zeigt deutlich, dass eine Infektion von Lota
mit marjnen Parasiten von der Meeresküste ausgeht und
landeinwärts an Intensität progressiv abnimmt. Das deckt
— 143 —
sich, wie früher nachgewiesen wurde, mit dem Verhalten
der marinen Schmarotzer in dem im Rhein aufsteigenden
Lachs. Sie werden, soweit sie wenigstens den Darm
des Wirts bewohnen, in dem Masse seltener, als der
Wanderer sich vom Meer entfernt (00).
Die Verschleppung durch Wirte und Zwischenwirte
in der Jetztzeit genügt indessen nicht, um die Gegen-
wart von Meerlischschmarotzern in Lota zu erklären.
Das hat bereits das Vorkommen von Tetrarhynchus
crinaceus in einem vom Meer längst abgeschnittenen
Becken, wie dem Genfersee gezeigt. Ein anderer ma-
riner Gast der Trüsche, Echinorliynclius actis, kommt
in Wanderfischen überhaupt nicht vor, Abotlirium rn-
gosum und Distomum Simplex sind in denselben sehr
selten.
Es ergiebt sich daraus die Notwendigkeit, für die
ebengenannten Parasitenarten den Import in das süsse
Wasser in weiter zurückliegenden Zeitabschnitten zu
suchen. Für eine solche prähistorische Einfuhr öffnen
sich zwei verschiedene Wege. Der Übergang in das
neue Medium kann auch damals durch zwischen Meer
und Süsswasser wandernde Wirte und Zwischenwirte
vermittelt worden sein ; oder aber es kann Lota, die aus
dem marinen Stamm der Gadiden hervorgieng, bei ihrer
allmählichen Anpassung an das süsse Wasser eine Reihe
von Meerparasiten mitgebracht haben, von denen sich
einige als anpassungsfähig an die neuen umgebenden
Verhältnisse erwiesen. Für diese Auffassung der Herkunft
der marinen Elemente in der Parasitenbevölkerung von
Lota spricht die Thatsache, dass die betreffenden Würmer
in weitester Ausdehnung die Gadiden des Meers be-
wohnen, im süssen Wasser dagegen sich fast ausschliess-
lich auf Lola vulgaris beschränken. Darüber mag die
folgende Zusammenstellung dienen:
144
~ Si
ce
es
ce
Im Sûsswasser
1. Ascaris capsularia
55
16
In Lota und selten
in issu'C.
2. Echinorhynchus acus .
37
15
In Lota, Esox, viel-
leicht Silur m.
3. A.poblema appendicu-
60
20
Lota, Perça, Trut-
ta, Esox, Gas-
terosteus.
4. Distoraum simplex .
10
5
Nur in Lota.
5. Abothrium rugosum .
11
H
Nur in Zota.
1 6. Tetrarb.yncb.us erina-
19
7
Nur in Lota.
Die marinen Schmarotzer von Lota vulgaris er-
weisen sich so als weitverbreitete und. wie beigefügt
werden mag, sehr häufige und typische Gäste der nächst-
verwandten Meerfische, der Gadiden. Abothrium ru-
gosum beschränkt seinen Parasitismus auf die Stock-
fische. Die übrigen bewohnen noch andere Wirte, vor-
zugsweise die den Gadiden nahestehenden Pleuronectiden.
Im Süsswasser verlassen die in Frage stehenden
Würmer Lota DU1 gar in nicht, oder nur selten. Sie
bleiben an den Wirt .Gebunden der ihren mannen Gast-
gebern anatomisch und physiologisch am nächsten steht.
Eigenschaften des Wirts und nicht nur der Aussenwelt
bedingen somit auch hier die Verbreitung des Schmarotzers.
Einzig Apoblema appendicutatum, das wir schon im Meer
als anpassungsfähig an verschiedenste Fische kennen
lernten, dehnt auch im Süsswasser den Kreis seiner
Wirte etwas aus.
145
Alles aber lässt den Eindruck erwachen, dass Lola
vulgaris beim Übergang vom Meer in Strom und See einen
typischen Teil der Parasitenbevölkerung der marinen
Stockfische mitgeschleppt habe. Der Süsswasserfisch be-
herbergt heute noch Schmarotzer, die als marine Relikte
für seine frühere Heimat und seine Geschichte zeugen.
Lota vulgaris besitzt somit eine Parasitenbevölke-
rung, die zum grössten Teil aus reinen Süsswasser-
formen besteht. Von ihnen haben manche die Heise
nach dem Meer angetreten, um dort in neuen Wirten
eine mehr oder weniger ausgedehnte, sekundäre Heimat
zu finden. Bei diesem Vordringen spielten wohl haupt-
sächlich Wanderfische die Rolle der Zwischenträger
vom Fluss zum Meer. Daneben beherbergt aber Lota
auch marine Schmarotzer, die sie entweder selbst aus
dem Meer mitgebracht hat, oder die ihr von dort früher
oder später zugeführt worden sind. Auch in diese
Strömung vom Meer zum Pluss dürfte die Wanderung
der Fische vermittelnd eingegriffen haben. Heute würde
sich also die Helminthenfauna von Lota aus zwei Gruppen
von Bestandteilen, primären und sekundären zusammen-
setzen. Die primären brachte der Fisch selbst mit aus
dem Meer ; es sind die Schmarotzer seiner marinen
Stammesverwandten, der Gadiden,
Die sekundären Parasiten erwarb Lota später in Fluss
und See ; es sind die typischen Gäste der verschiedensten
reinen Süsswasserfische und vielleicht auch Schmarotzer von
mehr marinem Gepräge, die durch Wanderfische injüngerer
oder älterer Zeit in das Süsswasser importiert wurden.
Unter allen Umständen aber spiegelt die Zusammen-
setzung der Parasitenfauna von Lota vulgaris die äusseren
Bedingungen des bewohnten Mediums, die Lebensweise
und die Geschichte des Wirts wieder.
10
__ 146 —
Viel einfacher als für Lola liegen die parasitolo-
gischen Verhältnisse für Sikirus glanis. Die Schma-
rotzerliste des Wels urafasst fünfzehn Würmer. Ausser-
dem zählt Volz (8) nicht näher bestimmte Nematoden
und Echinorhynchen aus demselben Wirt auf. v. Ratz
(37) fand einen Silurus aus dem Balaton mit dem Blut-
egel Ichthyobdella fasciata Dies, besetzt.
Parasitische Würmer von Silurus
glanis.
Zahl der Wirte
Name.
SOsswasser-
Fische.
Heer-
Fische.
Wand er-
Fische.
Total.
Nematodes.
1.
Ascaris glanidis Linst., .
1
0
0
1
2.
— siluri Gmel.,
1
0
0
1
3.
— siluri glanidis
Linst.,
1
0
0
1
4.
Cucullanus elegans Zed.,
13
0
5
18
5.
Spiroptera bicolor Linst.,
3
0
0
3
6.
Nematoideum siluri glani-
dis Rud., .
1
0
0
1
Acanthoce -
phala.
7.
Echinorhynchus globu-
losus Rud.,
24
0
1
25
8.
— angustatus Rud.,
20
8
2
30
9.
— proteusWestrumb,
37
19
8
64
10.
— acus Rud , .
3
37
0
40
Trematodes
. 11.
Distomuni torulosum
Rud., ....
1
0
0
1
12.
Dactylogyrus siluri gla-
nidis Wag.,
1
0
0
1
Cestodes.
13.
Ichthyotaenia osculata
Goeze,
1
0
0
1
14.
Ligula digramma Crepl.,
24
1
1
26
15.
Tetrarhynchus spec,
1
0
0
1
Von den fünfzehn Parasiten kommen nicht weniger
als acht einzig im Wels vor; sie machen für den Fisch
gewissermassen eine speciell nur ihm angepasste Ideine
Fauna aus. Das allgemeine Gepräge derselben ist rein
147
potamophil, wird sie doch vor allem charakterisiert
durch die für Süsswasserfische geradezu typischen Ge-
nera Dactylogyrus und Ichthyotaenia und durch die
in denselben Wirten weitverbreitete Gattung Ascaris.
Zu der ersten Gruppe von Welsparasiten zählen : Ascaris
glanidis, A. siluri, A. siluris glanidis, Nematoideum si-
luri glanidis, Distomum torulosum, Dactylogyrus siluri
glanidis, Ichthyotaeonia osculata und endlich als ganz
fremdes, später zu besprechendes Element Tetrarhyn-
chus spec.
Dazu gesellen sich eine Reihe überaus typischer
Schmarotzer von Süsswasserfischen. Es sind Spiroptera
bicolor, Cucullanus elegans, Echinorhynchus globulosus
und Ligula digramma. Von ihnen ist nur die letztge-
nannte Form vereinzelt in einem marinen Wirt, Clupea
harengus, angetroffen worden.
Aber auch zwei weitere Parasiten von Silurus,
Echinorhynchus proteus und E. angustatus, haben wir
bereits als Charaktertiere des Süsswassers kennen ge-
lernt, wenn sie auch in der Wahl von Wirt und Zwischen-
wirt wenig beschränkt, sekundär in Wander- und Meer-
fische übergehen.
Von den genannten Süsswasserfisch- Schmarotzern
leben Ligula digramma und Echinorhynchus globulosus
vorwiegend in Cypriniden ; Eilaria bicolor scheint Wels
und Hecht zu charakterisieren, die übrigen drei ver-
teilen sich auf die verschiedensten potamophilen Fisch-
gruppen. Mit Lola vulgaris besitzt Silurus glanis ge-
meinsam Cucullanus elegans und die drei bereits ge-
nannten Echinorhynchen. Vielleicht muss zum gemein-
samen Besitz auch Echinorhynchus acus gerechnet werden.
So trägt die Parasitenwelt von Silurus glanis sehr
deutlich potamophilen Charakter. Es entspricht das
durchaus dem Vorkommen und der Lebensweise ihres
— 148 —
Trägers, welcher der typische Bewohner stehender oder
langsam fliessender, seichter Süsswässer ist.
Das einfache Bild dieser Schmarotzerfauna wird
indessen gestört durch das Auftreten von zwei fremden,
marinen Zuthaten, Echinorhynchus actis und Tetrarhyn-
chtis spec.
Echinorhynchus acus, den Parasiten zahlreicher
Meerfische, führt Müh lin g (29) in seiner ostpreussischen
Helminthenfauna pag. 86 aus Silurus glanis an. Der
genannte Autor erwähnt indessen den Fund in derselben
Abhandlung weder bei der Zusammenstellung aller bis
jetzt in den Wirbeltieren Ostpreussens gefundenen Hel-
minthen , noch in der statistischen Tabelle über das
zeitliche Vorkommen der ostpreussichen Parasiten (29
p. 54, 78). So liegt die Vermutung nahe, dass das
Citat auf Seite 86 unrichtig sei. Sollte indessen E. actis
wirklich die Welse Ostpreussens bewohnen , so würde
die Nähe des Meeres den Übergang des Schmarotzers
in einen Süsswasserfisch hier ebenso erleichtern und
erklären, wie in Skandinavien, wo der Acanthocephale
nach Lönnberg in Lota vulgaris parasitiert.
Sichergestellt und sehr auffallend ist die Thatsache,
dass mitten im rein potamophilen Helminthenbestand
des Wels eine im höchsten Grade marine Cestodenlarve.
ein Tetrarhynchus, Platz findet. Merkwürdiger wird
der Fund noch dadurch, dass der Träger des Parasiten,
ein Silurus von beträchtlicher Grösse, dem Bielersee
entstammt. Das Wasserbecken liegt im Herzen von
Centraleuropa, fern vom Meer, mit dem es durch das
Flusssystem der Aare und den langgezogenen Stromlauf
des Rheins in nur indirekter und schwer passier-
barer Verbindung steht. An einen Import mariner
Parasiten in den Bielersee durch Wanderfische lässt
sich kaum denken. Ebenso pflegen die Welse aus dem
— 149 —
See nicht durch die Aare thalabwärts zu ziehen. So
weist das Vorkommen von Tetrarhynchen in stationären
Fischen des Genfer- und Bielersees eine gewisse durch
hydrographische Verhältnisse bedingte faunistische und
biologische Analogie auf. Ein Fall bestätigt gewisser-
massen den anderen.
Wie im Leman gehört auch im Bielersee Tetra-
rhynchus zu den seltensten Erscheinungen. Im Peri-
toneum des AVels, aussen an die Darmwand angeklebt,
wurde ein einziges Exemplar des Parasiten gefunden.
Wieder bleibt die Frage offen, in welchem Raubfisch
des Süsswassers etwa die Cestodenlarve aus Silurus zur
geschlechtsreifen Kette auswachsen könnte.
Besonders unaufgeklärt aber erscheint die Herkunft
des Welsparasiten, da der Import von Meerhelminthen
in den Bielersee wenn nicht unmöglich, so doch sehr
schwierig ist, und da, im Gegensatz zu Lola, Silurus
keine näheren marinen Verwandten besitzt, die ihm als
Erbteil und Zeichen früherer Zusammengehörigkeit Para-
siten überlassen konnten. Vielleicht ermöglichten hydro-
graphische Verhältnisse vergangener Zeiten die Einfuhr
von Schmarotzern marinen Charakters in die Seen am
Südrand des Neuenburger Juras.
Die Tetrarhynchen von Lota und Silurus nehmen
eine getrennte Stellung im System ein. Den Parasiten
aus Lola konnte ich durch erneute eingehende Prüfung
mit Tetrarhynchus erinaceus Van Ben. identifizieren;
der früher ausgeteilte, provisorische Name T. lotae fällt
somit dahin. Dass sich der marine Tetrarhynchus eri-
naceus im Genfersee, einem mit dem Meer seit sehr
langer Zeit nicht mehr in Verbindung stehenden Becken
unverändert erhalten konnte, spricht deutlich für die
grosse Stabilität der Species.
150
Tetrar hynchus erinaceus ist wiederholt und zuletzt
noch von V a u 11 e g e a r d ausführlich geschildert worden,
so dass eine neue Beschreibung als unnötig erscheint
(56). Immerhin bedürfen meine älteren Angaben und
die frühere (57) Abbildung des Parasiten aus Lota der
Ergänzung und Verbesserung. Auf T. erinaceus be-
ziehen sich die Figuren 1 — 3.
Der in Fig. 1. dargestellte Tetrarhynchiis lag ein-
gekapselt an der Aussenfläche des Magens einer Lota
vulgaris. Seine Länge beträgt fünf, seine grösste Breite
etwa 2 mm. Der Wurm befindet sich in sogenanntem
nAnthocephalußzust&ndu d. h. sein Kopf und Kopfstiel
sind in die Schwanzblase zurückgezogen. Letztere be-
sitzt etwa birnförmige Gestalt ; an ihrem verschmälerten
Ende liegt die Einstülpungsöffnung, welche in den vom
Scolex eingenommenen Hohlraum führt.
Der Scolex selbst rollt sich spiralig auf. Er trägt
vier längliche, je zu zweien enger verbundene Bothri-
dien. Typisch ist die Bewaffnung der vier Rüssel mit
zweierlei Haken ; sie wurde in der ersten Beschreibung
unvollständig geschildert. Verteilung, Form und Grösse
der beiden Hakenarten stellt Vaullegeard durchaus
richtig dar. Über die Gestalt der hohlen Haken mögen
auch noch die Figuren 2 und 3 unterrichten.
Im cylindrischen, ziemlich gestreckten Hals liegen
die vielfach geschlängelten Rüsselscheiden, weiter zurück
die früher beschriebenen, kräftigen Rüsselbulbi.
Wesentlich anders gestaltet sich das Bild des Tetra-
rhynchus aus Silurus glnnis. Der Parasit lässt sich
mit keiner bekannten Art vereinigen. Er stammt aus
einem grossen , im Bielersee gefangenen Wels , der
ausserdem im Magen zahlreiche Exemplare von Filaria
bicolor beherbergte. Ein zweiter, riesiger Silurus aus
demselben See erwies sich als parasitenfrei.
151
Der Wurm lag im Peritoneum , aussen an die
Darmwand angeschmiegt ; er befand sieb, wie dies Fig. 4.
darstellt, in ausgestülptem „TetrarJnjnchuszustanà", so
dass Kopf, Hals und Schwanz in der Längsrichtung
aufeinander folgen. Der vom Hals scharf abgesetzte
Scolex trägt nur zwei mächtige Bothridien von be-
deutender Breite. Ihre Seitenränder bleiben frei, der
ebenfalls freie Hinterrand kerbt sich seicht ein. So
erhält jedes Bothridium einen hohen Grad von Selb-
ständigkeit. Nach vorn convergieren die beiden Haft-
organe, so dass ihre Vorderränder an der Spitze des
Scolex auf eine kurze Strecke verwachsen. Die Länge
der Bothridien übertrifft ihre Breite nur unbeträchtlich.
Etwas hinter der Scolexspitze münden die vier
langen und schlanken Bussel, von denen je zwei einem
Bothridium entsprechen, aus. In Fig. 4 sind dieselben
in ihre vielfach geschlungenen und geknäuelten Scheiden,
die bis gegen die Mitte des Halses reichen, zurückgezogen.
Die Rüsselbewaffnung besteht aus relativ wenig zahl-
reichen, aber kräftigen, stark gebogenen, hohlen Haken.
Alle Haken sind von derselben Gestalt und Grösse
(siehe Fig. 5).
Der nach hinten allmählich breiter werdende Hals
übertrifft den Scolex etwas an Länge. Er beherbergt
in seinem hinteren Abschnitt die vier langgezogenen,
walzenförmigen, dicht aneinander geschmiegten Büssel-
bulbi. An beiden Enden spitzen sich diese muskulösen
Hohlschläuche etwas zu; in ihrem Innenraum verläuft
je schräg von hinten nach vorn und von innen nach
aussen der Rüsselretractor.
Vom Hals setzt sich recht deutlich der Schwanz
als langeiförmig ausgezogene Blase ab. Ihre Länge
übertrifft die eigene Breite und die Halslänge um das
doppelte. Am Hinterende des Schwanzes öffnet sich ein
— 152
Foramen caudale, das einer kanalartig gestreckten Ex-
cretionsblase als Ausgangsporus dient.
Besonders bezeichnend aber ist die Thatsache, dass
die centrale Region der Schwanzblase von zahlreichen,
gewundenen, da und dort plump verzweigten Drüsen-
schläuchen eingenommen wird. Sie verlaufen im ganzen
von hinten nach vorn ; gleichzeitig nimmt ihre Zahl
nach vorne gehend stetig zu , so dass besonders die
vorderen Abschnitte des Schwanzes von einem dichten
Drüsenkomplex erfüllt erscheinen. Die hinteren, freien
Schlauchenden sind oft aufgetrieben; die Schläuche be-
sitzen eine strukturlose, deutliche Begrenzung und einen
fein granulierten Inhalt.
Am Hinterende der Rüsselkolben, d. h. etwa an
der Grenze von Hals und Schwanz angelangt, gehen die
Drüsenschläuche in langgezogene , äusserst feine Aus-
führgänge über. Dieselben schliessen sich convergierend
rechts und links von den Bulbi je zu einem dichtge-
drängten Bündel oder Strang zusammen, dessen Ver-
lauf sich durch den ganzen Hals bis in den hinteren
Teil des Scolex längs und ausserhalb der Rüsselbulbi-
und Scheiden verfolgen lässt. Im hinteren Scolexab-
schnitt scheinen sich die Drüsengänge in das Lumen
der Rüsselscheiden zu öffnen.
Das einzige zur Verfügung stehende Präparat des
Tetrar hynchus aus dem Wels gestattete eine nähere
Untersuchung des Drüsenapparats nicht. Es wäre be-
sonders die Frage aufzuwerfen, in welchen morpholo-
gischen Beziehungen der Drüsencomplex zu den Rhyn-
chodaealdrüsen stehe, die Pintner für einen Vertreter
der Tetrarhynchus attenuatus -Gruppe eingehend be-
schrieb (33).
Fig.1
il
R5
Verhandinngen der Naturforsçhéndén Gesellschaft in Bas,.]. Band XVI. Tafel I.
H5.2.
Fig. 4.
Fig.3
»3 ■
■ - '
fig.5.
»
- E.
FC.
1 53
Figurenerklärung zu Tafel I.
Fig. I. Tetrarhnychus erinaceus von lien, aus Lota vulgaris. Der Scolex
in den verdickten Schwanz zurückgezogen. O. Einstülpungs-
öffnung. R. Rüssel. B. Bothridien. R. S. Rüsselsckeiden,
in die die Rüssel zum Teil eingestülpt sind. H. Hals. S.
Schwanz. R. B. Rüsselbulbi.
Fig. 2. und Fig. 3. Ine beiden Hakenforraen von Tetrarhynchus eri-
naceus von Ben. Die Haken sind hohl. Fig. 2. grössere,
gebogene, Fig. 3. kleinere, schlanke, gestreckte Haken.
Fig. 4. Tetrarhynchus spec. aus Silurus glanis. Scolex vollständig
ausgestülpt, die Rüssel, R., in ihre Scheiden zurückgezogen.
B. Bothridien. R. B. Rüsselbulbi. Ret. Retractor der
Rüssel. D. Drüsen. S. Schwanz. E. Excretionsblase. F.C.
Foramen caudale. K. Kopfstiel (Hals). A. Ausführgänge
der Drüsen.
Fig. 5. Hohler Haken von Tetrarhynchus spec. aus Silurus glanis.
— 154 —
Litteratur.
1. Ariola. V.. Revisione délia famiglia Bothriocephalidae s. st. Ar-
chives de Parasitologie. Vol. 3, 1900-
2. Braun. NI., Verzeichniss von Eingeweidewürmern aus Mecklenburg.
Arch. d. Fr. d. Naturg. i. Mecklenbg., Jahrg. 1891.
3. — Vermes, Abtlg. Ib. Cestodes, in: Bronn, H. GL, Klassen
und Ordnungen des Thierreichs, Bd. 4.
4. Diesing. C. M., Systema Helminthum. Vindobonae 1850/51.
5. Fritsch, Av Der Elbelachs, eine biologisch-anatomische Studie.
Prag 1894.
6. Fuhrmann, 0., Die Anoplocephaliden der Vögel. Centralbl.
Bakteriol. Parasitkde, Abtlg. I, Bd. 32, 1902.
7. Hausmann, L, Über Trematoden der Siisswasserfische. Revue
suisse de Zoologie, Bd. 5, 1897.
8. Jaquel, M., Faune de la Roumanie. Helminthes trouvés par
Mr. Jaquet et déterminés par Mr. Walter Volz. Bull,
soc. sciences Bucarest. An. 8, 1899.
9. Kraemer, A., Beiträge zur Anatomie und Histologie der Cestoden
der Siisswasserfische. Zeitschr. wiss. Zool. Bd. 53, 1892-
10. Largaiolli, V., I parassiti esterni ed interni di alcune specie di
pe3ci viventi nel Benaco. Ann. degli Alpin. Trid. 1898.
11. Linstow. 0. v. Compendium der Helminthologie. Hannover 1878.
12. — Compendium der Helminthologie. Nachtrag. Die
Litteratur der Jahre 1878—1889.
13. — — Nemathelminthen. Hamburger Magalhaensische
Sammelreise, 1896.
14. — Nematoden aus der Berliner zoologischen Samm-
lung. Mittig. a. d. Zool. Sammig. Mus. f. Natur-
kunde Berlin, Bd. 1, 1899.
15. — — Entozoa des Zoologischen Museums der K. Akademie
der Wissenschaften zu St. Petersburg. Bull. Acad.
Imp. sc. St. Pétersbourg. Série V. Vol. 15, 1901.
16. Linton, E,, Notes on Entozoa of marine fishes of New England.
Part II. Annual Report ot the Commissioner of fish
and fisheries for 1887.
17. — — Notes on Entozoa of marine fishes with descriptions
of new species. Part III. Report of the U. S.
Commissioner of fish and fisheries for 1888.
18. — — Notes on Cestode parasites of fishes. Proceedings
of ö. S. National Museum. Vol. 20, 1897.
155
19. Linton, E., Notes on Trematodes parasites of fishes. Proceedings
of U. S. National Museum. Vol. 20, 1898.
20. — — Parasites of fishes of the Woods Hole région. U. S'
Fish Commission Bulletin for 1899.
21. Lo'nnberg. E., Ilidrag tili kännedomen om i Sverige förekommau-
de Cestoder. Svenska Vet. Akad. Handlingar.
Bd. 14, 1889.
22. — — Anatomische Studien über skandinavische Cestoden.
Kgl. Svenska Vetenskaps. Akademiens Handlingar.
Bd. 24, 1891.
23. — — Mitteilungen über einige Helminthen aus dem
Zoologischen Museum der Universität zu Kristiania.
Verhandig. biolog. Ver. Stockholm. 1891.
24. — — Helminthologische Beobachtungen von der West-
küste Norwegens. Svenska Vet. Akad. Handliug.
Bd. 16, 1890.
25. Matz, F., Beiträge zur Kenntniss der Bothriocephalen. Archiv
f. Naturg., Bd. I, 1892.
26. Monticelli, F. S., Elenco degli Elminti raccolti dal Capitano G.
Chierchia durante il viaggio di circumnaviga-
zione della H. corvetta „Vetter Pisani". Boll.
Soc. Natural. Napoli, anno 3, 1889.
27. — Elenco degli Elminti studiati à Wiméreux nella
primavera di 1889. Bull, scient. France et Bel-
gique. T. 22, 1890.
28. — — Osservazioni iutorno ad alcune forme del genere
Apoblema Duj. Atti R. Accad. Sc. Torino,
Vol. 26. 1891.
29. Mühling, P., Die Helminthenfauna der Wirbeltiere Ostpreussens.
Archiv f. Naturg., Jahrg. 1898, Bd. I.
30. Parona, C, Helminthum ex Conradi Paronae Museo Catologus.
Genuae 1896/98.
31. — — Catologo di Elminti raccolti in Vertebrati dell' isola
d'Elba. Boll. Mus. Zool. Anat. Comp. R, Univ.
Genova, No. 113, 1902.
32. Piesbergen, F., Die Ekto- und Entoparasiten, von welchen die
in der Umgegend von Tübingen lebenden Fische bewohnt
werden. Jahreshfte. Ver. f. vaterld. Naturkde. AVürttem-
berg. Jahrg. XXII, 1SS6.
33. Pintner, Th., Studien an Tetrarhynchen nebst Beobachtungen an
anderen Bandwürmern. Mittheilung I u. IL Sitzgsber.
k. Akad. Wiss. Wien, Mathem.-naturw. Klasse, Bd.
102 u. 105, 1893 u. 1896.
34. — — Die Rhynchodaealdrüsen der Tetrarhynchen. Ar-
beiten d. Zoolog. Institute, AVien. T. 12, 1899.
156
35. Pratt, H. S,, A contribution to the Life-history and anatomy of
the appendiculate Distomes. Zoolog. Jahrbb. , Abtlg.
Anat. Ontog. d. Tiere. Bd. Il, 1898.
36. Prenant, A., Recherches sur les vers parasites des poissons. Bull.
Soc. scienc. Nancy. Sér. II, T. 7, 1885.
37. Râtz, St., v., Beiträge zur Parasitenfauna der Balatonfische. Cen-
tralbl. Bakteriol. Parasitkde. Abtlg. I, Bd. 22, 1897.
38. Riggenbach, E., Das Genus Ichthyotaenia. Revue suisse de Zoo-
logie, B<1. 4, 1896.
39. Schneider, G., Nigra statistiska meddelanden angâende parasiter
i fiskar frân Finlands södra skärgard. Fiskeritidskrift
for Finland. Haft 10, 1901.
40. Srâmek, A., Helminthen der an der zoologischen Station in
Podiebrad untersuchten Fische. Archiv der naturwiss.
Landesdurekforschung Böhmens. Bd. 11, 1902.
41. Stiles, C. W. and Hassall, A., A preliminary Catalogue of the
Parasites contaiued in the collections of the U. S. Bureau
of animal industry. Veterinary magazine, Philadelphia
1894.
42. Stossich, M., Brani di Elmintologia tergestina. Boll. Soc. Adriat.
8c. nat. Trieste. Vol 8—12, 1883—1890.
43. — — I. Distomi dei pesci marini e d'acqua dolce. Lavoro
monografico. Programma del Ginnasio comunale
super iore di Trieste, 1886.
44. Appendice al mio lavoro „I Distomi dei pesci
marini e d'acqua dolce1' ibid. 1887 — 88.
45. Elminti veueti raccolti dal Dr. Alessandro conte
de Xinni. Boll. Soc. Adriat. Sc. nat. Trieste Vol.
12, 1890.
46. Il genere Trichosoma Rud. Lavoro monografico.
Ibid. Vol. 12, 1890.
47. — Osservazioni elmintologiche. Soc. Historico-naturalis
Croatica 181)2.
48. — — Ricerche elmintologiche. Boll. Soc. Adriat. Sc.
nat. Trieste. Vol. 17, 1896.
49. — — II genere Ascaris L. Lavoro monografico. Ibid.
Vol. 17, 1896.
50. — — Filarie e Spiroptere. Lavoro monografico. Ibid.
Vol. 18, 1897.
51. — Note paras8itologiche. Ibid. Vol. 18, 1897.
."'2. — Saggio di una fauna elmintologica di Trieste e
provincie contermini. Programma della Cicica Scuola
Reale Superiore, Trieste 1898.
53. — Osservazioni elmintologiche. Boll. Soc. Adriat.
Sc. nat., Trieste. Vol. 20, 1900.
— 157 —
54. Van Beneden, P. J., Les vers cestoïdes ou acotyles considérés
sous le rapport de leur classification, de leur anatomie
et de leur développement. Mém. Acad. R. Belgique.
T. 25, 1850.
55. Vaullegeard, A,. Sur les Helminthes des Crustacés décapodes
brachyoures et anomoures. Assoc. franc, avan-
cement des sciences, congrès de Bordeaux 1895.
56. — — Recherches sur les Tétrarhynques. Thèses pré-
sentées à la Faculté des Sciences de Paris.
No. 987, 1899.
57. Zschokke, F., Recherches sur l'organisation et la distribution
zoologique des vers parasites des poissons d'eau
douce. Archives de Biologie, T. 5, 1884.
58. — — Helminthologische Bemerkungen Mittlgn. Zoolog.
Stat. Neapel. Bd. 7, 1886.
59. — Erster Beitrag zur Parasitenfauna von Trutta salar.
Verhandig. Naturf. Ges. Basel. Bd. 8, 1889.
60. — — Die Parasitenfauna von Trutta salar. Centralbl.
Bakteriol. Parasitkde., Bd. 10, 1891.
61. — Zur Lebensgeschichte des Echinorhynchus proteus
Westrumb. Ibid., Bd. 10, 1891.
62. — — Zur Faunistik. der parasitischen Würmer von
Süsswasserfischen. Centralbl. Bakteriol Parasitkde.
Abtlg. I, Bd. 19, 1896.
63. — — Hymenolepis (Drepanidotaenia) lanceolata Bloch als
Schmarotzer im Menschen. Ibid. Bd. 21, 1902.
Über konforme Abbildung im Raum.
Von
Karl VonderMühll.
Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts ist bekannt,
dass durch das Prinzip der reziproken Radien nicht nur
eine Ebene auf einer andern Ebene, sondern auch ein
Raum in einem andern Raum konform, d. h. in den
kleinsten Teilen ähnlich abgebildet wird.
Für den Raum hat meines Wissens Liouville den
Satz zuerst ausgesprochen.*) Während aber unendlich
viele konforme Abbildungen einer Fläche auf einer andern
Fläche existieren, ist die Abbildung durch reziproke
Radien die einzige, wo die kleinsten Raumteile in Figur
und Bild einander ähnlich sind. Auch dieser Satz ist
längst bekannt ; doch habe ich eine direkte, rein ana-
lytische Ableitung nirgends gefunden; ich erlaube mir
daher sie im Folgenden zu geben.
Es bezeichne (|, /;, ç) einen Punkt der Figur,
(x, )7, z) sein Bild in geradlinigen rechtwinkligen Koordi-
naten; dff und ds seien zwei einander entsprechende
unendlich kleine Längen :
da2 = d£2 + d#;3 — dt2 ,
ds2 = dx2 -J- dv2 -|- dz2 ;
der sogenannte Kartenmodul werde mit p bezeichnet.
*) Journal de Math. XII. 1847.
159
Dann gilt für konforme Abbildung die Gleichung:
(1) do = pds ,
wo p eine Funktion von (i", >n 'Q oder (x, y, z) sein soll.
Wir suchen p als Funktion von (x, y, z) zu be-
stimmen.
Indem wir x, y, z als Funktionen von (|, ?), Ç),
|, t], Ç als Funktionen von (x, y, z) betrachten, folgen
aus den Gleichungen
dx = — dt
dx dx
-7- dr: 4- -^ dC , u. s. w.
dr, 'dt -
dB = t- dx 4- -IT- dy -f- -1— dz , u. s. w.
dx ' dy J ' dz
die Beziehungen zwischen den partiellen Differential-
quotienten :
(2)
dx d£ , dx dy dx dç
d£ dx "^ dr] dx ~r" dç dx -
dx dt dx drj dx d'Ç
d| dy" + d^ dy ' d£ dy '
u. s. w.
Die Bedingung der konformen Abbildung
dx2 f dy2 + dz2 = p2 (dp -f d/;3 -f dl'2)
aber liefert die Gleichungen :
dz
(3)
S)+ (8) +
u. s. w.
dx dx dy dy dz dz
dr) d, ' d?j ck d^ d£
und die entsprechenden :
drv, /dvy
(4)
dx ;
+
u. s. w.
d|d|cb;cb;d£dÇ=0
dy dz dy dz "■ dy dz
160
Die Funktionaldeterminanten
D
und
dx
dy
d£
dz
d|
dx
dy
dz
àrj
d?
d?;
dx
dy
dÇ
dz
d|
d>;
dÇ
dx
dx
dx
d£
^
de
dy
dy
dy
d|
d?/
d:
dz
dz
dz
können nicht verschwinden, und es ist
Di= 1 .
Durch Auflösen der Gleichungen (2), (3) und (4)
ergeben sich die Relationen :
(5)
dx 2d|
d|"rdx '
dx
d^
u.
a drç
= P dx '
s. w.
dx „ dç
dt =P dï
oder
(«0
d£ 1 dx
di~p2 d£ '
dy"
u.
1 dy
V df '
s. w.
d£ 1 dz
dz p2 df
so dass
also, weil DJ = 1 ,
D2 = P6 ,
D = \^J
z/a =
161 —
Die Gleichungen (3) können auch ersetzt werden
durch
(3,a)
dx
+
d£ ; "T" V cb;
dx
+
l>-
dy dz dy dz dy dz
d§ d? ' d/. d/; de d.
15 u/( d/( ' au aç
entsprechend die Gleichungen (4) durch
d/, dJ d/; dl* d?; dl"
(4,a)
^ cb, eh,
dx dx ' dy dy
df\2 1
= — 5- , u. s. w.
p
dz dz
= 0 , u. s. w.
Ist nun F eine beliebige Funktion von (x, y, z)
oder (£, 7], Ç), so folgt aus
!_? - !_? dl 1 -- ^ _j_ — Ï
dx d§ dx"' d/; dx ' du dx
d£
durch Einsetzen der Werte -^- , u. s. w. nach den
dx
Gleichungen (6) in
u. s. w,
clF dx . dF dx ( dP dx
d£ d|^d?; dy/dT dT
P
odF
und dieselbe Gleichung gilt, wenn wir y oder z statt x
schreiben.
Wir setzen zunächst F=TT. und erhalten:
de
dx d2x dx d2x dx d*2x
dl dF ~ <ty dfcb? + dT dp:
p
dx
dx
nach der ersten Gleichung (3}a) ist aber die linke Seite
gleich dp
P Ä »
11
— 162 —
folglich
dx
dg = 1 dp
dx p dg
dy
Nehmen wir dagegen y statt x und setzen F = -=^ ,
so folgt
dy d2y dy d2y dy d2y 2 dg
dg dg2 + cbj dgdT; "r" dg "dgdg = P' ~dy~~ '
dp
und auch dieser Wert ist nach (3,a) gleich p y^- .
Ebenso mit z statt x.
Wir haben somit
n dx , dy n dz
(1 Te d Tè d Tc
(7) dg= dg^ dg
dx dy dz
Weiter folgt aus der Gleichung unter (3,a) :
dy dz dy dz dy dz =
dg dg^d>;d>; + dg dg "
durch Differentiation nach g :
d2y dz d2y dz d2y dz
dg2 dg + dgdYd7;+ dgdg dg +
dy d2z dy d2z dy d2z
"Kit A&\
'dg dg2_r àrt dgd/; ~dg clgdg
dz
= P
163
Folglich gelten die drei weiteren Gleichungen :
(8)
dy
dB
«1
dz
, dz
dx
. dx
d -t.
+
dz
d£
(I
+
dy
dx
dl
-f
dz
dy
o,
0 .
dy dx
In den Gleichungen (7) und (8) kann statt £ auch
y] oder 'Ç gesetzt werden.
Aus den Gleichungen (8) folgt durch Differentiation
nach x, y und z :
.2 dy ,., dz
de
also
d2
, dx
(9)
d~
dy dz
dzdx
= 0,
+ :
d£
dxdy
2 dy
= 0. u. s. w.
d;
dzdx
= 0,
t> dz
Im
dxdy
= 0 .
Aus den Gleichungen (1) aber finden wir in Ver-
bindung mit den Gleichungen (8) :
l2dx dy
ds- de
13dx
dç
d2
df
d$
dx2 dxdy dy2 dxdz dz2
und dieser Wert ist konstant. Denn seine Differential-
quotienten nach y und z verschwinden, weil nach (9)
dx
de
= 0,
dy
dç
0
dxdy dz dxdy dz
und desgleichen der Differentialquotient nach x.
164 —
Wir haben nämlich:
f13 dx 13 cly dz dy dz
de_ de_ __d|= dç dç
dx3 " dx2dy ~ dx-dz ~ dz2dy ~ dy2 dz '
und der letzte Ausdruck ist nach (8) gleich
d- /
dg
dydza ;
dadx
1 Ä
folglich muss . * gleich null sein.
dxö
Wir setzen:
t, dx ,„ dx nodv ,., dx „ dz
d2 -Tx d2 T& d2-^ d- T d- j-
Uq\ de_ dç _ de dç _ de
dx- dy1' dx dy dz"2 dxdz
nennen die Werte b und c, wenn statt x y und z ge-
setzt wird, dagegen a\ b', c', und a", b", c", wenn wir
statt e ?/ und 1" schreiben.
Nun haben wir einmal:
d-
(\V\ ^ * dP * /dx dp dy dp , dz dp
dx p de p \de dx de dy de dz
u. s. w.
sodann
und, nach (6),
-, dy , dz
d/e d j,
de _de
dz dy
1 dy J_ dz
Y dl p^d?
dz dy
— 165
oder
folglich
(12)
Wir bezeichnen mit 2 die Summe der drei Aus-
drücke, die durch cyklische Vertauschung der Variabein
Ç, /;, 'Ç folgen. Dann geben die Gleichungen (11)
und (12):
dx
d d$ a dÇ 2 /dy dp
dz dp
dz dy p V dç dz
dç dy
dç 1 dy dp dz dp
dz p dç dz dç dy
, u. s.
dx dç
dç dx
P
dp
dx" '
, dx
dx d ÂÇ
df dy
dx dç dp_
dç dx dy
dx
v dy df
df dx
diy
dx dç
0
dç dz
Dividieren wir die zweite dieser Gleichungen mit
p2 und differenzieren wir dann nach y, so folgt:
r dx , dx
v 1 dx d? d-ç ( dç 1 d-p 1 /"dp
p2 dç dy2 dxdy dy p dy- ir\dy
und ähnlich:
,2 dy , dy
v 1 dy àë ' à*$ cl cîë_
p- dç dx'2 ' dxdy dx p dx2 p2 V dx
— 166 —
mithin :
dx _d? dy d? /d*p d'p\ /dpV /dp Y
d£ dy2 de dx2 P^dx2 dy2y ^dXyl V^dy
Wir finden aber auch :
y dx de ddf d2P /dPV
Z dç dy2 ~^\ dy / Pdy2i~lvdyy' '
cpdy /diZ.\2
dy__df , _d£ I d*p , AlpV
21 df dx2 + ~\ dx / Pdx2+tdxJ'
folglich
,g dx
dx C__dJ d_}
df dy2 ~^Z df dx2
1 ^dx2 ^ dy2y/ ~T V^lx
Mit Berücksichtigung von (8) folgt hieraus
dy\2
dp V /dp
^dxy/ "T" V^dy
und dann
,„ dx T., dx
d — d" —
dx dç d2p /dp y vdx ä$ d2p / dpY
d^ dy2 x dy2 V^dx^ d£dz2 'dz2 V^ dx
nach den Gleichungen (10).
Foglich muss sein
d-p d2p d2p
{ } dy2 dz2 dx2 '
— 167
Weiter folgt aus
, dz
I dp = z dç _ df
p dx dz dx
durch Differentiation nach y:
A ^Z 12 C^Z
p d'P _ S? dp = , v d2ç d~c dz " de
dxdy dx dy P dydz dx ' d£ dxdy '
und die letzte Summe verschwindet nach (9).
Aus
, dx
Q = ^ df _d|
dy dz
aber finden wir durch Differentiation nach z:
d ^ d2 -
v _^_i_ __M i 1 v dy d| =
w dydz dz * p2 w dç dz2
■ Somit ist :
d2-
d^P _ dp dp v dy _ch?
1 dxdy dx dy " " ds- dz2 *
Ferner gibt die Gleichung
d ^
n dj> = v dl __di
1 dy ^ df dy
durch Differentiation nach x:
d-> iy d -y d -y
p d2P , dp dp = v dy ds- v dç df _
dxdy "^ dx dy *" de dxdy * dx dy '
, dy , dy . dx n dx
d A à ■£ d tt d
— 168 —
folglich wird
dxdy dx dy dy dx
n dx , dx
_ _df _df
~ ^ dy dx '
da wir in dem ersten AVert x und y vertauschen können.
Wir finden also, dass die zweiten Differentialquo-
tienten -^ — =—, u. s. w. null sein müssen: dann ist =- nur
dydz' dx
Funktion von x, und wegen der Gleichungen (13) -=-g
konstant.
"Wir setzen
d2p d2p d2p 2_
dx^ " " dy2 " dz- == R2
(*"V ^v2 rl1T-' A„l ' -R2 >
wo R eine Länge bedeutet.
Dann folgt durch Integration
dp 2 (x— a)
dx R2
, u. s. w.
und indem wir den Anfangspunkt der x, y, z verlegen,
werden a, /?, y null. Durch nochmalige Integration
ergibt sich:
(15) P=*3+|I+Z' + C.
Die Konstante C bleibt vorläufig unbestimmt.
— 169 —
Wir setzen diesen Wert ein in die Gleichungen
- d,- dx2 ' \dxj ' ~ P dx2 '
d2^
y dx d£_ dp dp
d~~ H/T = ~Ixd"y'
d2 '1Z
5, dx dç _ dp dp
de dy2 dx dz
wo die beiden letztern folgen aus
dx
d2 —
v dJ të = _ dp dp
dç dz2 dx dy
und die erstere aus
d2-
v ^ _d? cFp _ /<W
" df dy2 P dy2 ^dxy) '
und führen die Konstanten a, b, c u. s. w. ein, nach
den Gleichungen (10).
Wir erhalten dann :
Va dx_ 2(x*-y»-za) 2C
" d£ R* E2 '
v dx 4 xy
~ df R* '
v dx _ 4 xz
" ° d~ ~ ~W *
Indem wir diese Gleichungen zweimal nach x
differenzieren, folgt :
4
(16) S a2 == — , 2' ba = 0 , 2' ca = 0 , u. s. w.
— 170 —
Dann ist auch :
a- -f- b2 4- c2 = =rr , u. s. w.
(16a) R4
I a' a"-f V b" -fc'c" = 0, u.s.w.
Durch Auflösen der obigen Gleichungen aber
finden wir:
-=? = (ax -f by + cz) x — »/> a (r2 — C R2) ,
^ = (&' x -f b' y + c' z) x — * •> a' (r2 -f C R2) .
dx
j= = (a" x -f b" y + c"z) x — x .- a" (r2 + C R2) ,
wo zur Abkürzung gesetzt ist:
(17) r2 = x2 + y2-|-z2 .
Nun ist nach (3.a):
dxV
folglich
(^ -f C)2 = x2 1 (ax -j- by -f cz)2 + * 4 fr2 — CR2)2 2' a2 —
— x (r2 — C R2) 2' a (ax -f by -f cz)
= 4 ra x2 _L (r2 4_ c R*)» — 4 (r- — C R2) x2
R
also
C =
= 0
Wir
erhalten s
lomit :
(18)
r2
^R2"
dx
(19) ^ = (ax — by -f cz) x - Va a r2 ,
u. s. w.
171
bia (6)
dç 1 dx -p 4 (ax -f- by -j- cz) x —
'/a ar2
dx p2 àç r4
R4 d ax — by + cz
T
dx
folgt dann weiter:
R4 ax -j- by -f- cz
c
+ A =
oder, wenn wir den Anfangspunkt der (£, ?;, Ç) mit dem
der (x; y, z) zusammenlegen:
.... & R4 ax 4- by 4~ cz
(20) f = - - — ^ r; T , u. s. w.
Setzen wir also
(21) ç2 = f2 + >;2 + ç2 ,
so wird nach (20)
a R4
Q = ^
oder
(22)
r2 q2 = R4 ,
und
ax -
r by
4_
i
2ç
CZ = 5
q
, u. s. w,
Drehen wir endlich das Koordinatensystem (x, y, z)
so um den Anfangspunkt, dass seine Axen mit denen
der (ç, 7], Ç) zusammenfallen, so wird:
— 172 —
X = — V- R2 ^ax -f- by -J- cz) ,
y = -y-2 R2 (a'x -f- b'y -f c'z ,
z = -.Va R2 (a"x -f b'x + c"z) ,
und wir gelangen zu den bekannten Formeln der Trans-
formation mittelst reziproker Radien:
r2 q2 = R1 ,
R3£
A' = — 5- , u. s. w.
Q'
, R2a-
ç = — -=— , U. S. W.
als der einzigen konformen Abbildung eines Raumes in
einem andern Raum.
Über einige Eigenschaften des geschmolzenen
Quarzes.
Von
P. Chappuis.
Die von H. Boys angeregte Anwendung von Quarz-
fäden zum Aufhängen von Galvanometern, Spiegeln und
Magneten lenkte die Aufmerksamkeit der Physiker auf
diese Substanz, deren Eigenschaften besonderes Interesse
verdienen.
Zunächst ist es mit dem Knallgasgebläse gelungen,
grössere Gefässe, Thermometer, Dilatometer und Geiss-
lersche Röhren aus geschmolzenem Quarz zu verfertigen.
Lechatelier erhielt im elektrischen Ofen einen prisma-
tischen Stab von 50 mm Länge und 10 mm Durch-
messer und konnte auf demselben die thermische Aus-
dehnung bestimmen.
Er fand folgende auffallend kleine Ausdehnungs-
coeffizienten zwischen den angegebenen Temperatur -
grenzen
(0".180°) (0°.532°) (0°.588«) (00.700°) (0°.750°) (0".850°)
Cœff.Xl08= 28 71 85 107 120 74
Bei der Kleinheit der Längenänderungen treten die
Unregelmässigkeiten der Beobachtungen zu stark her-
vor, alsdass man aus diesen Zahlen einen Schluss über die
Änderung der Ausdehnung mit der Temperatur ziehen
könnte. Doch zeigt der Vergleich mit dem sich wenig
— 174 —
ausdehnenden Platin , dass zwischen 0° und 700° der
mittlere Ausdehnungscœffizient des geschmolzenen Quar-
zes nur '/'.itel desjenigen des Platins beträgt. Eine
Bestätigung dieser Beobachtung kann man in der be-
kannten Thatsache erblicken, dass der geschmolzene
Quarz ohne Gefahr des Zerspringens glühend in Wasser
getaucht werden kann.
Indessen schien mir eine genauere Bestimmung der
Ausdehnung wünschenswert. Ich verfertigte zu diesem
Zwecke aus geschmolzenem Quarz einen Cylinder von
zirka 10 mm Durchmesser und 15 mm Länge und Hess
die beiden Endflächen desselben plan und parallel
schleifen. Die Bestimmung der Ausdehnung geschah
mit dem Fizeauschen Apparat des internationalen Maass-
und Gewichts-Bureau's in Sèvres. Die Konstanten dieses
Apparates sind bekanntlich von H. Dr. Benoît zwischen
0° und 80° mit ausserordentlicher Sorgfalt und Ge-
nauigkeit bestimmt worden. Da die von mir befolgte
Methode bereits von Dr. Benoît im Bd. VI. der „Travaux
et. Mémoires du Bureau international des Poids et Me-
sures" ausführlich beschrieben worden ist, werde ich mich
mit der Mitteilung der Beobachtungen begnügen und
verweise für nähere Details auf die genannte Abhandlung.
Bei dem kleinen Querschnitt des Quarzstückes war
es nicht möglich, die Beobachtung der Fransen auf mehr
als 7 Punkte zu beziehen. Das Bild der Fransen im
Beobachtungsfernrohr mit den Referenzmarken wird
in Figur 1 dargestellt.
Fig1
— 175
Die Messungen ergaben für die Höhe des Cylinders:
E -- 14,765 mm
und für die Dicke der Luftschicht zwischen Quarz und
Linse :
e = 0,037 mm.
Die im Oktober 11)01 ausgeführten Beobachtungen
sind in ihrer Reihenfolge in nachstehender Tabelle mit
den zugehörigen Korrektionen zusammengestellt worden.
Die Temperaturen wurden an 4 Quecksilberthermo-
metern abgelesen, deren Gelasse sich in unmittelbarer
Nähe des Platiniridiumdreifusses befanden. Zwei dieser
Thermometer wurden zwischen 0° und 50°, die 2 anderen
zwischen 50° und 100° beobachtet.
Die Abweichungen der Angaben dieser gut ver-
glichenen Instrumente betragen ausnahmsweise 4 Hundert-
stel Grad und sind im allgemeinen kleiner als 2 Hun-
dertstel.
Nach der Regulierung der Temperatur wurde der
Apparat während wenigstens 6 Stunden sich selbst über-
lassen, um den vollständigen thermischen Ausgleich
zu sichern. Die Beobachtungen folgten gewöhnlich in
Zeiträumen von 12 Stunden auf einander.
Zusammenstellung der Beobachtungen.
Mittel der
Datum Barometer Temperatur Fransenab- Corrigiertes
1901 auf 0° reducieri (Normalskalei lesunp Correction Mittel
f f
83,359 52,14 -f 0,009 52,149
79,975 50,71 + 9 50,719
70,481 46,73 -f 8 46,738
57,826 41,46 -f 7 41,467
48,649 37,59 + 5 37,595
42,500 35,12 -f 5 35,125
30,311 30,05 -f 4 30,054
8.
Okt.
, a. m.
752,79
8.
•i
p. m.
749,87
9.
n
a. m.
749,15
9.
n
p. m.
757,03
10.
»
a. m.
763,03
10.
h
p. m.
762,77
11.
n
p. m.
759,94
- 176 —
18,003
15,746
24,738
34,997
40,401
62,926
73,626
84,233
74,837
67,742
60,639
44,360
55,342
14,634
38,253
33,749
23,422
13,610
1,867
1,611
2,065
10,229
Diese Beobachtungen lassen sich durch eine Inter-
polationsformel von der Form
x -}- t y -j- t2z = n
darstellen, worin t die Temperaturen, n die korrigierten
Mittel und x, y, z die Konstanten bezeichnen, welche
mit Hilfe der Methode der kleinsten Quadrate zu be-
rechnen sind. Man erhält demnach für diese Konstanten:
x = -f 17,537 686 9
y == -j- 0,412 630 52
z = 4- 0,000 025 894
Vergleicht man die aus obiger Funktion berech-
neten Werte mit den Beobachtungen, so erhalt man
12.
Okt.
a. m.
758,74
12.
r>
p. m.
757,33
13.
•n
a. m.
758,62
13.
J)
p. m.
757,25
14.
11
a. m.
755,55
14.
11
p. m.
753,50
15.
»
a. m.
751,25
16.
H
a. m.
748,25
17.
»
a. m.
747,53
17.
n
p. m.
748,78
18.
»
a. m.
748,04
18.
n
p. m.
746,22
19.
n
a. in.
750,04
20,
il
p. m.
752,75
21.
n
a. m.
750,71
21.
n
p. m.
751,71
22.
ii
a. m.
752,27
23.
n
a. m.
758,39
25.
)5
a. m.
758,76
25.
51
p. m.
757,48
26.
n
a. m.
759,69
28.
M
a. m.
765.20
25,03
+
2
25,032
24,04
+
2
24,042
27,79
f
3
27,793
32,02
+
4
32,024
34,24
i
T
5
34,245
43,64
H-
7
43,647
48,04
+
8
48,048
52,46
+
9
52,469
48,54
+
8
48,548
45,59
+
8
45,598
42.66
-j-
7
42.667
35,89
+
5
35,895
40,43
-j-
6
40,436
23,58
+
2
33,582
33,36
+
5
33,365
31,48
-j-
4
31,484
27,23
+
3
27,233
23,17
-f-
2
23,172
18,29
0
18,290
18,17
0
18,170
18,37
0
18,370
21.78
+
1
21,781
— 177 —
füllende in Fransen ausgedrückte übrigbleibende Fehler
Beob.-Bereclin.
Beob.-Berechr
i. Beob.-Berechn.
f.
f.
f.
1 -f 0,03
11
+ 0,01
21
0,00
2 -f 0,02
12
- 0,01
22
-f 0,01
3 - 0,01
13
-f 0,04
23
— 0,01
4 — 0,02
14
- 0,01
24
+ 0,02
5 — 0,08
15
- 0,01
25
+ 0,01
6 -f 0,00
16
— 0,01
26
— 0,02
7 — 0,01
17
— 0,01
27
— 0,03
8 + 0,06
18
+ <>,01
28
— 0,02
9 -j- 0,00
19
+ 0,00
29
+ 0,02
10 -f 0,03
20
— 0,02
Aus den von
H. Di
•. Benoît
bestimmten Ausdeh-
nungscoefficienten der Dreifussschrauben aus Platiniridium
a' _■= -j- 0,000 008 597 6 ; ß' = 0,000 000 001 663,
der Wellenlänge des benutzten Natriumlichtes :
~ = 0,000 294 648 5 mm
ù
und den obigen Bestimmungen der Längen des Quarz-
stückes und der Schrauben
E0 = 14,765, L0 = 14,802 mm,
und schliesslich der relativen Coefficienten y und z lassen
sich die Ausdehnungscoefficienten des geschmolzenen
Quarzes nach den Formeln
Lo« ■ - y 2 L°tr ~ z 2
ß =-
E0 E0
berechnen. l)
Man erhält auf diese Weise folgenden Ausdruck
für die lineare Ausdehnung des geschmolzenen Quarzes :
L1? = L0(l + 0,000 000 384 741 t -f 0,000 000 001 150 t2)
!) Siehe Trav. et Mém. Bd. VI. p. 112.
12
— 178 —
Obige Formel gilt streng genommen nur für das Tem-
peraturintervall (0° — 83°). Extrapoliert mau aber nach
diesem Ausdruck zur Vergleicbung mit Lechateliers
Resultaten, so findet man für die entsprechenden Tem-
peraturen die mittleren mit 108 multiplicirten Coeffi-
cienten :
(0°.180°) (0°.532°) (0°.588°) (00.700°) (0".75O°i (00.850°;
59 100 106 11<> 125 136
Diese Werte stimmen der Grössenordnung nach
befriedigend mit Herrn Lechateliers Beobachtungen.
Die sehr geringe Ausdehnung des geschmolzenen
Quarzes, sowie die grosse Festigkeit desselben und das
gänzliche Fehlen von elastischen und thermischen Nach-
wirkungen bei gewöhnlicher Temperatur empfehlen den
geschmolzenen Quarz zu thermometrischen Zwecken und
besonders zur Verfertigung von Gasthermometergefässen.
Allerdings bietet die Bearbeitung der erst bei hoher Tem-
peratur flüssigwerdenden Masse beträchliche Schwierig-
keiten, doch sind von Zeiss in Jena schon Quarzplatten
von nahezu einem Centimeter Dicke im elektrischen Ofen
erhalten worden, und es lassen sich auch von der Ver-
wendung des Acetylens mit Sauerstoff neue Fortschritte
erwarten.
Xach einem nicht veröffentlichten Versuch von Dr.
Villard in Paris soll der geschmolzene Quarz bei hoher
Temperatur für Wasserstoff durchlässig sein. Wenn
diese Durchlässigkeit auch geringer wäre, als die vorn
Platin, so würden doch die Vorteile der Verwendung
des Quarzes als thermometrisches Gefäss dadurch sehr
vermindert.
Um die erwähnte Durchlässigkeit zu prüfen, habe
ich folgende Versuche angestellt, welche die Beobachtung
von Dr. Villard bestätigen.
17!)
Eine Quarzröhre von circa 0,5 mm Wandstärke
wurde an einem Ende zu einer feinen Spitze ausgezogen
und zugeschmolzen. Das andere Ende wurde mittelst
Kitt mit Quecksilberverschluss an eine Kahlbaum' sehe
Quecksilberpumpe angeschlossen und möglichst weit
evaeuiert. Nach Einstellung der Pumpe beobachtete
man mit Hilfe des Mac Leod Volummeters die regel-
mässig stattfindende langsame Zunahme des Druckes
im ganzen Apparat. Dann wurde die Quarzspitze in
den heissesten Teil eines Bunsen'schen Brenners gebracht
und somit glühend von dem in der Flamme reichlich
vorhandenen Wasserstoff umgeben. Die Zunahme des
Druckes wurde dann etwas stärker befunden. Bei fort-
gesetzter Erhitzung bemerkte ich, dass das Quarzrohr,
welches anfangs kaum sichtbar war, nach und nach zu
leuchten anfing und schliesslich wie ein Metallrohr glühte.
Es zeigte sich nach der Abkühlung im Innern der
Röhre ein schwarzer Überzug, vermutlich aus reduziertem
Silicium bestehend, von dem das Licht herrührt. Ein
zweiter Versuch, der unter denselben Bedingungen, aber
mit einem neuen Quarzrohr ausgeführt wurde, ergab
ein ähnliches Resultat ; dagegen bemerkte ich keine
Schwärzung in einem Quarzrohr, welches luftleergepumpt
und an beiden Enden zugeschmolzen war.
Wenn die obigen Versuche als eine Bestätigung der
Beobachtung von Dr. Villard betrachtet werden können,
so erlauben sie doch keine genaue Messung der Menge
des durch die Wände hindurch gedrungenen Gases. Ich
suchte daher das diffundierte Gas auf andere Weise
sichtbar zu machen und in einem kleineren Raum auf-
zufangen. Dies gelang auf folgendem Wege :
Es wurde ein U förmiges Rohr aus Quarz verfertigt,
dessen langer Schenkel circa 12 cm hatte und in eine
5 cm lange Spitze auslief. Der kurze Schenkel wurde
— 180 —
mit einer kleinen Kugel versehen und trug ebenfalls
ein Capillarrohr. Fig. 2.
Das ganze Rohr wird nun im Vacuum mit Queck-
silber gefüllt und wie ein gewöhnlicher Manometer aus-
gekocht. Man schafft etwas Quecksilber aus der Kugel
und schmilzt das Rohr in c ab mit dem Knallgasgebläse.
Wird die gefüllte Röhre flach gelegt, so tritt infolge
der Capillarität das Quecksilber aus dem engen Rohr
der Spitze und stellt sich etwa in a ein. Erhitzt man
die Spitze mit dem Bunsenbrenner, so sieht man bald
ein Zurückweichen des Meniskus, das sich nur durch
die Einführung von Gas in den abgeschlossenen Raum
erklären lässt. Wenn die Flamme entfernt wird, so
bleibt der Meniscus etwa in b stehen und erfährt nach
jeder Erhitzung eine neue Verschiebung.
Die Analogie dieses Verhaltens des geschmolzenen
Quarzes mit demjenigen des Platins, welches bekanntlich
von Dr. Villard in sinnreicher Weise zur Regulierung
des Druckes in den Crookeschen Ampullen verwendet
wird, hat mich veranlasst, das durch Diffusion einge-
drungene Gas auf demselben Wege wieder zu entfernen.
Es genügt hierzu, das Rohr in einer wasserstoffreien
Atmosphäre zu erhitzen. Das Quarzrohr wird zu diesem
Zwecke mit einem weiten, an beiden Enden offenen
Platinrohr umgeben. Beim Erhitzen hat man darauf zu
achten, dass die Flammengase nicht in das Rohr ein-
dringen, und dass Quarz und Platin sich nirgends be-
rühren, da das Platin vom Quarz angegriffen wird.
— 181 —
Es dringen wohl durch Diffusion Spuren von Wasser-
stoff' in den inneren Raum, dort verbrennen sie aber
beim Zutritt der Luft und kommen nicht mit dem Quarz-
rohr in Berührung. Nach mehrstündiger Erhitzung kann
auf diese Weise das hineinditfundierte Gas durch den
umgekehrten Prozess wieder herausgeschafft werden.
Was die Durchlässigkeit des geschmolzenen Quarzes
betrifft, so lassen sich nur annähernde Angaben aus den
Versuchen ableiten, weil die Dicke der Quarz wand nicht
gleichmässig ist und die erhitzte Oberfläche nicht genau
bestimmt werden kann. Es sollen daher die nachstehenden
Zahlen nur zur Bestimmung der Grössenordnung der
Durchlässigkeit dienen :
Länge des erhitzten Rohrteiles 15 mm
Äusserer Durchmesser des Rohres 1 mm
Dicke der Wandungen 0,2 mm
Die nach sechsstündigem Erhitzen durchgelassene
Gasmenge betrug zirka 35 Kubikmillimeter bei 10 mm
Quecksilberdruck.
Aus dem Vorhergesagten ist mit grosser Wahr-
scheinlichkeit zu schliessen, dass das diffundierte Gas
AVasserstott' ist.
Bestimmung des spezifischen Gewichtes des geschmolzenen
Quarzes.
Nach den früheren Angaben1) von Rose und Deville
ist die Dichte der aus Silicaten bereiteten amorphen
Kieselsäure und des geschmolzenen Quarzes — 2,2.
Eine neue Bestimmung dieser Konstante . welche
ich an einem selbst bereiteten Stäbchen geschmolzenen
Quarzes ausführte, ergab 2.192; doch ist dieser Wert
jedenfalls etwas zu klein, da das Stück leicht sichtbare
Bläschen enthielt.
!) Landolt und ßörnstein. Physik. Tabellen. 8. 140.
182
Durch die grosse Freundlichkeit der Firma Zeiss
in Jena wurde es mir möglich, über eine vollkommen
klare Linse aus geschmolzenem Quarz zu verfügen. Diese
lieferte folgende Resultate:
Masse des Quarzstückes 13 g 40-4, 6 mg
Volum bei 0° 6 ml 0885
Spez. Gewicht bei 0° 2,2016
Umwandlungstemperatur.
Über die Umwandlung des kristallinischen Quarzes in
den geschmolzenen Zustand liegen nur unvollständige Be-
obachtungen vor. Sowohl die optischen Eigenschaften als
die Ausdehnung und das spez. Gewicht der beiden Mo-
difikationen der Kieselsäure lassen vermuten, dass der
Übergang kein stetiger ist. Beim Erwärmen von kry-
stallinischem Quarz zerspringen grössere Stücke bei der
Botglut. Doch kann man bei vorsichtiger Erwärmung
kleinere Quarzplatten auf viel höhere Temperaturen er-
hitzen, ohne dass sie zerfallen oder die Krystallstruktur
verlieren.
Eine 8 mm dicke Quarzplatte, welche in polari-
siertem Licht verschiedene Makel zeigte, wurde in einem
Ofen der Porzellanfabrik in Sèvres längere Zeit auf
1300° erhitzt. Sie zerfiel dabei in grössere Stücke,
welche optisch untersucht, genau dieselbe Struktur
zeigten wie zuvor. Die vor dem Zerfallen beobachteten
scharfen Bänder der Platte blieben ebenfalls unverändert.
Die Herren Mallard und Lechatelier, r) welche die
optischen Eigenschaften des Quarzes bei höheren Tem-
peraturen untersuchten, fanden, dass dieselben bei 570"
eine plötzliche Änderung erleiden, unterhalb und ober-
halb dieser Temperatur aber nur stetige Änderungen
i) Annales de C&im. et de Phys. 7me S. t. VI. 92; 1895.
188
zeigen. Der kritische Punkt bei 570° wurde sowohl
bei steigender als bei sinkender Temperatur beobachtet
und scheint durch die Entwicklung von starken Span-
nungen bedingt, welche sich durch das erwähnte Zer-
springen der grösseren Quarzstücke in der Rotglut
kundgeben.
Die eigentliche Umwandlung muss nach dem Vor-
hergehenden bei einer höher als 1300° liegenden Tem-
peratur stattfinden. Wenn man am Knallgasgebläse das
Schmelzen von kleineren Quarzkrystallen beobachtet, so
sieht man in der That erst im Augenblick, wo die scharfen
Kanten in der Weissglut zu schmelzen anfangen, class
eine Zersplitterung der ganzen Masse eintritt, wodurch
dieselbe undurchsichtig wird. Grössere Stücke, welche
durch eine oberflächliche geschmolzene Quarzschicht
nicht zusammengehalten werden, zerfallen bei dieser
Temperatur, die offenbar der Umwandlung entspricht.
Man darf sich also nicht der Hoffnung hingeben,
grössere krystallinische Quarzplatten ohne Zersplitterung
in die amorphe Modifikation umwandeln zu können.
Basel, September 1902.
Über die Synthese von Phenyloxytriazolen und über
„sterische" und „chemische" Hinderung.
Von
Hans Hupe.
(Bearbeitet mit Herrn G. Metz.)
Vor drei Jahren Laben Rupe und Labhardt ') eine
neue Synthese von Phenyloxytriazolen beschrieben. Sie
erhielten bei der Einwirkung von Harnstoffchlorid (Car-
baminsäurechlorid) auf ß-Acidylphenylhydrazine nicht,
wie erwartet werden konnte, das noch unbekannte ß-
Phenylsemicarbazid, sondern, indem die Reaktion sogleich
unter Wasserabspaltung und Ringschluss weiter geht,
Phenyloxytriazole :
XH - CO ■ R
+ Cl • CO • NH2 =
Ce H5 - NH
XH - CO - R
C0H5-X-CO-NH2
intermediär, nicht beständig
R
N=C/
CeHs-N-CO
>NH + H20
N = C/R
l XN.
C,;H, X-CXQH
a) Rupe und Labhardt, Ber. der deutsch, ehem. Ges. 33, 233
(1900).
— 185 —
Diese ganz allgemeine Methode versagte indessen
als für R ein rein aromatischer Rest angewandt, d. h.
als /?-Benzoylphenylhydrazin
NH - CO • C6 H5
I
Ce H5 - NH
mit Harnstoffchlorid in Reaktion gebracht wurde. In
diesem Falle entstand keine Spur eines Diphenyloxy-
Iriazols, ja das Carbaminsäurechlorid reagierte überhaupt
nicht mit dem Benzoylphenylhydrazin. Rupe lind Lab-
liardt stellten es damals als sehr wahrscheinlich hin, dass
hier ein Fall von „sterischer Hinderung" vorliege, indem
sie annahmen, dass der Benzolrest infolge seiner Raum-
erfüllung eine Wasserabspaltung, beziehungsweise ein
Herantreten der Amidgruppe an das Carbonyl der Ben-
zoesäure unmöglich mache.
Seit vor etwa 8 oder 10 Jahren der Begriff der
sterischen Hinderung durch Kehr mann1), V. Meyer2),
Pinner3) und andere in die organische Chemie einge-
führt worden ist, sind viele Fälle, bei denen eine che-
mische Reaktion ausblieb oder nicht normal verlief, bei
sonst als reaktionsfähig bekannten Atomgruppierungen,
damit erklärt worden. Auch die oben gebrachte An-
schauung von Rupe und Labhardt schien darin eine Stütze
zu rinden, dass die Reaktion, also die Ringschliessung
zu einem Oxytriazolderivat, bei dem ß-Phenytacetylphenyl-
hydrazin sich glatt vollzog, weil nun der raumerfüllende,
sterisch hindernde Benzolkern durch das Dazwischen-
treten einer Alkylgruppe in grössere Entfernung ge-
rückt wurde:
]) Kehrmann, Ber. der deutsch, ehem. Ges. 2:1, 130 (1890).
-I V. Meyer, Ber. der deutsch, ehem. Ges. 27, 510, 1580 u.
3146 (1891); 28, 182, 1254, 2773, 3! 97; 29, 1397.
3) Pinner, Ber. der deutsch, ehem. Ges. 23, 2917 (1890).
— 186
XH - CO • CH2 • Ce H,
I
Ce £h - NH + Cl • CO • NH2
XH - CO • CH2 - Ce H,
HCl ! -Ce H:, -N-CONH2
N = c/CH2.CeHg
i >N
(V,H, -N-CX()H
Es schien mir aber clocli von Interesse zu sein, diese
Erscheinungen weiter zu verfolgen und sicher festzu-
stellen, ob es sich hier wirklich um eine räumliche
Hinderung handelt. Denn es kann nicht verschwiegen
werden, dass in letzter Zeit von dem Begriffe der „ste-
rischen Hinderung'- eine etwas zu weitgehende Anwen-
dung gemacht wurde, hat doch auch E. Fischer1) vor
kurzem auf diese Thatsache hingewiesen. Dies wächtige
Gebiet der Stereochemie mit seinen natürlichen Grenzen
zu umgeben, muss jetzt die Aufgabe aller derjenigen
sein, die sich mit solchen Dingen beschäftigen.
Diese Betrachtungen waren es, welche zu der vor-
liegenden Untersuchung geführt haben. Sie wurde von
zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus in Angriff ge-
nommen. Erstens galt es festzustellen, ob auch bei An-
wesenheit eines vollkommen hydrierten Benzolresles die
Reaktion mit Harnstoffchlorid und die Bildung eines
Oxytriazolringes ausbleibe. Es wurde zu diesem Zwecke
das noch unbekannte Phenylhydrazid der Hexahydro-
benzoesäure mit Harnstoffchlorid in Wechselwirkung ge-
bracht. Nach Analogie hätte man erwarten dürfen, dass
sich das Hexahydrobenzo) lderivat genau so wie das Ben-
zoylderivat selbst verhalten würde. Denn während be-
kanntlich die rein aromatischen Ketone ar. — CO — ar.
') E. Fischer, ßer. der deutsch, ehem. Ges. 35, .S45 (1902).
— 187
zwei stereoisomere Oxime (syii- und anti-Form) liefern,
hat man von rein aliphatischen aliph. — CO — aliph. und
gemischt aromatisch-aliphatischen : ar. - CO — aliph. Ke-
tonen immer nur 1 Oxim erhalten können.
V. Meyer und Scharvin1) machten nun die interes-
sante Entdeckung, dass, wenn der zweite Benzolkern
vollkommen hydriert ist, also heim HexahydrobetlZO-
ph&non Co Hs - CO - Co Hu , ebenfalls 2 Oxime sich
bilden, dies Keton verhält sich also genau wie das Ben-
zophenon Co Hs — CO - Co Ha , und im vergangenen
Sommer hat Scharvin 2) die gleiche Beobachtung bei dem
Tetrahydronaphtyl-phenylketon Co Hd - CO - CioHn ge-
macht. Es hat mich aus diesem Grunde einigermassen
überrascht, dass im Hexahydrobenzoyl- Phenylhydrazin
der hydrierte Benzolrest sich genau so wie eine rein
aliphatische Gruppe verhielt, denn es entstand mit Harn-
stoffchlorid glatt das l-Phenyl-3-hexahydrophenyl-5-oxy-
triazol:
NH-CO-OeHii
Co Hö - NH + Ol • CO • NH2
N=c/CoHn
\ \
Co Hr> - N - C ( rATT ' H C1 + m °"
\ Uli
Aber die Analogie mit den aliphatischen Säureresten
geht noch weiter; gerade so wie bei dem von Rupe und
Labhardt untersuchten ß-Formyt, - ß-Acetyl - und ß-Pro-
pionyl-Phenylhydrazin bildet sich auch bei Anwendung
von ß-Hexahydrobenzoylphenylhydrazin zunächst ein De-
rivat des Oxytriazols mit der Gruppe - CO ■ ISlli :
1) V. Meyer und Scharvin, Bei*, der deutsch, ehem. Ges. 30,
1940. 2862 (1897).
-j Scharvin. Her. der deutsch, ehem. Ges. 33, 2511 (1902).
AT n * '
>N-CONH2
Ce Hs - N - C / Q
aus welchem leicht durch Behandeln mit Alkalien der
Harnstoffrest entfernt werden kann.
Daraus, dass sich der Rest der Hexahydrobenzoe-
säure bei dieser Reaktion gerade so wie derjenige einer
rein aliphatischen Säure verhält, inuss der Schluss ge-
zogen werden, dass das entgegengesetzte Verhalten des
Benzoylphenylhydrazins, welches mit Harnstoffchlorid
keinen Ring liefert, nicht auf sterische Hinderung zurück-
zuführen ist. Denn es ist zweifellos, dass die Raum-
erfüllung des Benzoyl- und des Hexahydrobenzoyl-Restes
annähernd die gleiche ist, beides sind, und das ist hier
das wesentlichste, Ringe. Der ganze bedeutende Unter-
schied zwischen den beiden Phenylhydrazinderivaten ist
lediglich auf die grosse chemische Verschiedenheit der
beiden Säureradikale zurückzuführen. Die Benzoesäure
wird durch die Hydrierung in ihrem chemischen Cha-
rakter tiefgreifend verändert, die Hexahydrobenzoesäure
steht einer aliphatischen Säure mit gleich viel Kohlen-
stoffatomen viel näher, sie hat nichts mehr von dem
spezifisch „aromatischen" Charakter der Benzoesäure,
sie ist mithin ein viel mehr positives System und von weit
höherem Sättigungszustand wie diese1). Wird aber der
negative Charakter der Benzoylgruppe durch Dazwischen-
treten eines positiven Alkylrestes abgeschwächt, so kann
die Reaktion, d. h. die Ringbildung wieder sich voll-
ziehen, wie das in der That bei dem Phenylhydrazide
der Phenylessigsäure von mir schon früher beobachtet
wurde. Ein weiterer Beweis für die Ansicht, dass es
i) Eine plausible Erklärung für die Erscheinung, dass nur rein
aromatische Ketone 2 stereoisomere Oxime geben, ist wohl noch
nicht gefunden worden.
— . 189
nicht die Raumerfüllung des Ringes ist, welche im Falle
der Phenyloxytriazolsynthese mit Aryl-Phenylhydrazinen
die Reaktion hemmt, bildet der zweite Teil der vor-
liegenden Arbeit.
Es handelte sich nämlich in zweiter Linie darum':
zu untersuchen, in welcher Weise diese Oxytriazolsyn-
these durch eine in der Nähe des (ß-acidyl) Car-
bonyls befindliche Doppelbindung beeinrlusst wird. Haben
wir es doch, Avie zahlreiche Arbeiten der letzten Jahre
zeigten, bei einem durch Doppelbindung verknüpften
Komplexe von 2 Kohlenstoffatomen mit einem ausge-
prägt negativen Systeme zu thun: - C = C — .
Thatsächlich wird nun auch durch die Anwesenheit
einer solchen Doppelbindung die Bildung der Phenyl-
oxytriazole ganz bedeutend gehemmt, ja sogar unter
Umständen ganz unmöglich gemacht. Zur Verwendung
gelangten die Phenylhydrazide der Crotonsäure und der
Zimmtsäure; um den Verlauf der Synthese quantitativ
verfolgen zu können, musste dieselbe auch mit den Phe-
nylhydraziden der entsprechenden gesättigten Säuren,
also mit denjenigen der n- Butter säure und der Hydro-
zimmtsäure ausgeführt werden.
Während mit n-Butyryl-Phenylhydrazin und Harn-
stoffchlorid sich das t-Plienyl-3-propyl-5-oxytriazol leicht
bildet:
NH - CO • CH2 - CH2 - CH,
| + Cl • CO • NH> =
CV,H5 -NH
T^r _ p / CH2 — CH'J — CH3
C,. H N P N +HCI + H2O
1 - Phenyl-3-pröpyl-5-oxytriazol
erhält man bei der Einwirkung von Carbamiitsäurecltlorid
— 190
auf ß-Grotonyl-Phenylhydrazm unter sonst ganz gleichen
Bedingungen nur etwa ein Viertel der Ausbeute an Oxy-
triazol im Vergleiche mit derjenigen des Propylderi-
vates :
XH - CO • CH = CH - CH3
+ Cl • CO • NH2 =
Cg H5 - N H
„ ~ - CH = CH — CH3
I >N
Ce H.j =rf-C\ /-xrT
x OH
l-Phenyl-3-propenyi-5-oxytriazol
Ferner entsteht bei der Bildung des Propylderivates
ebenso wie bei der Synthese der übrigen mit alipha-
tischer Seitenkette zuerst ein Harnstoff-Derivat:
-_ p\ / CH2 — CH-2 — CH3
\N-CO-NH2
C6H5-N-C< Q
bei dem Propenyl-phenyloxytriazol dagegen, wohl wegen
der ausgeprägt sauren Eigenschaften der ungesättigten
Seitenkette, kein solches.
Lässt man auf ß-Hydrocinnamyl- Phenylhydrazin
Harnstoffchlorid einwirken, so bildet sich, allerdings in
nicht ganz befriedigender Ausbeute, was auch auf die
Anwesenheit des negativen, ungesättigten Benzolrestes
zurückzuführen ist, das l-Phenyl-3-phenylaethyl-S-oxy-
triazol:
\T f 1 / ^-^- — CH2 — Co H.-.
I ~ >N
CoH,-N-C<OH
Versucht man aber, unter gleichen Bedingungen
(in Benzollösung) Harnst off chlor hl und ß-Cinnamyl-Phe-
nylhydrazin'.
— 191
NH - CO - CH = OH - Co H,
I
Co H3 - NH
auf einander einwirken zu lassen, so erhält man kein
Oxytriazol, sondern das Ausgangsmaterial wird so gut
wie vollständig zurückgewonnen.
Auch unter veränderten Versuchsbedingungen, hei
höherer Temperatur (in Toluollösung), konnte das ge-
suchte i-Phenyl-3-phenylaethylen-ö-oxylriazol:
N = c/CH = CH_CoH,
GH^-C"0H.
nicht dargestellt werden.
Man sieht, wie sich hier der negative, reaktions-
hemmende Einfluss der Doppelbindung in weit be-
deutenderem Maasse bemerkbar macht, als bei einer
rein aliphatischen ungesättigten Seitenkette. Die Wir-
kungen der Gruppen - CH = CH - und - Co Hr, - ad-
dieren sich, so dass, trotz der grösseren Entfernung des
Benzolkernes, das Ergebnis dasselbe ist, als wenn dieser
unmittelbar mit dem Phenylhydrazin verbunden wäre.
Alle diese Reaktionen zeigen, dass wir es hier mit
einer chemischen Umsetzung zu thun haben, die durch
negative oder ungesättigte Atomgruppen stark gehemmt,
ja sogar unter Umständen vollständig unmöglich ge-
macht wird, der Phenylrest muss hiebei, ganz im Sinne
unserer modernen Anschauungen, ebenfalls als unge-
sättigtes Radikal betrachtet werden. Dagegen spielen
sterische Einflüsse hier keine Rolle. Unzweifelhaft ste-
rische Hinderung ist bei der Hemmung einer
Reaktion nur dann anzunehmen, wenn diese
durch positive und durch negative Gruppen in
gleicher Weise herbeigeführt wird. Es würde
— 192 —
vielleicht angebracht sein, für jene, nicht auf sterischer
Hinderung beruhende Hemmung eine Bezeichnung einzu-
führen, ich schlage dafür „chemische Hinderung" vor.
Was die oben erwähnten primären Einwirkungs-
produkte von Harnstoff chlorid auf die Phenylhydrazide
gesättigter aliphatischer Säuren und der Hexahydroben-
zoesäure betrifft, so haben Hupe und Labhardt schon
früher angenommen, dass solche Körper die Gruppe
- CO • NH2 an Stickstoff gebunden haben, nach Art der
Harnstoffe:
N = c /R(aliph)
^N-CO-NHa
CgHd-N-C7
I
und dass erst nach der Abspaltung der Gruppe - CO
NH2 (durch Hydrolyse) eine Umlagerung zum Oxytriazol
stattfindet :
N = C/E
1 > N - CO • NH,
CoHö-N-r
1 H. 0 = CO. + NHa 1 N = C / R N = C / J
^NH= I XX
( V, H, - N - CO 7 CâHo -N- C Ç
Indessen wäre natürlich auch die Entstehung von
Verbindungen nach Art der Urethane möglich :
R
\N
I
C6H5-N-CXo co NH3
Die Untersuchung der Acetylderivate der Phenyl-
oxytriazole — es wurden während der vorliegenden Arbeil
dargestellt das Acetylprodukt des Hexahydrophenyl-, des
193
Phenylaethyl- und des Propyl-phenyloxytriazols — zeigte
eine weitgehende Analogie im Verhalten dieser Acidyl-
und jener Kohlensäure-Abkömmlinge; beide sind gleich
unbeständig und leicht zersetzlich. Es würde mich dies
zu der Ansicht geführt haben, dass beide Körperklassen
Sauerstoffderivate seien, dass also die zweite, die Ure-
thanformel, für die primären Einwirkungsprodukte von
Harnstoffchlorid auf /?-Acidyl-Phenylhydrazine (mit aliph.
Säureresten) anzunehmen sei.
Nun hat jedoch vor kurzem Posner1) die interes-
sante Beobachtung gemacht, dass bei der Umsetzung
von ß-Uikctonen mit Semicarbazid Ringe entstehen,
welche ebenfalls die Gruppe — CO — NH2 enthalten, und
zwar unzweifelhaft an Stickstoff gebunden:
CH3 - C CH = C - CH3
N- -N - CO • NH2
3-5-Dimethyl-pyrazolcarbamid von Posner.
N = C / Cc Hl '
J > N - CO • NH2
C6 H.-, - N - C /
l-Phenyl-3-hexahydrophenyl-5-triazolon-4-carbonamid
von Hupe und Metz.
Diese Carbonamide Posner'' s sind nun ebenfalls
äusserst unbeständig und spalten die Gruppe — CO • NH-2
sehr leicht ab, so dass also die grosse Labilität unserer
Triazolon-Carbonamide nicht gegen die früher aufge-
stellte Konstitutionsformel I spricht. Mit aller Sicher-
heit lässt sich allerdings die Konstitution dieser labilen
Verbindungen, die stets die Existenz zweier desmotropen
Formen zulassen, vorläufig noch nicht bestimmen.
1) Posner, lier, der deutsch, ehem. Ges. 34, 3973 (1!H)1).
13
— 194
Experimenteller Teil.
Chlorid der Ilexahydrobenzoesäure.
Das scharf getrocknete Natriumsalz der Hexahydro-
benzoesäure *) wurde, in trockenem Benzol suspendiert,
mit frisch über Caliumphospat destilliertem Phosphor-
oxychlorid versetzt (2 Mol. Gew. Natriumsalz, 1 Mol.
Gew. Phosphoroxychlorid) und eine halbe Stunde unter
ßückfluss gekocht. Die Lösung des Säurechlorides wurde
vom Natriummetaphosphat abgezogen und der Rückstand
mit Äther nachgewaschen.
ß-IIexaliydrobenzoyl-pheiiyHiydraziii.
Co Ho - NH - NH - CO - Co Hn
Die Lösung von 2 Mol. Gew. Phenylhydrazin in
dem doppelten Volum Äther wurde in einem mit Rück-
flusskühler versehenen Kolben unter guter Kühlung vor-
sichtig mit der Lösung des Säurechlorides (1 Mol. Gew.)
versetzt. Nach beendigter Reaktion wurde vom ausge-
fallenen salzsauren Phenylhydrazin scharf abgesogen und
das Salz gut mit Äther nachgewaschen. Das ätherische
Filtrat wurde nach dem Verdunsten des Lösungsmittels
mit warmem Wasser durchgearbeitet, das fest gewordene
Phenylhydrazid abfiltriert, mit AVasser ausgewaschen
und schliesslich dreimal aus verdünntem Alkohol um-
krystallisiert.
Der Körper bildet schöne weisse Prismen vom
Schmpt. 164°.
0,1854 g. Sbst. 0,4861g. CO2 0,1410 g. Ha 0
0,1802 g. Sbst, 0.4730 g. CO2 0,1370 g. H2 O
CisHisONa Ber. C 71,50 H 8,26
Gef. C 71,47 71,58 H 8,41 8,43
!) Die Säure wurde nach Einhorn und Meyenbcrg [Her. der
deutsch, ehem. Ges. 27, 2833 (1894)] durch Reduktion von p-Amino-
benzoesäure mit Natrium und Amylalkohol dargestellt und mehr-
fach unter vermindertem Druck destilliert.
195
l-Pheuyl-3-hexaliy(lrophenyl-5-triazoloii-3-carboii-
amid.
N.= c/C6Hii
| x> N - CO • NH2
Ce H5 - N - C <
20 g. jS-Hexahydrobenzoylphenylhydrazin wurden in
800 g. Benzol (natriumtrocken) unter Erwärmen gelöst
und nach dem Erkalten 17,5 g. Harnstoffchlorid (= 2 Mol.
Gew. und ca. 20°/o Uberschuss) dazu gefügt. Das Ge-
menge erwärmt sich schon von selbst etwas, färbt sich
schwach rot und stösst Salzsäuredämpfe aus. Es musste
nun 2 7-2 Stunden lang am Rückflusskühler gekocht
werden.
Das Benzol wurde darauf unter vermindertem Druck
abdestilliert, und der trockene weisse Rückstand mit Al-
kohol ausgekocht, dabei blieben 1,5 g. Salmiak ungelöst
zurück. Aus dem alkoholischen Filtrate schieden sich
nach dem Erkalten massenhaft weisse seidenglänzende
lange Nadeln ab. Als diese mit verdünnter Natronlauge
behandelt wurden, um unverändertes Phenylhydrazid von
dem in Alkalien leicht löslichen Oxytriazol zu trennen,
konnte eine kräftige Ammoniak-Entwicklung wahrge-
nommen werden, ebenso, beim Ansäuern der Lösung,
wobei das Oxytriazol ausfiel, eine Kohlensäureentwick-
lung. Dieselbe Beobachtung wurde auch mit der aus
der Mutterlauge von der ersten Krystallisation neben
1,3 g. Salmiak und weiteren Mengen unveränderten
Phenylhydrazides gewonnenen Substanz gemacht.
Es musste hieraus der Schluss gezogen werden, dass
das primäre Einwirkungsprodukt von Harnstoffchlorid
auf das Phenylhydrazinderivat ein Carbamid ist, und es
wurde nun bei einem zweiten Versuche so verfahren,
dass das nach dem Abdestillieren des Benzols hinter-
— 196 —
bleibende Rohprodukt, das unterhalb 300° nicht schmolz,
aus ganz absolutem Alkohol zweimal umkrystallisiert
wurde. Die Substanz besass jetzt den Schmpt. 195°,
gab aber bei der Analyse Zahlen, die nicht auf das
erwartete Carbamid sondern auf das Phcmjl-hexahydro-
pkenylroxytriazol stimmten :
0,1273 g. Sbst. 0,3222 g. C02 0,0820 g. H2 O
0,1569 g. Sbst. 23,6 com. N (13°, 738,8 mm.)
Ci4HitON3 Ber. C 69,14 H 7,00 N 17,28
Oxytriazol Gef. C 69,02 H 7,14 N 17,23
C15 Hi 8 O2 N4 Ber. C 62,94 H 6,29 N 19,58
Carbamid
Da demnach auch trockener Alkohol schon das Car-
bamid vollständig zu spalten im Stande ist, wurde bei
einem dritten Versuche wasserfreies Aceton zum Um-
krystallisieren des nach dem Abdestillieren des Benzols
verbleibenden Rohproduktes angewandt. Dies führte in
der That zum Ziele, bei der ersten Krystallisation wurde
eine Substanz erhalten, deren Schmpt. über 300° lag und
welche, wie die Analyse zeigt, bereits reines Carbamid war.
0,1371g. Sbst. 0,3174 g. CO2 0,0748 g. H2 O
C15 Hi s O2 N4 Ber. C 62,94 H 6,29
Gef. C 63,16 H 6,05
Der Körper bildet lange weisse, in warmem Alkohol,
Aceton und Essigester leicht, in Benzol schwieriger
lösliche Nadeln.
Schon beim zweiten Umkrystallisieren aus Aceton
scheint das Carbamid, wie die Analyse ergab, sich etwas
zu zersetzen, obgleich der Schmpt. nicht wesentlich
herunterging.
0,1784 g. Sbst. 0,4156 g. CO2 0,1040 g. Hî O
Ci 5 Hi 8 O2 N4 Ber. C 62,94 H 6,29
Gef. C 63,50 H 6,44
— 197 —
l-Phenyl-3-hexaliy(lroplienyl-5-oxytriazol.
Ce Hu
N = C
Ce Ha - N - C ''
^N
\0H
Das rohe Carbamid löst sich leicht beim vorsich-
tigen Erwärmen in verdünnter Natronlauge, während das
nicht in Reaktion getretene Phenylhydrazid zurückbleibt.
Aus dem Filtrate fällt auf Zusatz einer Mineralsäure
das Oxytriazol in Flocken aus. Bei einem quantitativ
verfolgten Versuche wurden erhalten, ausgehend von
20 g. Hexahydrobenzoylphenylhydrazin:
Unverändertes Phenylhydrazid 7,6 g. |
Oxytriazol 11,8 g. J 19'4 g*
Salmiak 2,8 g.
Nach mehrmaligem Umkrystallisieren aus Essigester
bildet das Oxytriazol haarfeine, weisse, sternförmig ge-
lagerte Nädelchen; der Schmpt. liegt bei 196 — 197°.
0,1025 g. Sbst. 0,2598 g. CO2 0,0665 g. H* O
0,1285 g. Sbst. 19,4 ccm. N (14°, 744,6 mm.)
GViHnONs Ber. C 69,14 H 7,00 N 37,28
Gef. C 69,07 H 7,20 N 17,38
Die Substanz löst sich sehr leicht in warmem Al-
kohol und Aceton, ziemlich leicht in kochendem Benzol
und Essigester, schwer in heissem Wasser, Ligro'iii und
in Äther. Von verdünnter Natronlauge wird sie leicht
aufgenommen, unvollständig dagegen und nur nach
längerem Kochen von Sodalösung. In Ammoniak ist der
Körper in der Kälte wenig löslich, wird aber nach längerem
Erwärmen vollkommen davon gelöst. Eisenchlorid er-
zeugt in der alkoholischen Lösung keine Färbung.
198
Acetyl Verbindung des l-Phenyl-3-hexahydropheiiyl-
5-oxytriazoles,
I XX
CV,H,-X-CX0 co cm
2 g. des Oxytriazoles wurden mit 2 g. Natriuniacetat
und einer zur Lösung eben genügenden Menge Essig-
säureauhydrid dreiviertel Stunden lang gekocht. Als
nach dem Erkalten mit Eiswasser geschüttelt wurde,
schieden sich sogleich lange weisse Nadeln ah; rasch
abgesogen, wurden sie mit Eiswasser gewaschen und nach
dem Trocknen aus Alkohol umkrystallisiert. Das Acetvl-
derivat bildet lange weisse, asbestartig verfilzte Xadeln;
es schmilzt bei 107—108°.
0,1257 g. Sbst, 16,6 ccm. N (19°, 743,2 mm.)
C16H19O2N3 Ber. X 14,70 Gef. X 14,83
Die bis jetzt untersuchten Acetylderivate dieser
Oxytriazole spalten alle mehr oder weniger leicht die
Acetylgruppe — bereits beim Kochen mit Wasser —
ab. Als V- g- der eben beschriebenen Substanz mit
200 ccm. Wasser gekocht wurde, war nach einer halben
Stunde etwa die Hälfte gelöst, nach dem Filtrieren kry-
stallisierte aus der abgekühlten Flüssigkeit das Oxytriazol
vom Schmpt. 196° aus. Bis zur Verseifung des noch
unveränderten Acetylproduktes musste noch mehr als
eine Stunde gekocht werden, es kann deswegen das vor-
liegende als das am schwersten verseifbare der von uns
dargestellten Acetyl-phenvloxvtriazole bezeichnet werden,
es hängt dies jedenfalls auch mit der geringeren Wasser-
löslichkeit dieses Oxvtriazols zusammen.
199
l-Phenyl-2-propyl-5-triazolon4-carbonamid.
N
n / CH2 - CH2 - CHi
> N - GO • NH2
CV, Hô - N - C x
Das n-Butyrylphenylhydrazin ist zuerst von Mi-
chaelis und Schmidt'1) aus Butyrylchlorid und Natrium-
Phenylhydrazin dargestellt worden. Wir erhielten es
durch Einwirkung von 2 Mol. Gew. Phenylhydrazin auf
1 Mol. in Äther gelöstes Buttersäureanhydrid. Perlmutter-
glänzende Schuppen vom Schmpt. 103 — 104°.
25 g. /Î-Butyrylphenylhydrazin wurden in Benzol
mit etwas mehr als 2 Mol. Gew. Harnstoffchlorid 2lj-i
Stunden im Sieden gehalten. Nach dem Abdestillieren
des Benzols unter vermindertem Druck wurde der Rück-
stand mit Alkohol ausgekocht, wobei 1,6 g. einer weissen
Masse ungelöst blieben.
Die alkoholische Lösung gestand nach dem Erkalten
zu einem dicken Brei weisser Krystallnadeln des Carbon-
amides, das Rohprodukt wog 11 g. Bei einem Versuche,
den Körper aus verdünntem Alkohol umzukrystallisieren,
wurde er vollständig in das Oxytriazol verwandelt, er
schmolz bei 135°, wurde aber zum Überfluss noch ana-
lysiert:
0,1207 g. Sbst. 0,2863 g. CO2 0,0672 g. H2 0
C12H14N4O2 Ber. C 58,54 H 5,69
Carbamid
CiiHisNsO Ber. C 65,03 H 6,40
Oxytriazol Gef. C 64,71 H 6.20
Immerhin ist dies Carbamid nicht so leicht zersetz-
lich wie dasjenige des l-Phenyl-3-hexahydrophenyl-5-
oxytriazoles, da es durch Kochen mit absolutem Alkohol
i) Michaelia u. Schmidt, Ann. d. Chem. 252, 308 (1888!
200
nicht verändert wurde. Die Substanz wurde nun aus-
trockenem Benzol zweimal umkrystallisiert, sie bildet in
reinem Zustande weisse Nadeln oder Prismen vom
Schm pt. 133°.
0,1188 g. Sbst, 0,2559 g. CO2 0,0625 g. ILO
0,1272 g. Sbst. 25,2 ccm. N (16°, 746 mm.)
C2H14O2X4 Ber. C 58,54 H 5,69
Gef. C 58,75 H 5,84
Der Körper ist leicht löslich in heissem Alkohol,
Benzol und Essigester.
l-Phenyl-3-propyl-5-oxytriazol.
>T _. / CH2 - CH2 - CIL
N = C /
1 >N
Ce Ho -- N ~ ^ \ (~\tt
Die alkoholische Mutterlauge des rohen Carbamides
wurde mit verdünnter Natronlauge behandelt, dabei ging
das Oxytriazol (4,2 g.) in Lösung, während etwas un-
verändertes Butyrylphenylhydrazin zurückblieb (0,2 g.).
Nach dem Ansäuern der alkalischen Flüssigkeit (unter
Abkühlung) fiel das Oxytriazol in Flocken aus. Leicht
gewinnt man es auch aus dem Carbamid durch kurzes
Erwärmen desselben mit verdünnter Natronlauge. Zwei-
mal aus heissem Essigester umkrystallisiert, bildet es
lange weisse Nadeln vom Schmpt. 146°.
0,1414 g. Sbst. 0,3376 g. CO2 0,0831g. H2 O
0,1520 g. Sbst, 27,4 cm. N (12°, 742 mm.)
CnHisONs Ber. C 65,03 H 6,40 N 20,69
Gef. C 65,13 H 6,53 N 20,89
Die Verbindung löst sich leicht beim Erwärmen in
Benzol, Alkohol, Ligrom, Aceton und Essigester, ziem-
lich leicht in kochendem Wasser. In kaustischen Al-
kalien sehr leicht löslich, wird sie von kochender Soda-
— 201 —
lösung nur schwierig-, von Ammoniak dagegen teilweise
schon in der Kälte, vollständig beim Erwärmen aufge-
nommen. Die alkoholische Lösung wird von Eisenchlorid
schwach orange gefärbt.
Der oben erwähnte, in Alkohol unlösliche Rückstand
(aus dem Produkte der Einwirkung von Harnstoffchlorid
auf Butyrylphenylhydrazin herrührend) konnte durch
Umkrystallisieren aus heissem Wasser in glitzernden
Kryställchen erhalten werden; die Substanz gab mit
konzentrierter Natronlauge ein weisses Natriumsalz, mit
sehr verdünnter ammoniakalischer Kupferlösung ein
amethystfarbenes Kupfersalz l) und entwickelte beim Er-
hitzen stechend riechende Dämpfe von Cyansäure, sie
war also unzweifelhaft C)j (mur säure2).
Acetylderivat «les l-Plienyl-3-proi>yl-5-oxytrmzoles.
Die Acetylierung wurde wie oben beschrieben aus-
geführt. Auf Zusatz von Eiswasser fiel ein weisses.
') Wöhler, Ann. d. Ckern. u. Pharm. 62, 241 (1848).
2) Ich kann in der Literatur nichts über die Bildung von Cyanar-
säure aus Harnstoffchlorid finden, doch zweifele ich nicht daran,
dass die Säure aus diesem entstanden ist. Wenn auch angegeben
wird, Harnstoffchlorid verwandle sich beim Aufbewahren unter Ab-
spaltung von HCl zu Cyamelid, so widersprechen dem meine Be
obachtungen. Ich Hess Harns toftchlorid stehen, bei Sommertempe-
ratur wurde es sehr bald fest und krystallinisch, entwickelte dann
etwa 24 Stunden lang Salzsäuredämpfe und bestand schliesslich fast
ganz aus in Wasser löslicher Cyanursäure. Der Vorgang wäre also
wie folgt zu formulieren : 3 CO NH2 Cl = 3 HCl + Ca N3 O3 Hu, und
diese Reaktion begleitet jedenfalls die Oxytriazolsynthese. Denn ich
fand nur bei einem einzigen Versuche, mit dem Hexahydrobeuzoyl-
phenylhydrazin, Salmiak .'sonst immer (und wie unten gezeigt wird,
in oft recht erheblichen Mengen) Cyanursäure. Auffallend ist, dass
Rupe und Labhardt seinerzeit niemals Cyanursäure, sondern immer
Salmiak nachweisen konnten. Ferner muss bestritten werden, dass
Cyanursäure leicht in Alkohol löslich ist (wie augegeben wird), nach
meinen Üoobaehtuno-en ist gerade das Gegenteil der Fall.
— 202
schweres Ol aus. Da es auch nach längerem Schütteln
nicht fest wurde, wurde es angesogen; beim Auswaschen
mit Wasser erstarrte es auf dem Filter. Die Verbin-
dung bildet nach dreimaligem Umkrystallisieren aus
Alkohol glänzende, flache Prismen ; sie zeigen den
Schmpt, 84°.
0;1808 Sbst. 27,4 ccm. X (16°, 746 mm.)
C13H15N3O2 Ber. N 17,14 Gef. X 17,32
Kocht man dieses Acetylderivat mit Wasser, so
wird es nach 15 Minuten vollständig zum Oxytriazol
verseift.
/?-Crotoiiyl-Plienylliy<lrazin.
Co H, • XH - NH - CO • CH = CH - CH3
Die Crotonsäure wurde nach dem Phosphoroxy-
chlorid-Yerfahren in das Chlorid verwandelt, letzteres
wurde in Substanz nicht isoliert, sondern sogleich in Ather-
lösung mit Phenylhydrazin in Wechselwirkung gebracht.
Das ß-Crotonylphenylhydrazin krystallisiert aus
Essigester in glänzenden kleinen, bei 190° schmelzenden
Blättchen oder Schuppen.
0,2360 g. Sbst. 33,6 ccm. N (16°, 737,3 mm.)
C10H12ON2 Ber. N 15,91 Gef. N 16,09.
l-Phenyl-3-proi>enyl-5-oxytiiazol.
XT r./ CH = CH — CH:;
JN =C (
XX
C5H5-N-C<OH
Die Einwirkung von Harnstoffchlorid auf ^-Crotonyl-
phenylhydrazin vollzieht sich wie in den schon be-
schriebenen Fällen ; zur Lösung von 25 des Hydrazides
sind 1 l/a Liter Benzol nötig. Das schwammige fle-
aktionsprodukt wurde mit Alkohol ausgekocht, etwas
öyanursäure blieb ungelöst zurück. Die Lösung ent-
— 203 —
hielt kein Carbonamid, sondern, wie sich hei einer
fraktionierten Kristallisation zeigte, neben unverändertem
Ausgangsmaterial nur noch das neue Oxytriazol. Es
wurde deswegen bei den folgenden Versuchen der Al-
kohol zur Hälfte abdestilliert und der Rückstand mit
verdünnter Natronlauge durchgerührt. Aus der filtrierten
Lösung fällte Salzsäure das Oxytriazol aus, das Roh-
produkt wog 3,7 g., das in verdünnter Natronlauge un-
lösliche Crotonylphenylhydrazin (das nicht in Reaktion
getreten war) 10,5 g. Was aus dem Reste des letzteren
geworden ist, konnte nicht ermittelt werdeu.
Das aus Essigester mehrfach umkrystallisierte I-
Plienyl-3-propcnyl-5-oxytriazol bildet kleine glänzende,
ganz schwach gelbliche Nädelchen. Schmpt. 188°.
0,1608 g. Sbst. 0,3882 g. CO* 0,0786g. H* O
0,1887 g. Sbst. 35.2 ccm. N (18°, 744 mm.)
On Hu NiO Ber. C 65,68 H 5,47 N 20,89
Gef. C 65,84 H 5,43 N 21,07
Die Substanz ist leicht löslich in kaltem Alkohol
und Acetou, in warmem Benzol und Essigester; ziemlich
leicht löslich in kochendem Wasser, schwieriger in Li-
gro'in und in Äther. Von verdünnter Natronlauge wird
sie sogleich gelöst, von Ammoniak, und ziemlich leicht
auch von Sodalösung, erst beim Erwärmen. Ferrichlorid
färbt die alkoholische Lösung kaum merklich an.
l-Phenji-S-c^-dibroinpropyl-S-oxytriazol.
AT ri 7 GH • Br • GH ■ Br • CH;i
N = G/
I XN
Cg Hö - N - G ( _„
\ Ori
Lässt man zu einer Lösung von 2 g. des oben be-
schriebenen Oxytriazols in 25 ccm. Chloroform 0,5 g. Brom
(1 Mol. Gew.) ebenfalls in Chloroform gelöst, langsam
204
zutröpfeln, so geht die Entfärbung des Broms im zer-
streuten Lichte äusserst langsam vor sich, im Sonnenlichte
dagegen fast augenblicklich. Xach dem Verdunsten des
Lösungsmittels bleibt das Bromadditionsprodukt als krys-
tallinische Masse zurück, man reinigt es durch drei-
maliges Umkristallisieren aus Essigester. Es stellt
mikroskopisch kleine, glitzernde, ganz schwach gelblich
gefärbte Prismen vor, deren Schmelzpunkt bei 128°
liegt.
0,1544 g. Sbst. 0,1601 AgBr
Cu Hu 0 Ns Bra Ber. Br 44,32 Gef. Br 44,11
Das Dibromid wird von den meisten organischen
Lösungsmitteln leicht aufgenommen. Dagegen ist es un-
löslich in Natronlauge.
l-Phenyl-5-oxytriazol-3-carbonsänre.
N = c/COOH
| " x X
CV> H ö — N — C /~v tt
\ UM
2 g. des Propenylphenyloxytriazols wurden in Soda-
lösung bei Wasserbadtemperatur nach und nach mit
150 ccm. Kaliumpermanganatlösung (4-prozentig) oxy-
diert- das Filtrat vom Manganschlamm wurde zur Krys-
tallisation eingedampft, angesäuert und [mit Äther ex-
trahiert. Der nach dem Verjagen des Äthers gebliebene
Rückstand wurde aus Essigester umkrystallisiert. Die
Säure zeigte den von Rupe und Labhardt1) angegebenen
Schmpt. von 179 — 180°. Andreocci2), der sie zuerst dar-
stellte, fand den Schmpt. 166—167°.
J) Rupe und Labhardt 1. c.
-) Andreocci, Gazz. chim. 19, 418. Berichte d. deutsch, ehem.
(-res. 20, Ref. 737 (1887).
— 205
/?-Hydrociiinaiiiyl-Pheiiylbydraziii.
Co Hô - NH - NH - 00 - Cm - CH2 - Ce Hs
Eydrozimmtsäurechlorid wurde durch Einwirkung
von Phosphortrichlorid auf Hydrozimintsäure in Ligroïn
gewonnen.
Das wie gewöhnlieh dargestellte Phenylhydrazid
krystallisiert aus verdünntem Alkohol in schönen weissen
Nädelcken und schmilzt bei 116 — 117°.
0, 1420 g. Sbst. 0,3911g. C02 0,0867 g. H2 O
CisHieONa Ber. C 75,00 H 6,67
Gef. C 75,11 H 6,78
l-Pheiiyl-3-phenylaethyl-5-oxytriazol.
,T ~ / CH-2 — CH2 — Co HV)
I J y). N
<VH.-N-0<OH
15 g. Hydrocinnamylphenylhydrazin brauchen zur
Lösung 1 Liter trockenen Benzols. Die Reaktion mit
Harnstoffchlorid nimmt etwa 2 Stunden in Anspruch.
Nach dem Abdestillieren des Benzols unter vermindertem
Druck hinterbleibt eine hellbraune, schmierige, dicke
Masse; kochender Alkohol löste das Meiste, bis auf
1,7 g. Gyanursäure. Da es sich darum handelte, sicher
festzustellen, ob auch in diesem Falle kein Carbamid
als erstes Produkt der Reaktion entsteht, weil Rupe, und
Labhardt auch bei der Darstellung des Phenacetylphenyl-
oxytriazoks kein solches auffinden konnten, wurden die
im Alkohol gelösten Substanzen einer genauen fraktio-
nierten Krystallisation unterworfen. Es konnte jedoch
kein Carbamid nachgewiesen werden. Die einzelnen Jvrv-
stallfraktionen, sowie die letzten Mutterlaugen, wurden
nun mit kalter verdünnter Natronlauge behandelt, vom
— 206 —
ungelösten Hydrozimmtsäure-Phenylhydrazid wurde ab-
filtriert, und die aus den vereinigten alkalischen Filtrat en
gewonnene Flüssigkeit unter Eiskühlung mit Salzsäure
versetzt. Die ausgefällte Substanz löste sich noch nicht
vollkommen in verdünnter Natronlauge, sie musste des-
wegen noch einmal damit von unangegriffenem Phenyl-
hydrazid getrennt werden.
Aus 15 g. Hydrocinnamylphenylhydrazin wurden
erhalten:
Oxytriazol 5,6 g.
Nicht in Reaktion getretenes Ausgangsmaterial 8,5 g.
Zu Versuchen verbraucht 0,7 g.
14,8 g.
Bei einem zweiten Versuche wurden 5,8 g. Oxy-
triazol und 9 g. unverändertes Phenylhydrazid erhalten
(neben 2 g. Cyanursäure).
Das l-Pliemjl-o-phenyladlujl-S-oxytriazol bildet, aus
verdünntem Alkohol krystallisiert, sehr kleine, schwach
gelbliche Nädelchen. Schmpt. 182—183°.'
0,1849 g. Sbst. 0,4905 g. CO2 0,0965 g. Ha 0
0,1794 g. Sbst. 0,4765 g. CO2 0,0970 g. H3 O
O,1910g. Sbst. 25,2 com. N (7°, 759 mm.)
0,1937 g. Sbst. 24,4 ccra. N (7°, 759 mm.)
C16H15ON3 Ber. C 72,45 H 5,66 N 15,85
Gef. C 72,34 72,40 H 5,78 5,96 N 15,97 15,87
Der Körper löst sich leicht in heissem Alkohol,
schwieriger in heissem Wasser und kochendem Benzol,
schwer in kaltem Wasser und in Ligrom. In Ammoniak
ist er schon in der Kälte beträchtlich löslich, leicht
und vollständig beim Erwärmen.
Eisenchlorid färbt eine alkoholische Lösung dieses
Oxytriazols tief rotorange.
— 207
Acetylverbimlmig des l-Phenyl-3-phenylaetbyl-5-
oxytriazoles.
AT , CHs - CH2 - Cg H5
I >N
C6H5-N-C/0 co CHa
Die Acetylierung wurde wie bei den früher be-
schriebenen Fällen vorgenommen, das Derivat scheidet
sich erst nach längerem Schütteln mit Eiswasser ölig
ab, fest kam es erst aus einer alkoholischen Lösung
heraus. In reinem Zustande bildet es lange, glänzende,
asbestartig zäh an einander haftende Nadeln. Schmpt.
109°.
0,1116 g. Sbst. 13,5 ccm. N (15°, 740 mm)
Ois Hi- 02 N3 Ber. N 13,68 Gef. N 13,79.
Durch kochendes Wasser wird dies Acetylderivat
in 25 Minuten vollkommen gelöst und verseift, es steht
also, was seine Beständigkeit betrifft, zwischen den Ace-
tylverbindungen des Hexahydro- und desPropyl-phenyloxy-
triazoles.
Y ersuche zur Darstellung des l-Phenyl-3-pheuyl-
aethyleu-5-oxytriazoles.
/CH = CH-CgH,
I ~ XN
CoH,-N-CXOH
ß~Cinnamenylphenylhydrazin, Ce H5 • N2 • H2 - CO •
CH = CH - Cr, Hr, ist zuerst von Knarr l) durch direktes
Erhitzen von Zimmtsäure mit Phenylhydrazin erhalten
worden. Da meine Versuche, die Verbindung mit dem
Zimmtsäurechlorid darzustellen, kein befriedigendes Er-
gebnis hatten, bereitete ich sie mit gutem Erfolge aus
i) Knorr, Ber. der deutsch, ehem. Ges. 20, 1108 (1887).
— 208
nach Wedekind- s1) Methode gewonnenem Zimmtsäure-
anhydrid und Phenylhydrazin. Schmpt. (übereinstimmend
mit Wedekind's Angabe 187°).
Das Einwirkungsprodukt von Harnstoffchlorid auf
^-Cinnamylphenylhydrazin in Benzollösung (20 g. Hy-
draziel, 1200 ccm. Benzol) wurde genau so verarbeitet,
wie bei der Darstellung des Phenylaethyloxytriazoles be-
schrieben. Es wurde jedoch bloss das unveränderte
Ausgangsmaterial (Phenylhydrazid) zurückgewonnen, nur
die letzten alkoholischen Mutterlaugen enthielten eine
kleine Menge einer in verdünnter Natronlauge löslichen
Substanz. Aus 70 g. Cinnamylphenylhydrazin konnten
davon 0,6 g. isoliert werden, das Produkt war aber sehr
unrein und liess sich durch Auflösen in Chloroform und
Fällen mit Ligro'iu nur ungenügend reinigen. Bei einer
Stickstoffbestimmung wurden 14,06 °/0 N gefunden, be-
rechnet (auf das Oxytriazol) 15,97. Bei einem noch-
maligen Versuche, den Rest der Substanz aus Alkohol
zu krystallisieren (sie schmolz vorher bei ca. 280°) wurden
kleine Prismen erhalten, die den Schmpt. 185° zeigten,
also vermutlich Cinnamylphenylhydrazin waren.
In der Erwartung, dass die Anwendung eines höher
siedenden Lösungsmittels die Umsetzung zwischen Harn-
stoffchlorid und Cinnamylphenylhydrazin begünstigen
könnte, wurde die Reaktion in Toluollösung vorge-
nommen.
In der That gelang es jetzt, aus 50 g. Phenylhy-
drazid ca. 2 gr. eines alkalilöslichen Produktes zu ge-
winnen; es war indessen schwierig zu reinigen und nur
nach mehrmaligem Auflösen in Alkohol (unter Zusatz von
Tierkohle) und langsamem Verdunstenlassen des Lösungs-
mittels wurden kleine Prismen erhalten, deren Schmpt.
l) Wedekind, Her. der deutsch, ehem. Ges. 3i, 2070 (1901 1.
— 209
bei 187° lag; es war also Cinnamylphenylhydrazin, das
Gemisch von reinem Zimmtsäurephenylhydrazid und
jener Substanz besass den gleichen Schmpt. Unter Um-
ständen kann also unreines Cinnamylphenylhydrazin sich
in Alkalien lösen, das ganz reine dagegen nicht mehr1).
Es seien hier noch, um den Einfluss des mit dem
Phenylhydrazin verbundenen Säurerestes auf den Ver-
lauf der Oxytriazolsynthese zu zeigen, die Ausbeuten an
nicht in Reaktion getretenem Phenylhydrazid und an
Oxytriazol übersichtlich zusammengestellt:
Angewandtes Phenyl-
Zurückgewonnenes Phenyl-
Oxytriazol
hydrazid
hydrazid
Hexahydrobenzo-
yi- -
37 o/02)
59 o/0
Benzoyl. —
Konnte nicht auf-
gefunden wer-
den, dafür et-
was Diphenyl-
oxybiazolon.
0
Butyryl. -
ca. 1 °/(i
53 o/0
S Crotonyl. — ■
42",,
14,8o/0
i Hydrocinnamyl. -
58,3 o/o (Mittel)
36,3 o/o (Mittel)
Cinnamyl. -
96 °/o
0
Basel, im September 1902. Universitätslaboratorium II.
1) Bei der Einwirkung von Harnstoffchlorid auf ß-Benzoyl-
phenylhydrazin entstand mit dem im Chlorid gelösten Phosgen
etwas Dipheiii/Ioxybiazolon. ich konnte jedoch bei den Versuchen
mit Cinnamylphenylhydrazin das entsprechende Biazolon nicht auf-
finden.
2) Gemeint sind Prozente vom angewandten Ausgangsmaterial.
14
Die Zeit in der Entwickeiung der Organismen.
Von
Wilhelm Hls.
Dieser Band soll einen Abschnitt in dem unge-
wöhnlich segensreichen Lehen eines Freundes festlich
begrüssen, und so mag hier ein Aufsatz über die
Rolle der Zeit in der Entwicklung an und für sich nicht
unzeitgemäss erscheinen. Immerhin bringt für den mathe-
matischen Physiker, der gewohnt ist, bei Aufstellung
seiner Gleichungen ausser den drei Variabein des Raumes
auch die Zeitvariable in Rechnung zu setzen, die Be-
tonung der Zeit als eines entwicklungsgeschichtlichen
Faktors etwas so gut wie selbstverständliches. Im Grunde
sind ja auch wir Biologen der Bedeutung der Zeit für
organische Entwicklungsvorgänge uns sehr wohl bewusst,
und wir haben ihr besonders beim Aufbau phylogenetischer
Vorstellungen den allerweitesten Spielraum zuerteilt.
Das hindert aber nicht, dass wir die organischen Ent-
wicklungsvorgänge in der Regel einzeln zu verfolgen
pflegen, ohne deren zeitlichem Ineinandergreifen beson-
dere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es gilt dies speziell
von unseren ontogenetischen Darstellungen , bei denen
in getrennten Kapiteln die Entwicklung des Nerven-
systems, des Grefässystems, des Skelettes u. s. w. be-
handelt zu werden pflegt, ohne dass die Beziehungen
— 211
der einen zur andern Entwicklung, oder die zeitlichen
Entwickelungskorrelationen, wie wir sie zusammenfassend
bezeichnen können , eine besondere Berücksichtigung
finden. Es ist dies durch die grosse Komplikation der
Verhältnisse zu entschuldigen, aber doch wird eine all-
seitig vorgehende Forschung oder, um es moderner
auszudrücken, eine mechanische Entwicklungslehre nicht
vermeiden können, dem zeitlichen Ineinandergreifen der
Entwicklungsvorgänge die ihm gebührende Aufmerksam-
keit zu schenken.
In Nachfolgendem werde ich versuchen, an einzelnen
Beispielen zu zeigen, in welcher Weise anscheinend völlig-
unabhängig von einander verlaufende Vorgänge in
einander einzugreifen und sich gegenseitig zu bestimmen
vermögen. Die mitgeteilten Beispiele habe ich zum
Teil schon bei früheren Gelegenheiten besprochen, bringe
sie aber hier in mehr geordneter Zusammenstellung.
Fürs erste kann schon die Befruchtung des tierischen
Eies als ein Vorgang angeführt werden, bei dem der
zeitliche Ablauf streng vorgeschrieben ist. Nehmen wir
als Beispiel die Befruchtung von Knochentischen, so
wissen wir, dass ein jeder der beiden Keimstoffe, der
Samen sowohl, als das Ei, für sich ins Wasser gebracht,
binnen kürzester, nach Sekunden zu bemessender Frist
seine wesentlichen Eigenschaften, der Samen das Be-
fruchtungsvermögen, das Ei die Befruchtbarkeit verliert.
Und doch müssen diese Stoffe im Wasser sich begegnen,
um auf einander wirken zu können. Soll nicht einer
der beiden Keimstoffe versagen, so müssen eben beide
gleichzeitig ins Wasser und zu sofortiger Berührung
gelangen. Damit dies aber möglich sei, ist es erforder-
lich, dass die in getrennten Individuen sich entwickelnden
Keimstoffe bei beiden Geschlechtern gleichzeitig ihre
Reife erreichen, und dass gleichzeitig bei den betreffen-
— 212
den Individuen der Drang zur Entleerung der reifen
Stoffe sich geltend macht. Der bei beiden Geschlechtern
durch Monate sich vorbereitende Vorgang ist in seinem
Schlussablauf so scharf abgestimmt, dass eine zeitliche
Verschiebung seiner Bedingungen um Minuten seine
Bedeutung vereiteln würde.
Nicht bei allen Organismen ist das zeitliche In-
einandergreifen der Befruchtungsbedingungen in gleicher
Weise geordnet. So vermag bei höheren Wirbeltieren
(und noch ausgesprochener bei den Bienen) der Samen
innerhalb der weiblichen Leitungswege während längerer
Zeit sein Befruchtungsvermögen zu bewahren, wogegen
die Eier sehr bald nach ihrem Austritt aus dem Eier-
stock sich verändern und ihre Befruchtbarkeit einbüssen.
Für das Ei scheint, soweit wir die Verhältnisse über-
sehen können, die Zeit stets scharf vorgeschrieben zu
sein, in der es befruchtet werden muss.
Übrigens ist es nicht der Eintritt von Veränderungen
an und für sich, der dem reifen Eierstocksei seine Be-
fruchtbarkeit nimmt. Vielmehr sind erfahrungsgemäss
gewisse Vorgänge am Kern und die Ausstossung der
sogenannten Richtungskörper notwendige Vorbedingungen
für die Möglichkeit der Befruchtung. In einer bei ver-
schiedenen Tierformen wechselnden Weise greifen die
beiden Prozesse, die Bildung der Richtungskörper einer-
seits und das Eindringen und die Umwandlung der
Spermatozoen andererseits zeitlich in einander ein. Beide
Vorgänge sind von einander unabhängig, aber nur bei
deren geordnetem Ineinandergreifen kommt es zu jener
A'7erschmelzung von Spermakern und von Eikern, die
den Abschluss des eigentlichen Befruchtungsvorganges
bildet.
Für die gesamte auf die Befruchtung folgende
Reihe von Entwicklungsperioden besteht das allgemeine
— 213
Prinzip, dass in einer jeden Periode und auf einer jeden
Stufe der Organisation der sich entwickelnde Organis-
mus lebensfähig sein muss. Zwischen den Leistungen
der primitiven Organe muss jederzeit das nötige Gleich-
gewicht bestellen, und vor allem müssen die beiden
physiologischen Grundfunktionen, Ernährung und Atmung
in einer dem jeweiligen Bedarf entsprechenden Weise
geordnet sein. Dies gilt schon für die allerersten Ent-
wicklungsperioden der Furchung und der Keimblatt-
bildung, bei denen im allgemeinen die äusseren Keim-
schichten die respiratorischen, die innern, dem Dotter
zugekehrten die nutritiven Leistungen vorwiegend zu
übernehmen haben.
Mit der Sonderung der primitiven Organe gewinnt
das Ineinandergreifen der verschiedenen Vorgänge eine
gesteigerte Bedeutung. Ein frühes Beispiel einer zeit-
lichen Verknüpfung unter sich verschiedenartiger Pro-
zesse liegt in der ersten Bildung des Herzens und
des Gefässystems vor. Das Herz gehört bekanntlich
zu den sehr zeitig sich anlegenden Primitivorganen,
beim bebrüteten Hühnchen z. B. finden sich schon vom
Beginn des dritten Tages ab ein schlagendes Herz und
ein flach ausgebreitetes Röhrensystem, innerhalb dessen
rotes Blut zirkuliert. So geschlossen und einheitlich aber
das also funktionierende System sich darstellt, so ist es doch
aus getrennten und unter verschiedenen Bedingungen ent-
standenen Anlagen hervorgegangen. Die Muskelwand des
Herzens sondert sichjederseits als ein faltenartig sich erhe-
bender Streifen aus der äusseren Wand des Kopfdarmes,
der sogenannten Splanchnopleura. Sie ist ein intraem-
bryonal entstehendes Gebilde. Während sich, durch
verschiedene Phasen hindurchgehend, der muskulöse
Herzschlauch bildet, legen sich weit ausserhalb des
Embryonalleibes die ersten Gefäss- und Blutanlagen an.
214
Diese Anlagen sondern sich vom primären Endoblast ab,
und sie erscheinen als Gruppen von Zellen, die sich
teils netzförmig, teils in Form frei hervortretender
Sprossen an einander anreihen. Von der Peripherie
des Keimes ausgehend, breiten sich die Gefässsprossen
immer mehr gegen den Embryo hin aus, und sie dringen
in die offenen Lückenräume zwischen dessen Primitiv-
organen ein. Auch die Lichtung des Muskelherzens
wird von Gefässsprossen erreicht und durchwachsen.
Die anfangs soliden Gefässanlagen werden zu Röhren,
eine Umbildung, die gleichfalls an der ausserembryo-
nalen Peripherie ihren Anfang nimmt und von da aus
gegen den Embryo hin fortschreitet. Im Innern des
schlauchförmigen Muskelherzens entsteht ein zweiter,
der endocardiale Schlauch, der als Teilstück des allge-
meinen Röhrensystems Blut, und zwar zuerst körperchen-
freies und dann körperchenhaltiges Blut umschliesst.
Die Blutkörperchen gehen aus dem stellenweise vor-
handenen Überschuss von Bildungszellen im peripheri-
schen Gefässkeim hervor. Sie liegen anfangs als soge-
nannte Blutinseln haufenweise in den Gefàsswandungen,
mengen sich aber nach Eintritt der Zirkulation der
bewegten Flüssigkeit bei.
Die rythmische Kontraktion des Herzmuskels be-
ginnt, sobald das Organ als solches erkennbar ist. Es
treffen also zeitlich zusammen : die Formentwicklung
des Muskelherzens, die histologische Ausbildung seiner
Zellen zu kontraktilen, autonom thätigen Elementen,
die Sonderung des Gefässkeimes, sowie dessen Umbil-
dung zu hohlen Röhren und zu Blutinseln und sein Herein-
sprossen aus peripherischen Keimgebieten in den Körper
des Embryo. Jeder dieser Vorgänge folgt seinen eigenen
Bildungsgesetzen und doch ist das Endergebnis ein
scharf geordnetes Ineinandergreifen derselben.
215
Der Eintritt der Herzkontraktionen vom Zeitpunkt
der histologischen Differenzierung ab, tindet seine Paral-
lele im Verhalten anderer Muskeln. S. Kaesiner
hat gefunden, dass bei jungen Haifischembryonen die
Rumpfmuskeln Kontraktionen ausführen, sobald Muskel-
fibrillen erkennbar sind, und in Übereinstimmung mit
Balfour weist er ausdrücklich auf die physiologische
Bedeutung dieser frühen Muskelthätigkeit hin. Bei den
Herzkontraktionen kommt der gleichfalls früh sich aus-
prägende Rythmus der Kontraktionen als besonderes
Problem hinzu.
Schwierig zu verstehen bleibt die Regulierung
des embryonalen Kreislaufes während der verhältnis-
mässig langen Periode, während der es noch keine
Gefässmuskeln und Gefässnerven gibt. Die Verteilung
des Blutes in den verschiedenen embryonalen und ausser-
embryonalen Bezirken muss bei gegebener Herzthätigkeit
jederzeit von der Verteilung der Widerstände in den
betreffenden Bahnen abhängig sein. Noch sind aber
in früher Zeit die Gefässwandungen dünn und in offene
Lücken oder in ein weiches wasserreiches Mesen-
chymgewebe lose eingelagert. Unter den Umständen
darf man wohl der dem Blutdruck das Gegenge-
wicht haltenden Gewebsspannung keine allzugrosse
Rolle zuteilen. - Durchsichtiger ist der Einfluss, den
die Beziehung der Nachbarorgane auf das Verhalten
von Gefässtämmen ausüben, und besonders sind die
Folgen von Organwachstum und von Wachstumsver-
schiebungen durch mancherlei Einzelfälle klar zu
belegen. So ist die Bildung einer einfachen A. omphalo-
mesenterica aus den Endabschnitten einer Kette von
Verbindungsschleifen zwischen den Dottergefässen und
r) S. Kaexfner, His und Braune' s Archiv 1892. S. 165.
216
den absteigenden Aorten unschwer zu verstehen. Sie
fällt zeitlich zusammen mit der Erhebung der Darman-
lage über die übrige Keimhaut, einem Vorgang, der
seinerseits zu Knickung der bisherigen Quergefässe
und damit zu deren Abschluss führen muss. Ähnliche
Einflüsse von eintretender Gefässknickung sind im Sy-
stem der Aortenbogen höherer Wirbeltiere nachweisbar.
Bekanntlich sind hier die obern 2 Aortenbogen nur
in früher Zeit offen, später schliessen sich deren an die
Aortae descendentes stossende Abschnitte, wogegen der
3. Bogen als Anfang der Carotis interna persistiert,
und der 4. und 5. linkseitige Bogen als bleibender
Arcus Aortae und als Ductus arteriosus Botalli sich
erhalten. Der Verschluss der oberen beiden Bogen
fällt zusammen mit dem Eintritt der Nackenkrümmung
des Embryo. Bevor diese eingetreten ist, liegen Bogen
1 und 2 in der unmittelbaren Verlängerung des Aorten-
bulbus. Nach erfolgter Krümmung ist die Richtung
der Bogen und des Bulbus eine entgegengesetzte geworden,
wogegen nunmehr der 3., 4. und weiterhin der 5. Bogen
in die verlängerte Richtung des Aortenbulbus eingerückt
sind. Der Bulbus inserirt^ sich von Anfang ab nicht
symmetrisch in die Bogenwurzeln, sondern mit einer nach
links gekehrten Neigung. Diese verschiedenen Momente
bedingen aber, dass die Stromwiderstände in den ver-
schiedenen Abschnitten des Gesamtbogensystems mehr
und mehr ungleich werden. Die Strecken mit grösseren
Widerständen verengern oder schliessen sich, während
die übrigen sich ausweiten. Jeder dieser Vorgänge aber
hat wieder seine zeitlich genau zugemessene Stellung
im Gesamtlauf der Entwicklung.
Bei der weiteren Entwicklung des Gefässystems
tritt uns auffällig entgegen, dass in dem die Organ-
lücken ausfüllenden Gewebe überall da. wo es an epi-
217
tlieliale Anlagen anstösst, dichte Kapillarnetze auf-
treten.1) So entstehen frühzeitig die Gefässhäute des
Gehirns, des Rückenmarks und des Auges, sowie die
kapillarreichen Bekleidungen der Schleimhäute und
Drüsen. Hiebei handelt es sich unzweifelhaft um eine
direkte kausale Verknüpfung, hei der die Epithelien als
Bildungsreiz auf die sich entwickelnden Gefässe ein-
wirken. Korrelative Beziehungen indirekter Art lassen
sich aber auch in der späteren Entwicklungsgeschichte
des Gefässystems verschiedentlich nachweisen.
So werdeich nachher Gelegenheit haben, auf das Inein-
andergreifen von Gefäss- und Nervenentwicklung einzu-
gehen. Andere interessante Korrelationen treten bei
der Scheidung der Blutströme im Herzen auf. Schon
das Zusammentreffen der vier unabhängig von einander
entstehenden Scheidewandanlagen im Herzen ist eine
hieher gehörige Erscheinung.2) In gleicher Weise gilt
dies von den Beziehungen zwischen der Bildung der
Aortenscheidewand und der Verschiebung der Aorten-
insertion.
Die Insertion des Aortenbulbus geschieht ursprüng-
lich auch bei höheren Wirbeltieren und beim Menschen
hoch oben, dicht unter dem Unterkiefer, sie verschiebt
sich aber allmählich nach abwärts und rückt successive
am 2., 3., 4. und 5. Bogen vorbei. Bei einer jeden
besonderen Stellung des Insertionsfeldes kommt ein
Teil der abgehenden Bogen über, ein anderer unter
dieses Feld zu liegen. Wir haben also, übersichtlich
zusammengestellt :
1) His. Die Häute und Höhleu des Körpers; akäd. Programm,
Basel 1865. S. 81.
-) Besprochen in der A nat. mensch]. Embryonen, 1885 Heft 111.
218
n.
er
der Insertions-
Unter der Insertions-
stelle :
stell.
? des Bulbus:
Stufe I
Bogen
1
Bogen
2, 3. 4 u.
.. 11
V
I u. 2
M
3, 4 u. 5
„ in
n
1, 2 u.
V
4 u. 5
■ IV
5?
1, 2, 8
U.
4
J)
5
* v
1, 2, 3,
4
u.
5
—
Während die Insertion des Bulbus sich verschiebt,
entsteht in dessen Innerem die Aortenscheidewand, die.
von oben nach abwärts fortschreitend, schliesslich ins Herz
eintritt und die Strombahnen von rechtem und linkem
Herzen sondert. Es ist aber klar, dass die Bildung
dieser Scheidewand zeitlich normiert sein muss, falls die
Blutverteilung nicht aus der Ordnung kommen soll.
Notwendigerweise muss die von oben herabwachsende
Wand während der Stufe IV obiger Aufzählung in den
Ventrikelraum einschneiden. In jedem anderen Falle
würde eine von der Norm völlig abweichende Gefäss-
verteilung eintreten. Bei Stufe II würde das linke
Herz nur die Carotis externa, bei Stufe III diese und
die Carotis interna speisen, und alle übrigen (refasse
bekämen ihr Blut vom rechten Herzen. Eine direkte
Abhängigkeit der Scheidewandbildung von der Ver-
schiebung der Aortenbogen ist in keiner Weise zu
erkennen, wir haben es also auch hier wieder mit einem
zeitlichen Ineinandergreifen von Vorgängen zu thun, die
unabhängig von einander sich entwickelt' haben.
Reichliche Beispiele korrelativer Vorgänge bietet
die Geschichte des Nervensystems. Schon die erste
morphologische Gliederung des Gehirnrohres in einzelne
hinter einander liegende Teüstüeke, in das Vorderhirn
nebst den Augenblasen, das Mittel- und das Rauten-
hirn ist von fundamentalster Bedeutung. Alles greift
da in einander ein: was (hin einen Teil aus der gemein-
219
samen Anlage zugemessen wird, wird dem andern ent-
zogen und die Form, die jeder Teil annimmt, wirkt
wiederum bestimmend auf die Form der Nackbarteile.
Die entscheidende (Grundbedingung aber für die Gehirn-
gliederung liegt in den Axenkrümmungen seiner Anlage,
die schon in frühester Zeit sich geltend machen.1) Der
zur Bildung des Medullarrohres führende Querschub
des wachsenden Keimes und der die Axenbiegungen
herbeiführende Längsschub müssen in gegebenen Zeit-
punkten in einander eingreifen, um die einer jeden Tier-
form zukommende besondere Gehirnanlage zustande zu
bringen. Eine zeitliche Verschiebung würde auch hier
das Endergebnis völlig verändern.
Tritt dann weiterhin die histologische Differen-
zierung der Gehirn- und Rückenmarkswand ein, so
begegnen wir überall wieder dem zeitlichen Ineinander-
greifen der einzelnen Teilvorgänge. Ehe es zur Bildung
von Neuroblasten bez. von Nervenzellen und von Nerven-
fasern kommt, entsteht ein Gerüst, das den Zellen und
Fasern zum Lager zu dienen bestimmt ist. Dies Ge-
rüst wächst durch die gesamte Entwicklungszeit hin-
durch und so finden wir es als sogenannte Neuroglia durch
das ausgebildete Gehirn und Rückenmark ausgebreitet,
von der innern zur äusseren Oberfläche sich erstreckend.
Die jugendlichen Nervenzellen aber oder Neuroblasten
sind auf frühen Entwicklungsstufen beweglich, sie durch-
wandern die Maschen des Gerüstes und können sich
an Orten anhäufen, die von ihrer Bildungsstätte mehr
oder minder weit entfernt sind. Dabei wirkt vielfach
das Markgerüst wie ein Filter, indem es nur den aus-
wachsenden Fasern, nicht alter den kernhaltigen Zellen-
1) Über diese schon vor Jahren besprochenen Verhältnisse ver-
weise ich auf die „Briefe über unsere Körperform", Leipzig 1864.
— 220 —
leibern den Durchtritt gestattet. In der Weise scheiden
sich bei Bildung des Rückenmarks die Anlagen der
weissen und der grauen Substanz. Das peripherisch ge-
legene Gerüst der ersteren, der sogenannte Randschleier
zeigt sich von früh ab auffallend engmaschig und
bleibt im allgemeinen nur für Fasern durchlässig. Es
erweist sich wieder die Notwendigkeit gesetzlich abge-
stimmten zeitlichen Ineinandergreifens : das Markgerüst
muss angelegt sein, bevor es zur Bildung von Nerven-
zellen und von Nervenfasern kommt, da es diesen ihren
Weg zu weisen hat.1)
Von den vielen Nervenfasern, die im Markrohr
nach und nach zur Entwicklung kommen, verlässt nur
ein verhältnismässig kleiner Teil als motorische Wurzel-
fasern das Rückenmark und das Gehirn. Die übrigen
bleiben als intramedullare Verbindungsbahnen in der
Wand des Markrohres eingeschlossen. Zeitlich be-
schränkt sich aber die Bildung austretender Wurzel-
fasern auf die allererste Zeit der Faserentstehung (beim
menschlichen Embryo auf die 4. und 5. Woche). Alle
Fasern späterer Bildung verbleiben intramedullar. Auch
die in das Mark hineinwachsenden sensibeln und die
Sinnesfasern bilden sich in früher Zeit. Der verhält-
nismässig spät sich anlegende N. opticus ist seiner
Natur nach als intramedullare Bahn zu verstehen. Später
als Nervenwurzeln aus dem Markrohr hervorwachsen,
wachsen kapillare Blutgefässe in dessen Wand hinein
unter Bedingungen, die im Einzelnen noch nicht klar
zu übersehen sind.
Während in der ersten Zeit die Anlagen von Ge-
hirn und von Rückenmark in ihrem Aufbau kaum merk-
1 Über die von Harrison gemachten Einwendungen habe
ich mich ausgesprochen in dem Aufsatz „Über organbildende Keim-
bezirke", His Archiv 1901. S. 3ls.
221
lieh von einander abweichen, treten bekanntlich im
Laufe der Zeit zunehmende Unterschiede hervor, deren
Verständnis Gegenstand der Forschung sein muss. Die
Grundvorgänge sind überall dieselben, überall kommt
es zu einer stetigen Teilung der an der Innenfläche
liegenden Keimzellen und zu einer teilweisen Umbildung
derselben zu Nervenzellen und zu Spongioblasten, aber
die Zeitfolge, nach der diese Vorgänge sich aneinander
anfügen, wechselt nach den verschiedenen Bezirken.
Von vornherein können wir davon ausgehen, dass die
Keimzellen das stetig sich vermehrende allgemeine Bil-
dungsmaterial sind. So lange sie als solches sich
erhalten, schreitet das Wachstum durch Zellenneubildung
fort. Je früher und je reichlicher aber dies Material
zu den speziellen Zwecken der Neuroblasten- und Spongio-
blastenbildung verbraucht wird, um so mehr wird dasGesamt-
Wachstum des betreffenden Bezirkes eingeschränkt werden.
In der Hinsicht ist es besonders bemerkenswert, dass gerade
diejenigen Gehirnteile, die in der Folge am allermäch-
tigsten auswachsen, die Hemisphären von Gross- und von
Kleinhirn in ihrer Anfangsentwickelung sehr verzögert
erscheinen. Sie enthalten noch keine ausgebildeten
Neuroblasten in einer Zeit, da das Rückenmark und das
verlängerte Mark in ihrer Entwickelung schon weit fort-
geschritten sind.
Ich müsste in die spezielle Entwickelungsgeschichte
des Gehirns eintreten, sollte ich im Einzelnen das zeitliche
und örtliche Ineinandergreifen der einzelnen Entwicklungs-
vorgänge auseinandersetzen. Bei einem späteren Anlass
hoffe ich, dieser Aufgabe näher treten zu können, hier be-
schränke ich mich auf einige wenige Punkte. Sehen wir ab
von dem Intussusceptionswachstum der einzelnen Hirn-
teile, das beim Längenwachstum des Markrohres allein
in Betracht kommt, so sind beim Dickenwachstum viel-
— 222 —
fach Appositionsvorgänge beteiligt, die teils auf die
Rechnung von Zellen auswanderungen, teils auf die von
angelagerten Faserkomplexen zu setzen sind. Für das
verlängerte Mark habe ich seiner Zeit1) den Nachweis
geführt, dass aus dessen Querschnitt, ähnlich wie aus
einem geologischen Profil, das relative Alter der Schichten
herausgelesen werden kann. Die am oberflächlichsten
gelegenen Pyramiden sind die jüngste Bildung, die zuerst
vorhandenen motorischen Kerne aber und der sogenannte
Tractus solitarius, das heisst Teile, die anfangs eine ganz
oberflächliche Lage eingenommen hatten, erscheinen
durch dicke Zellen- und Faserkomplexe weit in die
Tiefe gerückt. Ähnliches lässt sich für die Brücke und
für die Hirnschenkel darthun, dagegen entwickelt sich die
Wand der Grosshirnhemisphären in einer völlig ab-
weichenden Weise. Hier wandern in einer sehr späten
Periode die Zellen massenhaft aus den innern in die
äusseren Wandschichten und sammeln sich zu einer
geschlossenen Rindenschicht. Die neu auf- und die von
unten her in die Hemisphären eintretenden Fasermassen
lagern sich nicht an die Aussenfläche der Wand an,
sondern sie schieben sich zwischen die neu entstandene
Rindenschicht und die ursprüngliche Innenplatte ein.
Ein Querschnitt der Hemisphärenwand gibt daher kein
so einfaches historisches Dokument, wie ein solcher des
verlängerten Markes.
Noch komme ich mit einigen Worten auf das Ver-
halten der auswachsenden Nerven zurück; auch hier-
über habe ich mich bei früheren Gelegenheiten schon
ausgesprochen. Es treten dabei die Eigentümlichkeiten
zeitlicher Entwicklungskorrelationen in besonders anschau-
1) Hin 1890. Die Entwickelung des menschlichen Rautenhirns.
AUmndlungen der k. sächs. Ges. der Wissensch. mathem. phys.
Klasse, Bd. XVII, Xo. I, S. 65.
223 —
lieber Weise hervor. Die aus dem Markrohr und aus
Ganglien hervorwachsenden Nervenfasern sammeln sich
zunächst zu kleinen Bündeln und weiterhin zu kom-
pakten Stämmen, die allmählich peripheriewärts vor-
rücken. Bei ungehemmtem Verlaufe geschieht das Aus-
wachsen geradlinig. So verläuft z. B. beim menschlichen
Embryo der N. oculomotorius völlig gestreckt von der
Mittelhirnbasis durch die Sattelspalte hindurch bis in
die Nähe des Auges. Gestreckte Verlaufsrichtung zeigen
auch auf grössere Strecken hin der N. trochlearis
und der N. abducens. Die drei Stümpfe des N. tri-
geminus, die Nn. facialis, glossopharyngeus und vagus,
sowie die Rückenmarksnerven zeigen, solange sie noch
kurz sind, sämtlich gestreckten Verlauf. Die mit fort-
schreitender Entwickelung auftretenden Komplikationen
beziehen sich nun einerseits auf Biegungen der Stämme,
andererseits auf zunehmende Teilung derselben. Die
Bedingungen für die beiderlei Arten von Veränderungen
lassen sich unschwer übersehen : Wenn ein nervenführen-
der Teil entwickelungsgemäss verbogen wird, so wird
auch der von ihm umschlossene Nervenstamm verbogen
und dessen Richtung des Auswachsens wird eine andere.
So verläuft der N. facialis innerhalb des Hyoidbogens
anfangs gestreckt, und sein Stumpf liegt ventralwärts,
dann aber erfährt der Hyoidbogen eine Knickung und
das Nervenende bekommt nun die Richtung gegen den
Mandibularfortsatz, in den es weiterhin hineinwächst.
Stösst ein auswachsender Nervenstumpf auf einen
Widerstand, so werden seine Fasern aus ihrer Bahn
abgelenkt, wobei die einen auf einer, die andern auf
der andern Seite des Widerstandes auswachsen können.
Der Stamm teilt sich in solchem Fall in zwei oder
mehr Zweige. Als solch ablenkende Widerstände
kommen insbesondere Knorpel und Blutgefässe in Be-
— 224 —
tracht. So teilt sich z. B. der N. mandibularis da,
wo er auf den Meckel' sehen Knorpel stösst, in den nach
innen von letzterem vorbeiziehenden N. lingualis und in den
nach auswärts davon verlaufenden N. alveolaris inferior.
In anderen Fällen bestimmt umgekehrt die gegebene
Anordnung der Nervenstämme die Verteilung der Knorpel-
anlagen, so an der Wirbelsäule und im Becken.1) Es
erscheint eben von besonderer Bedeutung, dass die
Bildung des peripherischen Nervensystems und die des
Knorpelskelettes zeitlich ineinander greifen. Es findet
(wenigstens gilt dies vom menschlichen Embryo) eine
Art von Wettlauf statt. Dasjenige der beiden Gebilde,
Nerv und Knorpel, das zuerst auf dem Platz erscheint,
bestimmt die Anordnung des anderen.
Es wäre nicht schwer, die Zahl der Beispiele zu
vermehren, bei denen das zeitliche Ineinandergreifen
verschiedener Entwickelungsvorgänge für deren besondere
Gestaltung von entscheidender Bedeutung ist. Es han-
delt sich um ein durchgreifendes Vorkommnis: Kein
Organ oder Organteil entwickelt sich unabhängig von
den andern, und so kommt es nicht nur darauf an, dass
sich der Teil in bestimmter Richtung entwickelt, sondern
auch darauf, in welchem Zeitpunkt er sich entwickelt,
und inwieweit seine Entwicklung störend oder fördernd
mit der von anderen Teilen zusammen trifft.
Wie haben wir uns nun vorzustellen, dass Ent-
wicklungen, die nach scheinbar verschiedenartigen Ge-
setzen vor sich gehen, gleichwohl scharf abgegrenzt
in einander eingreifen ? Wie kommt es z. B., dass das
Knorpelgewebe in eben dem Zeitpunkt erscheint, da es
l) Hiezu vergl. mau die Ergebnisse von Petersen in seinen
Untersuchungen zur Entwickelung des menschl. Beckens. Hin u.
Braunes Archiv 1893, S. 89.
225
nicht allein zur Stütze des weichen embryonalen Körpers
erforderlich ist, sondern da es auch in ganz bestimmter
Weise die Anordnung der sich bildenden Gefässe und
Nerven zu regeln hat?
Solange wir das Problem spezialisieren, erscheint
es einer Lösung kaum zugänglich, es wird aber seinem
Wesen nach verständlich, wenn wir die Entwickelung
eines jeden Organismus als einen zwar vielgliedrigen
aber einheitlichen Prozess auffassen, dessen Teilvorgänge
nach allen ihren Phasen einen zeitlich und örtlich fest
geregelten Ablauf haben. Lösen wir einen solchen
Gesamtprozess in seine einzelnen Glieder auf, so be-
kommen wir eine Anzahl von Einzelprozessen, deren
jeder seinen eigenen Gesetzen gemäss abläuft. Diese
Teilprozesse sind aber nicht nur physiologisch zu
gemeinsamer Leistung verkettet, sie führen sich auch
genetisch auf gemeinsame Anfänge zurück, auf um so
einfachere, je früher diese fallen.
Der Prozess, der sich uns in der Entwickelung
organischer Wesen enthüllt, charakterisiert sich seiner
Natur nach als ein periodischer. Jedes sich ent-
wickelnde Individuum ist das Einzelglied einer durch
unabsehbare Zeiten sich hindurch erstreckenden Genera-
tionenreihe. Wie bei einer Wellenlinie, dem einfachsten
Pilde einer periodischen Funktion, jedes Glied seinen
Vorgängern und seinen Nachfolgern gleicht und auch
zeitlich deren Eigentümlichkeiten wiederholt, so wieder-
holen auch die Glieder gegebener Generationsreihen im
Werden und im Vergehen, die Eigenschaften der vor
und der nach ihnen kommenden.
Die periodische Wiederkehr von Eigenschaften bei
den sich folgenden Gliedern einer Generationenreihe
bezeichnen wir bekanntlich als Vererbung. Sind Ent-
wickelung und Leben als periodische Funktionen aner-
15
226 —
kannt, so ergibt sich der Begriff der Vererbung als
eine natürliche Folge hievon. Die Verhältnisse wären
ohne weiteres mit denen einer etwas komplizierter ge-
stalteten Wellenlinie zu vergleichen, deren Gipfel und
Thäler bei jedem Glied in entsprechenden Phasen sich
wiederholen, kämen nicht bei den Generationsreihen
organischer Wesen die Einflüsse sexueller Fortpflanzung
hinzu. Parallelen lassen sich übrigens an dem ein-
fachen Vergleichsobjekt der Wellenlinie auch hiefür
in den Interferenzerscheinungen finden, die auftreten,
wenn zwei zusammentreffende Wellensysteme sich mit
einander kombinieren.
Die Auffassung des Lebens als periodische Funk-
tion führt übrigens auch zu einer naturgemässen Ein-
reihung des Zweckmässigkeitsbegriffs. Bei einer jeden
organischen Entwickelung erfolgt der Ablauf der ein-
zelnen Vorgänge und ihr Ineinandergreifen in zweck-
mässiger, das heisst in der zur Erzeugung eines normalen
Organismus hinführenden Weise. Diese Zweckmässig-
keit in der Entwickelung ist ein physiologisches Postulat,
denn jede Abweichung von diesem Prinzip führt zur
Entstehung von abnormen, bez. von lebensunfähigen
Formen. Sie liegt aber andererseits in jedem Gesetz
periodischer Prozesse begründet. Nach solchem Gesetz
erscheint jede beliebige Phase eines periodischen Pro-
zesses als notwendige, oder physiologisch ausgedrückt,
als zweckmässige Vorbedingung aller nachfolgenden
Phasen. Handelt es sich, wie bei der Entwickelung
organischer Wesen, um hochorganisierte vielgliedrige
Prozesse, so hat ein jedes der Teilglieder an seinem
Ort und zu seiner Zeit in Erscheinung zu treten. Ist
der Anfang der Bewegung (die uq/j) r/;a xivtjoscog
von Aristoteles) gegeben, dann schliesst sich alles übrige
mit Naturnotwendigkeit an.
— 227
Ich habe bei früherer Gelegenheit für eine derartige
Verknüpfung verwickelter Naturvorgänge das Leilmizsche
Wort von der „prästabi Herten Harmonie" gebraucht, und
es ist mir dies als unwissenschaftlich verdacht worden.
Leibniz selber formuliert sein Problem und dessen Lösung
in folgender Weise : Die psychischen Vorgänge folgen
ihren besonderen, fest normierten Gesetzen, und dasselbe
gilt von den körperlichen Vorgängen. Psychische und
körperliche Vorgänge laufen aber in harmonischer Weise
ab, und sie entsprechen einander, wie etwa zwei absolut
übereinstimmend regulierte Uhren von vielleicht völlig
verschiedenartiger Konstruktion.1) Dies Bild der Uhren
führt Leibniz an anderer Stelle weiter aus-) : Die Über-
einstimmung in deren Gang wird verständlich 1) wenn
die eine Uhr stetig auf die andere einwirkt; 2) wenn
ein Aufseher die beiden Uhren fortwährend regliert
und 3) wenn die Uhren absolut genau gearbeitet sind.
Letztere Möglichkeit ist die der prästabilierten Über-
einstimmung. Setzt man an Stelle der beiden Uhren Seele
und Körper, so gelten dieselben Betrachtungsweisen :
Für die erstere Auffassung, gegenseitige Abhängigkeit
von Seele und Körper, tritt die landläufige Philosophie
ein, aber da man nicbt verstehen kann, wie materielle
Teilchen und immaterielle Eigenschaften auf einander
wirken können, ist die Auffassung nicht haltbar. Die
r) „Les âmes suivent leurs lois, qui consistent dans un certain
développement des perceptions selon les biens et les maux; et les
corps suivent aussi les leurs, qui consistent dans les règles du
mouvement : et cependant ces deux êtres d'un genre tout à fait
différent se rencontrent ensemble et se répondent comme deux
pendules parfaitement bien réglées sur le même pied, quoique peut-
être d'une construction toute différente. Et c'est ce que j'appelle
V Harmonie préétablie, qui écarte toute notion de miracle des
actions purement naturelles et fait aller les choses de leur train.
réglé d'une manière intelligible." Gr. Gr. Leibnitii Opera omnia, éd.
Dutens. Clenevae 1908- Bd. II S. 40.
2) Ebendaselbst II. S . 95.
— 228 —
zweite Auffassung verlangt das stetige Eingreifen eines
Dens ex machina und ist gleichfalls unstatthaft. Es
bleibt daher nur die dritte Möglichkeit, dass bei der
ersten Schöpfung jede der beiden „Substanzen" so voll-
kommen gebildet und so genau reguliert worden ist, dass
sie, obwohl ihren eigenen Gesetzen folgend, doch mit
der anderen genau harmoniert, gerade als ob eine von
der andern abhängig wäre, oder als ob Gott fortwährend
für die Übereinstimmung beider besorgt wäre.
Sieht man bei dieser Darstellung von der Ein-
führung des Welten Schöpfers als Erklärungsmotiv ab,
so bleiben das Grundproblem und dessen Lösung dem
unserigen durchaus verwandt. In beiden Fällen handelt
es sich um den Ablauf unter sich verschiedenartiger,
gesonderten Gesetzen folgender Vorgänge. Für beide
Probleme liegt die Lösung in der Anerkennung eines die
Sondervorgänge beherrschenden Gesamtgesetzes. Durch
das Gesamtgesetz der Entwicklung ist das einheitliche
Ineinandergreifen der Teilvorgänge im voraus bestimmt,
die Harmonie ist eine prästabilierte. Sie ist in dem-
selben Sinn prästabiliert, wie das allseitige, dem perio-
dischen Ablauf der Jahreszeiten sich anpassende In-
einandergreifen pflanzlicher und tierischer Entwicklungen
überhaupt. Bei der Anerkennung und Feststellung
allgemeiner und besonderer Entwickelungsgesetze orga-
nischer Wesen bleibt übrigens die neuere Forschung
nicht stehen, sie bemüht sich, die Entstehung dieser
Gesetze auch ihrerseits als notwendige Folgen natür-
licher Vorsänge abzuleiten.
Recherches sur la transparence
des eaux du Léman
par
F.-A. Forel.
Dans le IIe volume du Léman, p. 427 *), j'ai
donné quelques chiffres résumant mes dernières études
sur la transparence des eaux, telles que je les ai ex-
posées le 9 janvier 1895 devant la Société vaudoise
des Sciences naturelles. Il sera peut-être utile d'en pu-
blier une description plus détaillée; la méthode que j'ai
employée pourra, je l'espère, intéresser des collègues qui
voudraient suivre à des études analogues ou voisines.
Et d'abord la méthode. Elle consiste à verser l'eau
qu'il s'agit d'étudier dans un tube vertical, fermé en bas
l jpar une glace et à en déterminer la transparence.
Mon appareil est un tube cylindrique de 1 m de
longueur, en feuilles de zinc, de 3,5 cm de diamètre,
terminé à ses deux extrémités par des cupules plus
larges, de 5,5 cm de diamètre. La cupule inférieure
est fermée par une glace de verre blanc cimentée sur
son pourtour; la cupule supérieure est ouverte2).
Je suspends le tube verticalement à un trépied qui
le maintient soulevé à 10 cm au-dessus du plancher
de la chambre, de telle sorte que je puisse glisser
sur le sol un écran blanc, ou une feuille de papier
portant des caractères d'imprimerie, et les voir
1 éclairés par une lumière oblique.
l) F.-A. Forel. Le L<''man, monographie limnologique t. II,
p. 427. Lausanne 1895.
2J Si j'ai évasé en cupules les extrémités de mon tube, c'est
afin que le champ visuel ne soit pas rétréci sur les bords, ni par
le ciment qui entoure la glace de l'extrémité inférieure, ni par le
ménisque capillaire de l'eau à sa surface libre.
230 —
Je verse dans le tube un litre de l'eau dont je veux
étudier la transparence. Deux cas peuvent se présenter:
a. Ou bien l'eau est relativement limpide ; je dis-
tingue plus ou moins nettement les objets éclairés à tra-
vers l'épaisseur d'un mètre d'eau que mon rayon visuel
parcourt dans l'appareil. J'apprécie alors le degré de
la limpidité- je constate qu'elle me permet de voir à
peine une lueur diffuse dans les cas de transparence faible;
ou bien dans les cas où la transparence est plus parfaite
de reconnaître des caractères d'imprimerie, de lire telles
grosses lettres, de ne pas lire telles lettres plus fines.
b. Ou bien l'eau est assez louche pour être opaque
et ne pas laisser passer trace de lumière sous l'épaisseur
d'un mètre. Dans ces conditions, pour arriver à en appré-
cier le degré d'opacité, je dilue l'eau trouble dans des
quantités progressives d'une eau parfaitement limpide?
(de l'eau passée par un filtre de porcelaine, filtre Chamber-
land) et je cherche le degré de dilution qui me permet
de voir les premières lueurs de lumière diffuse, ou de
lire nettement tels caractères d'imprimerie que je choisis
comme objet visé. La quantité plus ou moins grande
d'eau limpide ainsi ajoutée me donne une notion de la
turbidité de l'eau sale; j'obtiens de cette manière les
éléments d'une comparaison suffisante entre deux eaux
inégalement opaques.
Il est évident que les valeurs données par ce pro-
cédé ne sont pas des chiffres absolus ; ils varieraient
d'un observateur à l'autre suivant la puissance de leurs
yeux; l'appréciation de la lisibilité d'un caractère pour-
rait aussi différer. Mais le même observateur, prenant
l'habitude d'estimer de la même manière l'instant où il
déclare lisible tel caractère, peut obtenir, cela est cer-
tain, des valeurs parfaitement comparables entre elles-
231
En possession de cette méthode, qui pourra, je le
crois, servir à diverses recherches dans plus d'un sens,
je me suis posé le problème suivant: Quelle est la
quantité des poussières qui rendent opaque Peau du lac,
tellement que la limite de visibilité1), dans le Léman,
est en moyenne, en été de 7,3 m, eu hiver de 12,5 m,
au maximum de 21,0 m.
Je suis parti d'un fait général que j'ai démontré
déjà en 1873. La cause principale de l'opacité des eaux
d'un lac d'eau douce, tel que le Léman, réside, non clans
une absorption par l'eau elle-même, mais dans la forma-
tion d'un écran par les poussières en suspension dans l'eau.
Ces poussières constituent un brouillard qui, par super-
position op tique, finit par masquer entièrement l'objet
visé et le faire disparaître à la vue2). Appelons as-
sombrissement ou extinction par occultation, cette caté-
gorie de phénomènes qui amènent la diminution de la
transparence par formation d'un écran de corpuscules
opaques optiquement superposés.
Cela étant j'ai fait les expériences suivantes pour
apprécier le poids des poussières qui font écran dans
l'eau du lac.
1° J'ai commencé par déterminer comment se com-
porte dans mon tube une eau qui dans le lac me donne
la limite de visibilité sous un mètre de profondeur.
Pour cela j'ai cboisi un jour (le 11 juin 1894) où
l'eau du lac devant Morges était relativement sale. La
rivière la Morge était en état de crue par suite de pluies
torrentielles: ses eaux, très chargées d'alluvion, étaient
1) J'appelle limite de visibilité, la profondeur à laquelle dis-
paraît à l'œil un disque blanc de 20 cm de diamètre, descendu verti-
calement dans le lac. Cf. F.- A. Forel, le Léman II, 409 sq. Lau-
sanne 1895.
2) Ibid. p. 413.
— 232 —
battues, à leur entrée dans le lac, par les vagues d'un
vent sudois; les eaux littorales du lac en étaient salies,
et un courant de surface amenait des eaux troubles le
long de la côte, jusque sous le débarcadère des bateaux
à vapeur. L'opacité des eaux était différente d'une
place à l'autre sous ce pont; elles étaient plus troubles
près de la rive qu'en avant. Aussi en passant d'une
travée à l'autre de l'estacade, et en jetant dans l'eau
mon disque blanc attaché à une corde graduée, j'ai bien-
tôt trouvé le point où l'eau avait exactement sa limite
de visibilité par un mètre de profondeur. J'y ai puisé
un seau d'eau et l'ai apporté dans mon laboratoire.
J'ai versé l'échantillon dans mon tube vertical et
j'ai reconnu que cette eau me donnait la lisibilité nette
des caractères du grand titre du journal l'Estafette de
Lausanne (capitales normandes de 20 mm de hauteur,
et de 7 mm de largeur des pleins).
J'ai répété l'expérience à deux reprises dans des
circonstances analogues et je suis arrivé à des résultats
identiques.
2° Ce premier point posé, j'avais à déterminer le
poids des matières en suspension qui m'amèneraient ex-
périmentalement à ce même résultat : lisibilité dans mon
tube vertical d'un mètre de long, des gros caractères
du titre de V Estafette. Pour cela j'ai institué l'expé-
rience suivante :
Je prends une argile fine; j'en pèse une quantité
suffisante; je la délaie dans l'eau pure, et je cherche le
degré de dilution qui me donne la même lisibilité dans
le tube vertical.
Voici le détail de l'une de ces expériences (4 juin 1894).
Je prends de l'argile humide provenant d'un dra-
gage profond dans le Léman, et je la délaie jusqu'à
en faire une crème bien homogène. Je pèse 1,34 g de
2 :'}:-{
cette crème et je la laisse sécher à l'air jusqu'à poids con-
stant; ces 1,84 g me donnent un poids de limon sec de
0,67 g; il y avait juste 50° ,.„ d'eau.
Je prends ensuite 1,10 g de ma crème (représentant
d'après le témoin 55 cg de limon sec) et je la dilue
dans de l'eau passée au tiltre Chamberland. Je pousse
la dilution jusqu'à ce que j'obtienne la lisibilité du gros
titre de V Estafette; j'y arrive quand les 55 cg de limon
sont dilués dans 74 litres d'eau limpide.
Si je divise 55 par 74 j'obtiens 0,7. L'eau, qui
m'a donné une transparence égale à celle de l'eau du
lac quand celle-ci a une limite de visibilité de 1 m de
profondeur, contient donc par litre 7 milligrammes de ma-
tières en suspension.
J'ai répété cette expérience plusieurs fois avec des
argiles diverses. Tantôt avec des argiles sèches, délayées
dans l'eau, puis décantées; tantôt avec des argiles
sèches, porphyrisées, tamisées, délayées et décantées -,
tantôt, comme dans l'expérience que je viens de raconter,
avec de l'argile humide simplement délayée 1). C'est ce
dernier procédé qui m'a donné les meilleurs résultats.
Avec les diverses substances que j'ai utilisées, je
suis arrivé à des valeurs du même ordre ; en voici les
chiffres. La quantité de matières en suspension clans
un litre d'eau qui donne un degré de lisibilité égal à celui
des eaux troubles du lac dont la limite de visibilité est
à 1 m de profondeur, a été:
I. Argile du lac, sèche, délayée et décantée 9 mg
IL id. id. 7 „
III. Même argile, porphyrisée, tamisée, délayée 12 „
!) Il va sans dire que les détails du mauuel opératoire varieut
d'une argile à l'autre; la prise du tcmoin qui détermine la teneur
d<' l'eau en limon doit se faire différemment. Jl est inutile d'ex-
poser les particularités de ces manœuvres très simples.
234 —
IV. Même argile, porphyrisée tamisée, délayée 15 mg
A'. Argile du lac, humide, délayée . . . 7 „
VI. Argile miocène de Chigny sur Morges,
humide, délayée 12 „
VII. Argile des tuileries de Mormont, humide,
délayée 17 „
VIII. Argile bleue de la seconde terrasse la-
custre du Léman, Morges 16 ,,
Prenons un chiffre moyen 10 mg par litre. Nous
estimons donc à 10 mg par litre (10mg/l) la teneur en pous-
sières suspendues d'une eau qui dans le lac aurait une
limite de visibilité par 1 m de profondeur.
3° Mais une eau dont la limite de visibilité est à un
mètre de profondeur est de l'eau sale, de l'eau trouble,
de l'eau opaque. Les eaux limpides du Léman ont une
limite de visibilité bien plus étendue ; nous avons dit
qu'elle atteint jusqu'à 21 m de profondeur.
Pouvons nous, du chiffre obtenu pour la limite de
visibilité courte des eaux sales, arriver à la valeur des
eaux à longue limite de visibilité? de la teneur des eaux
opaques arriver à la teneur des eaux limpides ? Pas
directement; mais tout au moins nous trouverons les
extrêmes que ne dépassent pas ces dernières valeurs.
J'admettrai d'abord que si une teneur en poussières
suspendues de 10 m g/1 arrête la limite de visibilité à
1 m, des eaux qui permettent de voir par 5 m, par 10 in,
par 20 m de profondeur contiennent évidemment moins,
beaucoup moins de poussières. 10 mg de poussières
suspendues dans 1 litre d'eau est donc un maximum qui
est loin d'être atteint dans les eaux claires et très claires
du Léman.
Je crois ensuite que nous pouvons faire le raisonne-
ment suivant. L'obstacle qui arrête la vision est un
obstacle mécanique; il est formé par la superposition opti-
— 235 —
que d'écrans minuscules, les poussières en suspension
dans l'eau qui, lorsqu'elles sont assez nombreuses, inter-
ceptent par occultation tous les rayons visuels directs.
Que ces écrans soient disposés sur un même plan ou
qu'ils soient dispersés dans une masse liquide de grande
épaisseur (dans les limites où nous nous mouvons ici),
l'obstacle à la vue doit être de même efficacité *, la même
quantité de poussières doit être nécessaire pour arrêter
la vision. Je me crois donc autorisé à admettre qu'en
ne nous occupant que du phénomène de l'extinction de
la lumière par occultation,
si 10 mg/1 donnent une limite de visibilité par . 1 m
„ 5 „ donneraient une limite de visibilité par 2 „
2 5
r> a n ii ii h i- ii n ,J n
il ■!• n ii ii n :i ii ii *■'-' n
ï! ",0 „ „ „ „ „ „ „ "" 11
Le maximum de transparence que j'ai constaté dans
le Léman, m'a donné une limite de visibilité par 21 m
de profondeur, le 21 février 1891, au large d'Ouchy.
D'après ce que nous venons de dire, cette eau aurait
renfermé moins d'un demi milligramme de poussières
minérales en suspension.
Si au lieu de poussières minérales on faisait inter-
venir des poussières organiques dont la densité est beau-
coup plus faible, un poids moins grand encore de ma-
tières animales ou végétales devrait être suffisant pour
obtenir le même effet. Il est vrai que les poussières
organiques n'ont pas en général la ténuité extrême des
poussières minérales d'une alluvion argileuse; celles-ci
étant lourdes, ce ne sont que les particules les plus fines
qui restent en suspension. Les poussières organiques
sont le plus souvent sous forme de flocons relativement
gros; ceux-ci ayant la même densité que l'eau peuvent
y flotter indéfiniment. Or pour une même substance la
236
grosseur des particules est un facteur important du poids de
matière qui amène l'opacité du milieu; plus les poussières
sont grosses, plus est grande la quantité nécessaire pour
qu'elles forment un écran opaque arrêtant la lumière.
Comme d'une autre part bon nombre des poussières,
qui dans l'eau d'un lac interviennent pour fixer la limite
de visibilité, sont de nature organique, et que nous ne
pouvons en indiquer le volume, les chiffres donnés ci-
dessus, qui se rapportent à des poussières minérales, ne
peuvent pas, sans autre correction, être étendus aux faits
naturels qui se jouent dans le lac. Mais je crois pou-
voir admettre que si les valeurs numériques ne sont pas
absolument certaines, l'ordre de grandeur qu'elles indi-
quent est parfaitement admissible et valable?
Par un autre procédé j'ai cherché quelle est l'épais-
seur de limon qui peut arrêter la vision, rendre l'eau
opaque, empêcher de distinguer un corps éclairé.
Dans une auge plate de 26 mm de largeur interne,
j'ai placé 0,73 g de limon sec, délayé dans l'eau, et j'ai
étendu la dilution jusqu'à ce que je fusse à la limite
de la vision distincte. J'ai dû employer pour cela 1500 g
d'eau passée au filtre Chamberland. Si j'attribue à ce
limon sa densité de 2,6, cela me donne une couche de
limon sec d'une épaisseur de 0,004 mm. Une couche de
4 millièmes de millimètres d'alluvion lacustre du Léman
suffit donc, je ne dirai pas pour arrêter la lumière dif-
fuse, mais pour empêcher de distinguer un objet éclairé.
C'est là aussi une valeur extrêmement faible ').
Quoiqu'il en soit, en nous tenant aux chiffres don-
nés pour l'alluvion minérale en suspension dans l'eau qui
peut causer l'opacité relative de l'eau du Léman, nous
1) M. le professeur Ch. Dufour a montré, il y a quelques
années qu'une couche de charbon d'un millième de millimètre d'é-
paisseur, déposée sur une lame de verre suffit à arrêter entièrement
la lumière. (Archives I, 226 sq. Genève 1896.)
237
arrivons à des quantités extraordinairement faibles, quel-
ques milligrammes, moins d'un milligramme par litre.
C'est remarquablement peu: nous en jugeons par com-
paraison avec la quantité des sels qui sont dissous dans
l'eau de ce même lac 5 l'eau du Léman contient 175 mg
de substances solubles par litre, par conséquent 350 fois
plus que de matières en suspension. Ainsi donc, au point
de vue physique l'eau du Léman est, dans les beaux
jours d'hiver surtout, de l'eau presque absolument
pure 1).
On m'a fait deux objections: 1° Vous ne tenez pas
compte des autres facteurs d'absorption, entr'autres de
l'absorption de la lumière par l'eau elle-même. L'eau est
un liquide possédant un certain pouvoir d'absorption.
A cela je répondrai: C'est vrai. Mais, si une partie de
la lumière est absorbée par le liquide, en tant que li-
quide légèrement absorbant, j'aurai besoin d'une quantité
encore moins grande de poussières opaques pour expli-
quer la disparition par occultation des objets descendus
dans le lac aux profondeurs observées. De ce fait encore
mes chiffres sont des maximums.
2° D'autre part M. le professeur Henri Dufour m'a
fait remarquer que je n'ai pas le droit de passer par une
simple division de la teneur en alluvion suspendue dans
une couche de un mètre à celle d'une couche d'épaisseur
plus forte. Quelle que soit la nature de l'obstacle qui
affaiblit ou arrête la pénétration des rayons lumineux,
que ce soit une occultation par des écrans minuscules
ou une absorption par un milieu translucide, la quantité
]) Et cependant J.-L. »Soret clans ses recherches sur la trans-
parence de l'eau du Léman, n'est arrivé à la limpidité absolue
qu'après avoir fait reposer par décantation très longtemps prolongée
toutes les poussières qui flottent encore dans le liquide. Archives
XXXVII, 14Ü, Genève 1870.
— 238
de lumière éteinte s'exprime par une fonction exponen-
tielle : la fraction de lumière transmise est I = Io Ax (loi
de Bouguer1).
Si cela est, et je m'incline devant la parfaite com-
pétence de l'ami qui a insisté sur cette objection, les
chiffres donnés ci-dessus doivent être non des maximums
mais des minimums ; la quantité de matières en suspen-
sion dans les eaux du Léman doit être un peu plus
forte que les milligrammes ou fractions de milligramme
que j'ai indiqués page 234.
J'ai voulu en avoir le cœur net, et je me suis
adressé à l'expérience. J'ai rempli mon tube vertical jus-
qu'à moitié hauteur, d'une eau opalinisée par de Fallu -
vion minérale impalpable des grands fonds du lac; j'en
ai constaté la transparence par des essais de lisibilité;
puis j'ai achevé de remplir le tube avec de l'eau passée
au filtre Cbamberland, et j'ai mélangé le tout. D'après
l'objection de M. Dufour je m'attendais à trouver une
diminution de l'opacité, ou si l'on veut une augmentation
de la transparence dans cette eau ainsi diluée. C'est
le contraire que j'ai obtenu. Je crois avoir constaté par
de nombreuses répétitions de l'expérience que les carac-
tères d'imprimerie vus à travers cette eau étaient moins
distincts lorsque en surajoutant de l'eau claire j'avais,
avec la même dose de poussières occultantes, augmenté
l'épaisseur de la couche translucide; il est vrai que
comme la lisibilité h travers des couches d'épaisseur dif-
férentes est assez difficile à comparer, d'autant plus que
l'observation des deux lisibilités n'est pas simultanée
m ,iis consécutive, il pouvait y avoir un peu de doute sur
la valeur de l'expérience.
i) A est le coefficient du transmission pour l'unité d'épaisseur
traversée, un décimètre p. ex., ou un métré, x est l'épaisseur en
décimètres ou en mètres.
239 —
Mais j'ai obtenu une observation parfaitement cer-
taine en me plaçant à la limite de l'opacité absolue. Je
remplis à moitié le tube vertical d'une eau troublée par
de l'alluvion lacustre et amenée jusqu'à la dernière li-
mite de l'extinction de la lumière; je vois encore un peu
de lumière diffuse, des traces à peine dicernables, mais
cependant certaines. Après cela j'ajoute de l'eau lim-
pide qui achève de remplir le tube, j'agite le tout pour
avoir un mélange bien homogène et alors, quand j'es-
saye de regarder au travers de l'eau, toute trace de lu-
mière diffuse a disparue; l'opacité absolue est atteinte.
J'ai répété l'expérience dans des conditions plus
exagérées encore, en partant d'une quantité d'eau limoneuse
très faible, en remplissant seulement le dixième du tube
vertical, et j'ai à plusieurs reprises obtenu le même résultat.
J'ai répété l'expérience avec du lait, même résultat.
Voici l'expérience la plus démonstrative que j'ai
établie :
Par un tuyau de caoutchouc descendant jusqu'au
fond du tube vertical je verse environ un décilitre d'eau
trouble qui amène presque l'opacité absolue ; il passe ce-
pendant encore un peu de lumière diffuse à travers
cette couche d'un décimètre d'épaisseur. J'achève de
remplir le tube vertical en y versant 9 décilitres d'eau
passée au filtre Chamberland. Résultat immédiat: Opa-
cité absolue. Je dilue progressivement cette masse opa-
que jusqu'à ce que je commence à voir passer les pre-
mières traces de lumière diffuse à travers une couche
d'un mètre d'épaisseur; je n'y arrive qu'après avoir ajouté
G litres d'eau claire à mon litre d'eau opaque.
De cela je dois conclure:
Ou bien si, comme le dit M. Dufour, la fonction
exponentielle est applicable à l'extinction de la lumière
par occultation, dans mon expérience le coefficient d'oc-
240
cultation par les écrans minuscules des poussières miné-
rales ou organiques est plus faible que le coefficient d'ab-
sorption par l'eau limpide passée au filtre Chamberland.
Ce serait bien difficile à admettre étant donné la splen-
dide transparence de cette eau.
Ou bien l'extinction de la lumière par occultation,
au moyen des écrans minuscules des poussières en suspen-
sion, est soumise à une autre loi que l'extinction de la
lumière par absorption d'un milieu fluide physiquement
homogène. Est-elle simplement proportioneile à la quan-
tité des poussières en suspension, quelle que soit l'épais-
seur du milieu limpide dans lequel ces poussières sont
suspendues? Cela me paraît probable, mais je n'ai pas
encore su instituer une exjîérience qui le démontre.
Quoiqu'il en soit, la conclusion générale que je tire
de ces recherches est que les matières en suspension
dans les eaux limpides du Léman sont en quantité ex-
trêmement faibles. Ces eaux sont presque pures au point
de vue physique.
Über Digitalis purpurea L.
Von
Casimir Nienhaus.
Der Fingerhut ist unbestritten unter den vielen
Arzneimitteln, die bei Erkrankungen des Herzens Ver-
wendung finden, das wichtigste. Die weitverbreitete Pflanze,
die übrigens der Flora unseres Landes nicht angehört,
fand schon im XI. Jahrhundert zur Herstellung äus-
serlich gebrauchter Arzneimittel Verwendung. In den
Jahren 1640 und 1650 wird Digitalis zuerst unter den
Arzneipflanzen genannt und seit 1775 hat die Drogue
ihren hervorragenden Platz im Arzneischatze unter den
heroischen Mitteln erobert.
Die üppig entwickelten Laubblätter sind unter dem
Namen Folia Digitalis gebräuchlich; sie werden ent-
weder als solche gebraucht oder sie dienen zur Her-
stellung einer Anzahl wichtiger, galenischer Präparate.
Es gibt wenige Arzneimittel, von denen der Arzt eine
so prompte Wirkung wünscht, erwartet und verlangt,
A\ie von der Digitalis. Aus diesem Grunde ist es von
der grössten Wichtigkeit, dass die Drogue in bester
Qualität verabreicht wird und dass die daraus dargestellten
Präparate nach rationellen Methoden gemacht werden.
Merkwürdigerweise sind die schon lange gebräuch-
lichen, auf rein empirischem Wege erhaltenen Präparate
auch heute noch vollständig zweckentsprechend. Die
Bemühungen der modernen pharmazeutischen Chemie
16
242
sind selbstverständlich darauf gerichtet gewesen, aus
der wichtigen Drogue das s. g. wirksame Prinzip zu
gewinnen, um damit dem Arzte ein unfehlbares Mittel
zu Verfügung zu stellen. Die auf diesem Wege erzielten
Resultate haben bisher noch nicht den gewünschten
Erfolg gehabt.
Seit dem Jahre 1845 sind vielfache Versuche in
dieser Richtung gemacht worden. Die aus der Digitalis
gewonnenen Präparate dieser Art erhielten zunächst
den Namen „Digitalin a und die Anzahl solcher Digi-
taline ist eine recht beträchtliche. Dieselben sind je-
weilen nach den Autoren getauft worden, so Digitaline
Homolle, Lancelot, Lebordais, Schmiedeberg, Walz,
Kosmann; dazu kommen noch Digitalinum verum und
purum. Dieser embarras de richesse beweist von vorn-
herein, dass diese verschiedenen Präparate nicht ein-
heitlichen Charakter haben, d. h. nicht reine Substanzen
im chemischen Sinne sein können. Sie sind eins nach
dem anderen erschienen und mit mehr oder weniger
Reklame empfohlen worden, um über kurz oder lang
der Vergessenheit anheimzufallen. Der Mediziner ist
bis auf den heutigen Tag immer wieder zur Digitalis
selbst zurückgekehrt.
Die häufigste und beliebteste Art der Verabreichung
besteht darin, dass die besonders präparierten Blätter
mit heissem Wasser ausgezogen werden. Wir wollen
nun auch das Wort „Digitalin" gebrauchen und damit
eine glykoside Substanz bezeichnen, die bei der Be-
handlung mit Wasser eine Spaltung erfährt in Glykose
(Traubenzucker) und ein zweites Spaltungsprodukt, das
in diesem Falle die Wirkung bedingt.
Es liegt nun die Möglichkeit vor, diesen Vorgang
zu kontrollieren. AVird die Digitalis in kochendes
Wasser gebracht, dann umgerührt und sofort eine Probe
— 243
abfiltriert, dann tindet man in letzterer schon Glykose.
Die Quantität lässt sich nach bekannten Methoden be-
stimmen und so kann man sich ein Urteil verschalten
über die relative und eventuell auch über die absolute
Menge der zur Wirkung kommenden Substanz. Unter
allen Umständen kann man den Zeitpunkt bestimmen,
in dem der Glykosegehalt nicht mehr zunimmt, also die
Operation beendigt ist. Um sich über die Wirksamkeit
einer Digitalis ein massgebendes Urteil zu verschaffen,
könnte man die Quantität Glykose vorschreiben, die ein
wässriger Digitalisauszug, z. B. im Verhältnis von 1 zu
10 Wasser, zum mindesten haben soll. Die Quantität
des wirksamen Spaltungsproduktes ist der Menge der
gefundenen Glykose proportional. Die Spaltung der
glykosiden Substanz geht vor sich unter dem Einflüsse
der Eiweisstoffe, die im Gewebe des Blattes enthalten
sind. In den seltenen Fällen, in denen Digitalis in
Substanz gegeben wird, wird die Spaltung durch die
Mitwirkung des Speichels und des Magensaftes wesentlich
begünstigt. In beiden Fällen muss die Wirkung der
Drogue der Spaltung glykosider Inhaltstoffe zugeschrieben
werden.
Die bis auf den heutigen Tag fortgesetzten Unter-
suchungen haben als ferneres Resultat ergeben, dass
ein anderer, in Alkohol löslicher Inhaltstoff, das „Digi-
toxin", ebenfalls die spezifische Wirkung der Digitalis
repräsentiere. Dadurch erklärt sich dann die Wirksamkeit
der Digitalistinkturen, die früher viel mehr gebraucht
wurden, wie zur Zeit. Sowohl in der alkoholischen,
wie in der ätherischen Tinktur muss das Digitoxin der
wirksame Stoff sein, da dasselbe in Alkohol und Äther,
nicht aber in Wasser löslich ist.
Digitalisextrakte haben nie seitens der Mediziner
grosse Beachtung gefunden. Dagegen war vor 30, 40
— 244 —
Jahren der Fingerhut-Essig, Acetum Digitalis, ein sehr
geschätztes Arzneimittel. Dasselbe ist vollständig in
Vergessenheit geraten und doch ist einer solchen Art
der Darreichung die Berechtigung nicht abzusprechen.
Bei Blutungen leistete das Mittel gute Dienste.
In vorstehendem ist einmal von „besonders präpa-
rierten" Digitalisblättern die Hede gewesen. Das Blatt
weist sehr eigentümliche anatomische Verhältnisse auf.
Von der starken Mittelrippe zweigen sich primäre Seiten-
rippen ab, die bis in die Nähe des Blattrandes ver-
laufen. Zwischen den letzteren tritt eine sekundäre
Nervatur auf, die dem Gewebe des Blattes auch äusser-
lich eine sehr zierliche Zeichnung verleiht. Unter-
suchungen hatten ergeben, dass die Haupt- und die starken
Seitenrippen quantitativ weniger reich an den bespro-
chenen Inhaltstoffen seien. Die Beobachtung führte
dahin, dass findige Apotheker, die in der Nähe Digitalis
sammeln konnten, diese Stränge so viel wie möglich
aus dem Blattgewebe entfernten und sich dann für die
so gereinigte Ware horrende Preise bezahlen Hessen.
Neuerdings ist nun eine Untersuchung veröffentlicht
worden, nach der die Nervatur ebenso wirksam sein
soll, wie das Mesophyll des Blattes.
Wie ich schon andeutete, haben die wissenschaft-
lichen Bestrebungen, vollständige Klarheit über die
Inhaltstoffe der überaus wichtigen Arzneipflanze zu
schaffen, bis jetzt noch keineswegs ihren Abschluss ge-
funden \ aus dem bisher gefundenen geht aber mit Sicher-
heit hervor, dass die Darreichungsformen der Digitalis, wie
sie von der Pharmazie schon seit langer Zeit geboten
wurden, ihre volle Berechtigung hatten, ja dass in diesem
Falle die Empirie nachträglich ihre wissenschaftliche
Begründung gefunden hat und ihre Ehre gerettet sieht.
Über ungesättigte Säuren.
(Mitteilung aus der chemischen Anstalt der Universität
im Bernoullianum.)
Von
Fr. Fichter.
In der folgenden Abhandlung soll eine Beziehung
zwischen der Leitfähigkeit einbasischer ungesättigter
Säuren und der Stellung der Doppelbindung in der
Molekel besprochen werden. Um aber zunächst den
Gedankengang darzulegen, der zu dieser Untersuchung
geführt hat, gebe ich in einem ersten Kapitel eine kurze
Zusammenstellung einiger Arbeiten über ungesättigte
Säuren, die ich mit verschiedenen Mitarbeitern von
1896 — 1902 in den Räumen der chemischen Anstalt im
Bernoullianum ausführte. Im zweiten Kapitel ist das
Hauptthema erörtert, und ich betrachte es als einen
glücklichen Umstand, dass ich meinem Lehrer in Physik,
unserm hochverehrten Herrn Jubilar, hiemit eine Unter-
suchung widmen kann, in welcher physikalische, speziell
elektrische Messungen, eine so wesentliche Rolle spielen.
I. K a p i t e 1.
Synthesen ungesättigter Säuren.
1. Die /^-ungesättigten Säuren.
Durch Reduktion von Acetoglutarsäureester l) mit
Natriumamalgam in wässrig-alkoholischer Lösung ent-
J) Wislicenus \- Limpach. Ann. d. Chem. 192, 128.
— 24G —
steht unter gleichzeitiger Verseifung die d-Oxy-a-äthyl-
glutarsäure resp. die ihr entsprechende d-Caprolacton-;'-
carbonsäure :
COOR C001I COOH
I ! I
CHt-CO-CH -CH2-CH2 COOR >- CH3-CH-CH-CH2-CH2-COOH > CHS-CH-CH-CH2-CH2
I I
OH O — — CO
Bei der trockenen Destillation verliert diese Säure
Kohlendioxyd und Wasser und liefert nebeneinander die
j/($-Hexensäure und die «-Athylidenglutarsäure -) :
COOH COOH
I I
CH3-CH-CH-CH2-CH2 >- CH3-CH=CH-CH2-CH2-COOH und CHs-CH = C-CH2-CH2
I I I
O— ~CO COOII
In vollkommen analoger Weise gelangt man durch
Reduktion des Benzoylglutarsäureesters zur d-Oxy-
a-benzylglutarsäure und zur (î-Phenyl-d-Valerolacton-y-
carbon säure:
COOR COOH COOH
C6H5-CO-CH-CH2-CH2 >■ C0H5 CH-CH-CH2-CH2 y CeHs-CH-cH-GHs-CHa
1 1 1 1 1
COOK OH COOH O— —CO
die ihrerseits bei der trockenen Destillation nebenein-
ander Phenyl-j'd-pentensüure und wenig a-Benzyliden-
glutarsäure liefert 3) :
COOH COOH
I I
CuH^-CH-CH CH2 CHl- •>- CsHä-CH = CH-CH2-CH2-COOH und CßHa-CH = CCH2-CH2
I I '
O CO COOH
Diese beiden Reaktionsreihen repräsentieren eine
der Verallgemeinerung fähige Synthese /^'-ungesättigter
Säuren, welche sich direkt anschliesst an die Reduktion
2) Fichier, Ber. d. d. ehem. Ges. 29, 2367.
:!) Alex. Bauer, Hiss. Basel 1898 und Ber. d. d. ehem. Ges.
31, 2001.
— 247 —
des Acetobernsteinsäureesters 4) zu Methylparaconsäure
und die Destillation der letzteren zur Gewinnung von
/i/-Pentensäure neben Methylcitra- und Methylitacon-
säure 5) :
COOK COOH
CH3-CO-CH-CH2 >- CHii-CH-CH-CH» ^ CH:^CHr,CH-CH2-COOH etc.
[ I
COOR <> CO
Die Zwischenprodukte der oben geschilderten Syn-
tbese sind die interessanten d-Lactonsäuren, welche die
Unbeständigkeit des d-Lactonringes in deutlichster Weise
zeigen: die diesbezüglichen Beobachtungen sind seither
von Siobbe*) an andern Beispielen bestätigt worden.
Die erhaltenen /^-ungesättigten Säuren dienten in erster
Linie dazu, unsre Kenntnisse dieser Säureklasse, von
der bis dahin nur die Allylessigsäure zugänglich war,
nach verschiedenen Richtungen zu vermehren und zu
befestigen. So konnte die von Fittig aus Versuchen
an der Allylessigsäure gefolgerte Vermutung 7), dass
/d-ungesättigte Säuren beim Kochen mit Natronlauge
nicht umgelagert werden, im vollen Umfange bestätigt
werden: die Indifferenz gegen kochende Natronlauge ist
das charakteristische Unterscheidungsmerkmal der yd-xm-
gesättigten Säuren gegenüber den ^/-ungesättigten, mit
welchen sie sonst viele Ähnlichkeit besitzen. Dann hat
die /d-Hexensäure auch zu verschiedenen physikalischen
Messungen gedient, wodurch unsre Erfahrungen bezüglich
des Einflusses der Stellung der doppelten Bindung inner-
4) Die sich am Besten mit Aluminiumamalgam durchführen
lässt.
5J Fittig Sf Spenzer, Ann. d. Chem. 283, *iG.
c) H. Stobbe, Aun. d. Chem. 314, 120.
") Ann. d. Chem. 283, 63.
— 248 —
halb der Molekel einer ungesättigten Säure erweitert
werden konnten.8)
Von der als Nebenprodukt dei der Darstellung der
yd-Hexensäure erhaltenen «-Athylidenglutarsäure und
ihren Verwandten soll in einem besondern Abschnitt
noch weiter die Rede sein.
Einen andern Weg zur Darstellung ^'-ungesättigter
Säuren hatte schon Fittifj eingeschlagen, aber ohne den
gewünschten Erfolg zu erzielen. Wie Natriumsuccinat
bei Gegenwart von Essigsäureanhydrid sich mit allen
möglichen Aldehyden kondensieren Hess zu den sub-
stituierten Paraconsäuren 9) (deren Destillation dann
/^-ungesättigte Säuren ergiebt), so sollte Natriumglutarat
unter denselben Bedingungen d-Lactonsäuren geben:
aber die Kondensationen mit Benzaldehyd und Valeral-
dehyd lieferten nicht die gewünschten Lactonsäuren,
sondern zweibasische ungesättigte Säuren 10), und ver-
liefen mit ganz unbefriedigender Ausbeute.
Betrachten wir nun einmal die Kondensationsfähig-
keit der zweibasischen Fettsäuren :
yCOOH /COOH , /COOH
CH"\COOH CH2x CH2-COOH "'\CH2-CH2-COOH
Malonsäure 13 ernstein säure Glutar säure
so ergiebt sich, dass die Malonsäure mit Aldehyden
sofort schon bei gewöhnlicher oder nur wenig erhöhter
Temperatur, bei Gegenwart von allen möglichen Kon-
s) Refraktionsmessung, briefl. Mitt. d. H. Prof. ,/. F. Eykman,
aus Amsterdam, vom 27. XII. 1896. Messung der optischen Drehung
des Mentholesters, vergl. Vortrag d. H. Dr. Hans Rupe in der Na-
turforschenden (res. am II. V. PJ02. Leitfähi.i>keitsmessung, siehe
II. Kapitel.
'•») Ann. d. Chem. 255, 1.
10) Ann. d. Chem. 282, 834.
— 249 —
densationsmitteln leicht reagiert, weil ihre Methylen-
gruppe rechts und links von der stark negativen Oar-
boxylgruppe flankiert ist. In der Bernsteinsäure lassen
sich Kondensationen auch noch ziemlich leicht erzielen,
nach der Per hin- Fittig' sehen oder nach der Claiseri sehen
Methode - - ihre reaktionsfähige Methylengruppe wird
von einer Oarboxylgruppe direkt, von der andern nur
indirekt über ein Atom hinweg beeinflusst. In der
Glutarsäure endlich kann die «-Methylengruppe nur von
einer Oarboxylgruppe beeinflusst werden; die andere ist
zu weit davon entfernt.
Wir können aber wenigstens einem Wasserstoffatom
der Methylengruppe der Glutarsäure die Beweglichkeit
eines Wasserstoffatoms der Malonsäure verschaffen, wenn
wir eine zweite negative Gruppe in die «-Stellung ein-
führen, z. B. die Penylgruppe :
CoH.ï-CH-COOH
I
CH-2
I
CH2-COOH
Das zwischen Phenyl und Carboxyl stehende Methin-
wasserstoffatom ist nun in der That sehr reaktionsfähig
geworden.
«-Phenylglutarsäure ") resultiert aus der Einwirkung
von /i-Jodpropionester auf Natrium-Phenylmalonester
und Verseifung des erhaltenen Produkts :
CeHs-CNa (COOR)2 C6H5-<^(COOR)2 CV.tb-CH-COOH
CH2J-CH:-COOR ' CH2-CH2-COOR CH2-CH:-COOH
Die auch in anderer Beziehung (leichte Anhydrid-
bildung etc.) interessante «-Phenylglutarsäure kondensiert
sich in Form ihres Natriumsalzes bei Gegenwart von
u) Otto Merckens, Diss. Basel 1902, und Ber. d. d. ehem. Ges.
34, 4174.
— 250 —
Essigsäureanhydrid unter Kohlendioxydabspaltung mit
Benzaldehyd zur y<J-Diphenylallylessigsäure nach:
COOH CsH5
l I
CeHe CHO + CH-CH2-CH2-COOH - COs + HsO-f CV,H.-,-CH - C-CH2 CH2-COOH
I
CisHs
wodurch also die gewünschte Synthese einer ^-unge-
sättigten Säure erreicht ist. Die Reaktion schliesst sich
in jeder Beziehung der von W. H. Perkin12) durchge-
führten direkten Synthese (ohne Isolierung der Penyl-
paraconsäure) der sogenannten Phenylisocrotonsäure
oder richtiger Phenylvinylessigsäure an ; die Reaktion
von Merckens kann durch Anwendung andrer Aldehyde
leicht ausgedehnt werden, wobei allerdings die Kosten
der Gewinnung der a-Phenylglutarsäure erschwerend ins
Gewicht fallen.
Aber noch eine dritte Methode musste für die Ge-
winnung der y($-ungesättigten Säuren berücksichtigt
werden. W. H. Perkin kondensierte13) Zimmtaldehyd
mit essigsaurem Natrium bei Gegenwart von Essigsäure-
anhydrid zur sogenannten Cinnamenylacrylsäure:
OeHs-CH = CH-CHO + CHs-COOH ►- CaHö-CH = CH-CH = CH-COOH
und reduzierte diese mit Natriumamalgam zur Hydro-
cinnamenylacrylsäure. Man weiss heute, auf Grund
klassischer Untersuchungen von Filligu), V. Baeyerif>)
und Thiele1*"'), dass die Reduktion einer Säure mit in
der angedeuteten Weise hintereinander liegenden zwei
Doppelbindungen zu einer Säure mit nur einer Doppel-
bindung zwischen den beiden ursprünglichen führt -
12) .Jahresber. ü. d. Fortschritte d. Chemie 1877, 790.
13) Loc. cit. 791.
14) Ann. d. Chem. 227, 31, 225, 12.
15) Ann. d. Chem. 251, 278, 256. 1.
ir') Ann. «1. Chem. 306, 87.
— 251 —
class also Perkin's Hydrocinnamenylacrylsäure nur die
Formel einer /^-ungesättigten Säure besitzen kann :
C6H5-CH2-CH = CH-CH2-OOOH
Wie hier Perkin aus einer aß-yd-un gesättigten Säure
durch Reduktion zu einer /^/-ungesättigten Säure gelangt
war, gerade so sollte man durch Reduktion einer ßy-os-un-
gesättigten Säure zu einer /^-ungesättigten Säure kommen
können.
Zimmtaldehyd kondensiert sich mit Bernsteinsäure-
ester bei Gegenwart von Natriumaethylat zur Cinna-
menylitaconsäure n) : COOH
I
CoHs-CH = CH-CHO + CH2-CJS2-COOK >- CeHs-CH = CH-CH = C-OH2-COOH
I
COOR
AVenngleich das Produkt in Beziehung auf die end-
ständige Carboxylgruppe die verlangte Konstitution einer
/Jy-dfi-ungesättigten Säure besitzt, so gelang es doch nicht,
die gewünschte Synthese durchzuführen, denn die mittel-
ständige Carboxylgruppe liess sich in keiner Weise ab-
spalten. Der glatte Verlauf der Reduktion zur Phen-
äthylidenbrenz Weinsäure, COOH
CeHö-CHa-Cfl = CH-OH-CH2-COOH
die Umlagerung der letzteren durch siedende Natron-
lauge zur Phenäthylitaconsäure,
COOH
I
C6H5-CH2-CH2-CH = C-CH2-COOH
und die schliessliche Reduktion zur Phenäthylbrenz-
weinsäure COOH
I
C6H5-CH2-CH2-CH2-CH-CH2
COOH
konnte dem genannten Übelstand nicht abhelfen.
») Sylvain Hirsch, Diss. Basel 1900. I. Abhandlg.. und Bei:
d. d. ehem. Ges. 34, 2188.
— 252 —
Wenn alier die Einführung einer Phenylgruppe in
a-Stellung bei der Glutarsäure ohne weiteres die Kon-
densation mit Benzaldehyd unter Kohlendioxydabspaltung
bewirkt hatte, so waren ähnliche Resultate zu erwarten
bei der Kondensation von Zimmtaldehyd mit Phenyl-
bernsteinsäure — dieselbe nmss nach :
CeHs CfiHs
I
OeHs-CH = CH-CHO + CH-CH2-COOH ►■ CeHs-CH = CH-CH = C-CH2-COOH
I
COOll
verlaufen zur Bildung einer /^-(^-ungesättigten ein-
basischen Säure und so zum Ziele führen 1S).
Damit würden wir drei unabhängige Methoden zur
Gewinnung ^-ungesättigter einbasischer Säuren besitzen.
2. Die de-imgesättigten Säuren.
Im Anschluss an die erste Methode, die zur Ge-
winnung von ^-ungesättigten Säuren geführt hatte,
wurde Acetessigester mit /-Chlorbuttersäureester kom-
biniert zum Acetyladipinsäureester 19) :
CH3-CO-CH2-COOR OHs-CO-CH-COOR
>■ I
CH2CI-CH2-CH2-OÜOR CH2- CH2-CH2-COOR
woraus durch Reduktion unter gleichzeitiger Verseifung
€-Oxy-a-aethyladipinsäure resultiert :
COOK COOH
I !
CH3-CO-CH-CH2-CH2-CH2-COOR y OH3-CH(OH)-CH-CH2-CH2-CH2-COOH
Diese e-Oxysäure ist zur Lactonbildnng nicht mehr
befähigt. Sie giebt bei der trockenen Destillation
18) Herr Ernst Greffier ist mit diesen Versuchen beschäftigt.
,;|) Eugen <<i>lli/, Diss. Basel 1897, und Ber. d. d. ehem. Ges.
30, 2047.
— 253
unter Abspaltung von Wasser und Kohlendioxid die
de-Heptensäure :
COOH •>- C( ).- + HsO + CH3 CH = CH-CH2 CH2-CH2-CO( »II
I
( 'II:: CH (OHJ-CH-CH2-CH2 -CH2-COOH
(daneben entstehen kleine Mengen einer zweibasischen
ungesättigten Säure , wahrscheinlich Athylidenadipin-
säure).
Die normale de-Hexensäure wird auf folgendem
Weg dargestellt -°). 7-Acetobuttersäure 2l) addiert Cyan-
wasserstoff zu einem Cyanhydrin, das bei der Verseifung
die a-Methyl-a-oxyadipinsäure liefert:
CN COOH
I I
CH; CO-CH2-CH2-CH2-COOH >- CH3-C-CH2-CH2-CH2-COOH >- CH3-C-CH2-CH2-CH2-COOH
I I
OH OH
bei der Destillation giebt diese unter Abspaltung von
Wasser und Kohlendioxyd nebeneinander die yd- und
die (fe-Hexensäure :
^°0H v CHs-OH = CH-OH2-OH2-COOH
CH3-C-CH2-OH2-CH2-COOH
| ~~ >■ CH2 = CH-OH2-CHs-CHs!-COOH
OH
(daneben entsteht noch eine zweibasische ungesättige
Säure). Die yd- und die fo-Hexen säure können auf
Grund der verschiedenen Löslichkeitseigenschaften ihrer
Baryumsalze von einander getrennt werden.
Die zwei de-unge sättigten Säuren, die einer ganz
neuen Klasse angehören, zeichnen sich dadurch aus,
dass sie bei der Addition von Halogenwasserstoff und
w) Werner Lmgguth, Diss. Basel 1897, II. Teil, und Ber. d. d.
ehem. Ges. 30, 2050; Aim. d. Chem. 313, 371.
21) l. Wolff. Ann. d. Chem. 216, 129.
— 25 4
darauf erfolgendem Austausch des Halogenatoms gegen
Hvdroxyl <3-Lactone ergeben nach :
CHa CH-CHa-CHa-CHa-COOH + HBr y CHa-CHBr-CHs-CEfc-CHs-COOH y
y CH3-CH(OH)-CH2-CH2-CH2-COOH y CH3-CH-CH2-CH2-CH2
I I
Speziell das hier als Beispiel angeschriebene Lacton ist
mit aller Sicherheit mit dem bekannten d-Caprolacton 82)
identificiert worden 23).
Zum Vergleich mögen noch in einer kleinen Tabelle
die Eigenschaften der neu erhaltenen yd- und ^-unge-
sättigten Säuren mit den bekannten isomeren Vertretern
zusammengestellt werden :
Pentensäuren. Hexensäuren. Heptensäuren.
, Sm. 9°,5-10°,5. Sm. 33°.
aß Sd. 200-201°. ß/ Sd. 216-217°.
flüssig. _ flüssig. flüssig.
' '' Sd. 194". 'r/ Sd. 208°,5. ?' Sd. 220-228°.
yd
flüssig. ., Sm. 15°.
Sd. 186-187°. ;' Sd. 206°,5.
flüssig. , flüssig.
Sd. 204°. Sd. 222-224°
(«C
Phenylpentensäuren.
aß Sm. 104°.
ßy Sm. 31°.
yd Sm. 90-91°.
flüssig.
Sd.225 227°) 23)
22) L. Wolff, Ami. d. Ghem. 216, 134.
23) 0. Wallach, Ann. d. Chem. 312, 171 beschrieb einige Jahre
später anscheinend dieselbe fe-Hexensäure, sowie eine rfe-Decylen-
säure und eine f f -Heptylensaure : er erhielt die Körper durch die Beck-
255 —
3. Die «-Äthylidenglutarsäure und ihre Verwandten.
Als Nebenprodukt bildet sich bei der Darstellung
der /d-Hexensäure aus der Capro-d-lacton-y-carbonsäure
eine sehr schön kristallisierte zweibasische ungesättigte
Säure, die als «-Äthylidenglutarsäure aufzufassen ist
und nach folgender Umlagerung entsteht:
COOH COOH
CH3-CH-CH-CE2-CH2 y CH3-CH-C-CH2-CH2
i I I
0- —CO COOH
Der Beweis für ihre Konstitution liegt in der Thatsache,
dass dieselbe Säure erhalten wird durch Behandlung
des Capro- (Macton -/-carbonsäureesters mit Natrium-
aethylaf24):
COOO2H5 COOC2H5
CH3-CH-OH-CH2-CH2 (H-NaOCiHa) y CH3-CH=C-CH2-CH2
0 = CO COONa
d. h. also nach einer Reaktion, welche zur Umlagerung
von homologen Paraconsäuren in die entsprechenden
Itaconsäuren dient. -b). Die «-Äthylidenglutarsäure steht
in demselben Verhältnis zur Capro-d-lacton-y-carbonsäure
wie die Äthylidenbernsteinsäure oder Itaconsäure zur
Valerolacton-ß-carbonsäure oder Paraconsäure.
/»«»«'sehe Umlagerung der Oxime cyclischer Ketone zu „Isoximen".
Aufspaltung der erhaltenen Ringe zu Amidosäuren mit Fernstellung
der Amidogruppe, und Umwandlung der letzteren durch salpetrige
Säure zu Oxysäuren und daneben auftretende ungesättigte Säuren.
Wallach giebt für (5e-Hexensäure den Siedepunkt zu 208-210°
an, während wir — zuletzt bei der Darstellung von 30 gr. reiner
Säure — nur 203-201° (Thermometer ganz im Dampf) beobachteten.
Die Walfach' 'sehe Angabe ist entschieden zu hoch.
2*) August Eggert, Diss. Basel 1898 und Ber. d. d. ehem. Ges.
31, 1998.
25) W. Hoser. Ann. d. Chem. 220, 254; li. Fitlig, Ann. d. Chem.
256, 50.
256 —
Die a-Athylidenglutarsäure besitzt nun ein grosses
Interesse wegen ihrer Verwandschaft zu einem Körper,
den v. Pechmann 26) durch Polymerisation von Croton-
säureester erhalten hat: seine sogenannte Dicrotonsäure
besitzt die Konstitution einer a-Athyliden-ß-methylglutar-
säure und ist ein höheres Homologes der a-Athyliden-
glutarsäure.
Die a-Athyliden-/?-inethylglutarsäure nimmt nach
V. Pechmann eine merkwürdige Ausnahmestellung ein.
Nach einer empirischen, von OstwuldiT) aufgefundenen
Regel wächst das Aquivalentleitvermögen des Natrium-
salzes einer n-basischen Säure um rund lOn Einheiten,
wenn die Verdünnung der untersuchten Lösung getrieben
wird von 1 32 normal bis zu 1 1024 normal. Diese
Regel bietet ein Mittel, um die Basizität einer Säure
zu bestimmen, indem man die Aquivalentleitfähigkeit
des Xatriumsalzes derselben bei den genannten Ver-
dünnungen misst, die Differenz nimmt und diese durch
10 dividiert : eine zweibasische Säure würde eine Dif-
ferenz von rund 20 Einheiten ergeben müssen.
Zweifellos ist die a-Athyliden-/?-methylglutarsäure
eine zweibasische Säure — aber trotzdem macht diese
Differenz bei ihr nur 11,9 Einheiten aus.
v. Pechmann -s) hat auch den Acrylsäureester po-
lynierisiert und aus demselben eine zweibasische unge-
sättigte Säure gewonnen, die als a-Methylenglutarsäure
OH2= C-COOH
I
CHa
i
CH2-COOH
26) Ber. d. d. ehem. Ges. 33, 3323.
-T) Vergl. z.B. Ber. d. d. ehem. Ges. 21. 3534.
2S) Ber. d. d. ehem. Ges. 34, 427.
— 257 —
zu betrachten ist. Dieselbe Säure wurde im hiesigen
Laboratorium aus ganz andern Gründen und mit Hilfe
andrer Reaktionen dargestellt.
Die Reduktion der Anhydride fetter zweibasischer
Säuren zu Lactonen durch Natriumamalgam 29) - - z. B.
des Bernsteinsäureanhydrids zu Butyrolacton :
CHa~CO\ ÜH2-CH2 .
I >0 + 2H2= 1 >0 H- H2O
OH2-CCK CH2-CO /
bot namentlich interessante Resultate bei Verwendung
von Glutarsäureanhydrid (und Aluminiumamalgam als
Reduktionsmittel)30). Es entstand so das (5-Valerolacton :
CH2-C( » CH2-CH2
1 I 1
CH2 n -f- 2H2 = CH2 0 + H20
11 l
CH2-CO CH2-CO
als leicht bewegliches Ol vom Siedepunkt 113—114° bei
13— 14 mm, das die sehr charakteristische Eigenschaft
zeigt, sich nach und nach zu polymerisieren zu einem
festen Körper, der aus Ather-Petroläther in kleinen
Krystallwärzchen vom Schmelzpunkt 47—48° krystalli-
siert, und auf Grund von Molekulargewichtsbestimmungen
vielleicht als heptamer anzusehen ist. Das polymère
Lacton giebt beim Kochen mit Alkalien die Salze der
monomeren d-Oxyvaleriansäure und aus diesen resultiert
zunächst wieder das monomere d-Valerolacton, das sich
im Lauf der Zeit aber bald in das Polymere zurück-
verwandelt.
Diese bemerkenswerten Erscheinungen hat keiner der
Autoren 31) beobachtet, die bisher das d-Valerolacton in
-'•') August Herbrand, Diss. 1898 und Ber. d. d. ehem. Ges. 29,
1192.
y°) Alfred Beisswenger, Diss. Basel 1902.
;l Funck, Ber. d. d. ehem. Ges. 26, 2ö74. Clovex. Ann. d. Chem.
319, 357.
17
— 258 —
Händen gehabt haben, und man darf daraus schliessen,
dass diese Forscher den Körper nicht in reinem Zustand
besassen. Insbesondere gilt dies für Weidel 32), der
durch Destillation der (aus Nicotinsäure durch Reduktion
mit Natriumamalgam erhaltenen) d-Oxy-a-methylglutar-
säure das d-Valerolacton dargestellt zu haben glaubte,
nach :
COOH
I
CH2-CH-CH2-CH2 >- CO2 -f H2O -f GH2-GH2-CH2-CH2
I I I
OH COOH 0— CO
Die Versuche von Weidel wurden deshalb wieder-
holt und ergaben als Resultat, dass das einzige Produkt
der Destillation jener Oxysäure «-Methylenglutarsäure
ist, nach 33) :
COOH COOH
l I
CH2-CH-CH2-CH2 >■ H2O + CH2=C-CH2-CH2
I 1 I
OH COOH COOH
Die «-Methylenglutarsäure, die «-Athylidenglutar-
säure und die «-Athyliden-/?-methylglutarsäure
CH2 = C-COOH CH3-CH = C-COOH CH3-CH= C-COOH
CH2 CH2 CH3-CH
! I I
CH2-COOH CH2-COOH CH2-COOH
bilden eine Reihe von Homologen. Wenn die von
v. Peckmann beobachtete Unregelmässigkeit bezüglich
der Leitfähigkeit des Natriumsalzes eine allgemeine
Eigenschaft dieser Säureklasse darstellt, so müsste sie
sich bei den niedrigeren Homologen ebenfalls finden.
Deshalb wurden nun auch die Aquivalentleitfähigkeiten
der Natriumsalze dieser Säuren bestimmt.
32) Monatshefte f. Chemie XI, 501. Ber. d. d. ehem. Ges. 24,
Ref. 148.
33j Das vermeintliche (5-Valerolacton von Weidel war vielleicht
das Anhydrid der «-Methylenglutarsäure.
259 —
a-Methylenglutarsaures Natrium, bei 25° 34)
v = 32 64 128 256 512 1024
A= 84,5 88,3 92,8 96,5 99,3 101,9
^1024 ~~^32 = l7'4 (recipr- 0hm) oder 16'3 (reciPr- S-E0
a-Athylidenglutarsaures Natrium, bei 25°) 35)
v = 32 64 128 256 512 1024
A= 82,3 87,2 91,0 94,2 96,9 98,7
A1 no, -A8() = 16,4 (recipr. Ohm) oder 15,4 (recipr. E. S.)
1LM4 oii
Aus diesen Messungen lässt sich der Schluss ziehen,
dass die abnorme, von v. Pechmann beobachtete Dif-
ferenz von nur 11,9 bei der a-Athyliden-ß-methylglutar-
säure keine Gruppeneigenschaft der a-Alkylidenglutar-
säuren, sondern vielleicht eine spezielle Eigentümlichkeit
der „Dicrotonsäure" darstellt.
4. Die Vinylessigsäure (erste Versuche).
In den Abschnitten 1 und 2 ist gezeigt, dass die
Darstellung von ungesättigten Säuren mit sozusagen
beliebiger Stellung der Doppelbindung gelingt, wenn
man nur eine zweibasische Oxysäure bezw. eine Lac-
tonsäure von geeigneter Konstitution trocken destilliert.
Welchen Konstitutionsbedingungen muss eine derartige
zweibasische Oxysäure genügen, wenn sie zu dem ge-
dachten Zwecke geeignet sein soll?
Die gemeinsame Eigenschaft fast aller zur Unter-
suchung gelangter Säuren einschliesslich der von Fittig
34 ) Alfred Beisswenger, Diss. Basel 1902, pag. 44.
35) Benno Mühlhauser, Diss. Basel 1902, pag. 54, und Ber. d. d.
ehem. Ges. 35, 341.
— 260 —
verwandten Paraconsäuren ist die, dass eine Carboxyl-
gruppe zu der Oxygruppe, welclie frei oder in einem
Lactonring gebunden sein kann, in ß-Stellung steht.
Diese /i-Stellung von Carboxyl und Hydroxy] ist
auch die Bedingung für das Gelingen der im Abschnitt
3 erwähnten Roser-Fittig 'sehen „Natriumäthylatreaktion"
der Ester. Zur Aufklärung der Verhältnisse jener
Reaktion dient eine zufällig gemachte Beobachtung, die
nachher durch eine systematisch durchgeführte Unter-
suchung ergänzt wurde :ifi), dass diejenigen Lactonsäuren,
deren Ester bei der Natriumäthylatreaktion ungesättigte
Säuren liefern, beim Kochen mit Natronlauge dieselbe
Umlagerung erleiden; und eine Wasserabspaltung in
diesem Sinne erfahren wahrscheinlich alle /?-Oxysäuren,
gleichgültig ob sie ausser der /?-Carboxylgruppe noch
eine zweite enthalten und wo sich dieselbe befindet.
Um die Giltigkeit des Satzes bezüglich der Destil-
lation zweibasischer Oxysäuren zu prüfen, wurde ge-
legentlich auch eine homologe Apfelsäure dargestellt und
destilliert 37). Buttersäureester kombiniert sich mit
Oxalester bei Gegenwart von Natriumäthylat zum
Athyloxalessigester 3S)
CH3-CH2-CH2-COOR CH3-CH2-CH-COOR
ROOC-COOR CO-COOR
welcher bei der Reduktion mit Aluminiumamalgam in
ätherischer Lösung glatt in Athyläpfelsäureester über-
geht:
( H.;-CH2-CH-COOR CH3-CH2-CH-COOR
1 +m>- ,
CO-COOR CH(OH)-COOR
3G) Camille Dreyfus, Diss. Basel 1900, und Ber. d. d. ehem.
Ges. 33, 1452.
37) Max Goldhaber, Diss. Basel 1902.
3s) Wilhelm Wislicmua, Ann. d. d. Chem. 246, 3:37.
— 261 —
Die daraus gewonnene Athyläpfelsäure spaltet bei
der Destillation wohl Wasser ab und liefert als Haupt-
produkt Methylcitracon säure neben kleinen Mengen der
isomeren Methylitaconsäure und Methylmesaconsäure :
OH.i-CHs-CH-COOH CH3-CH2-C-COOH CH3-CH2-C-COOH CHs-CH = C-COOH
1 ►■ ; 11 ;
CH(OH)-COH II C COOH HOOC-C-H CH2 COOII
aber die erwartete Abspaltung von Kohlendioxyd tritt
nicht oder nur in verschwindendem Masse ein. Viel-
leicht würde sich die Bildung «^-ungesättigter einba-
sischer Säuren doch erreichen lassen, wenn man nur in
der Reihe der Apfelsäuren zu noch höheren Homologen
fortschreiten würde, wie ja auch in der Reihe der ho-
mologen Faraconsäuren die Kohlendioxydabspaltung mit
steigendem Molekulargewicht immer reichlicher eintritt.
Wenn man alle die Beobachtungen bezüglich der De-
stillation zweibasischer Oxysäuren überblickt, so erscheint
es als sehr wahrscheinlich, dass auch die /i-Oxyglutar-
säure, welche v. Pechmann und Jenisch :J9) durch Re-
duktion der Acetondicarbonsäure dargestellt hatten :
CH2-COOH CH2-COOH
I l
CO 4- H2 ^ CH.OH
I !
CHs-COOH CB2-COOH
bei der Destillation eine einbasische ungesättigte Säure
liefern muss. Zum ersten Male wurde diese Frage vor
vier Jahren (eigentlich mit einem andern Ziel im Auge)
studiert40). Entgegen der Angabe v. Pechmannh, dass
/?-Oxyglutarsäure bei der Destillation ausschliesslich
Glutaconsäure gebe, fanden sich im Produkte der De-
stillation im Vacuum neben Glutaconsäure reichliche
°9) ßer. d. d. ehem. Ges. 24, 3250.
1,1 1 Arch. sc. phys. nat. Genève (4) 6, 402. Chem. Central!)].
1898, II, 1011. Albert Brafft, Diss Base. 1899. Ber. d. d. ehem.
Ges. 32, 2799.
— 262 —
Mengen einer einbasischen flüchtigen Säure von der Zu-
sammensetzung der Crotonsäuren, die nichts andres war
als die lange gesuchte Yinylessigsäure 41)
cm CH-CH2-C00H
Ihre Bildung rauss folgendermassen aufgefasst werden:
ß-Oxyglutarsäure verliert bei der Destillation Wasser
unter Bildung einer ß-Lactonsäure, die aber bei der
herrschenden hohen Temperatur ohne weiteres Kohlen-
dioxyd verliert — wie dies alle ß-Lactone thun — und
dadurch glatt in Yinylessigsäure übergeht :
CH2-COOH CH2-CO CH2
1 I 1
CH-OH ^ CH-0 y CH
I I l
CH2-COOH CH2-COOH CH2-COOH
Keine andere Erklärungsart ist so befriedigend wie
diese: will man annehmen, /i?-Oxyglutarsäure gebe zuerst
Glutaconsäure und diese erst Yinylessigsäure, so steht
dem die Thatsache entgegen, dass Glutaconsäure im
Vaciram als Anhydrid überdestilliert und kein Kohlen-
dioxyd abspaltet; will man andrerseits die Hypothese
aufstellen. /S-Oxyglutarsäure verliere zuerst Kohlendioxyd
unter Bildung von ,3-Oxybuttersäure und diese erst gebe
Wasser ab und liefere Yinylessigsäure, so widerspricht
dieser Annahme der Umstand, dass /J-Oxybuttersäure
im Vadium vollkommen unzersetzt destilliert, ja auf
diesem AVeg gereinigt werden kann.
Die Hypothese der intermediären Bildung einc^
/J-Lactons ist vielleicht auch in andern Fällen zur Er-
41) Die Gewinnung dieser Säure gelang später auch — unter
Verwendung von /i-Bromglutarsäure als Ausgangsmaterial —
S&emmoff, Chem. Centralis. 1899. II, 28, und J. Wislicenus, Ber.
d. d. chem. Ges. 32, 2047; vergl. auch //. II'. E. üelkmberg, Diss-
Leipzig 1901.
— 263
klärung des Verhaltens von ß-Oxy säuren bei der Destil-
lation heranzuziehen.
Aber eine Schwierigkeit war noch zu überwinden.
V. Baeyer und Villiger i2) hatten eine /?-Lactonsäure der
Fettreihe, das /?-Lacton der asymmetrischen Dimetbyl-
äpfelsäure, dargestellt und untersucht und gefunden,
dass dieses Lacton selbst bei der Destillation kein
Kohlendioxyd abspaltet.
Der merkwürdige Ausnahmefall ist hier auf das
Sorgfältigste geprüft worden 43), und es hat sich folgendes
ergeben. Allerdings spaltet das /?-Lacton der asymme-
trischen Dimethyläpfelsäure bei der Destillation kein
Kohlendioxyd ab, aber es lagert sich dabei in tiefgrei-
fender Weise um: der viergliedrige Ring des /j-Lactons
wird erweitert zum fünfgliedrigen des Anhydrids der
asymmetrischen Dimethyläpfelsäure
CHhx CH3N
ch3/^-g^ cm^'C0 \0
CH-0 ►■ ("II -CO"""
I I
COOII OH
was ja durchaus natürlich erscheint, wenn man die starke
Spannung berücksichtigt, die in einem viergliedrigen
Ringsystem herrschen muss ii).
Das Verhalten des /?-Lactons der as-Dimethyläpfel-
säure kann in keiner Art als Gegenbeweis gegen die
obige Annahme einer /9-Lacton säure als Zwischenprodukt
der Darstellung der Vinyl essigsaure aus /j-Oxyglutar-
42) Ber. d. d. ehem. Ges. 30, 1954.
43) Sylvain Hirsch, Diss. Basel 1900, It. Abhandlung, und Ber.
d. d. ehem. Ges. 33, 3270.
u) Analoge Versuche mit Trimethyläpfelsäure und deren Lacton
sind jetzt von andrer Seite in Angriff" genommen worden, vergl.
C. Komppa, Ber. d. d. ehern. Ges. 35, 514.
264 —
säure geltend gemacht werden, sondern im Gegenteil
lässt sich aus den Versuchen von Hirsch der Schluss
ziehen, dass bei der Zersetzung der ,9-Oxyglutarsäure
zunächst überhaupt nur die /i-Lacton säure entsteht.
Diese ihrerseits kann dann entweder nach Art der
meisten /J-Lactone Kohlendioxyd abspalten und Vinyl-
essigsäure liefern, oder sie kann sich unter Ringer-
weiterung umlagern zum Anhydrid der /?-Oxyglutarsäure
und dadurch die Entstehung der Glutaconsäure veran-
lassen, etwa nach:
CH2
II
CH
CH2-COOH CHä-CO / CH2-COOH
I I I x
CH. OH y CH-0 v. CH2 — CO CH-CO
I I \ i I II I
CHä-COOH CH-'-COOH >*. CH.OH 0 ^ CH 0
Il II
CH2 — CO CH2--CI >
Derartigen Hypothesen fehlt solange der sichere Boden,
als es uns nicht gelingt, die /i-Lactonsäure selbst zu
fassen.
Nachdem damit soweit als möglich Klarheit ge-
schaffen war über die Bildung der Vinylessigsäure, galt
es nunmehr auch ihre Konstitution in eindeutiger Weise
zu bestimmen. Dem stellten sich aber zwei Hindernisse
in den Weg.
Die von Albert Erafft dargestellte Vinylessigsäure
enthielt kleine Mengen von fester Crotonsäure, und in
den ersten Versuchen gelang es nicht, eine vollkommene
Abscheidung dieser Verunreinigung zu erzielen. Deshalb
war auch eine präzise Charakterisierung der neuen Sub-
stanz nicht mit aller wünschbaren Schärfe möglich.
Ferner scheiterten gleich die ersten Versuche zum
Nachweis der /?/- Stellung der doppelten Bindung voll-
kommen. Alle ^'-ungesättigten Säuren liefern beim
— 265 —
Kochen mit Schwefelsäure einer bestimmten Konzen-
tration unter Umlagerung die isomeren /-Lactone: die
Vinylessigsäure aber giebt unter diesen Bedingungen
glatt und quantitativ die wohlbekannte feste Cfotonsäure.
Ebensowenig Erfolg brachten Versuche mit dem Di-
bromid der Vinylessigsäure.
Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, oder
richtiger um ihnen aus dem Wege zu gehen, wurden
nun zwei ganz neue Richtungen eingeschlagen, bis dass
schliesslich eine einfache Reinigungsmethode der Vinyl-
essigsäure das Ziel in Kürze erreichen Hess.
5. Synthese homologer Vinylessigsäuren.
Wie die Vinylessigsäure aus der /i-Oxyglutarsäure,
und diese aus der Acetondicarbonsäure erhalten worden
war, so mussten homologe Vinylessigsäuren aus homo-
logen /J-Oxyglutarsäuren resp. aus homologen Aceton-
dicarbonsäuren darstellbar sein. Homologe Acetondicar-
bonsäureester sind nach v. Pechmami's Angaben 45) glatt
durch Synthese aus Natriumacetondicarbonsäureester und
Halogenalkylen zugänglich.
Jene Angaben erwiesen sich aber als vollkommen
trügerisch. Bei der Darstellung des sogenannten „Di-
benzylacetondicarbonsäureesters"46) zeigte es sich, dass
die betreffende Substanz ihren Namen zu Unrecht führt
und richtiger Tribenzylacetondicarbonsäureester genannt
werden muss.
Lässt man nämlich Benzylchlorid auf Natriumace-
tondicarbonsäureester einwirken, so bildet sich zuerst
Monobenzylacetondicarbonsäureester:
15i Ann. d. Chem. 261, 173.
•"'•i Heinrich Schiess, Diss. Basel 1901, und Ber. d. d. chem. Gea
34, 1996.
— 266 —
CcHd-CH-CI -f- CHNa-COOR CeHs-OHa-CH-COOR
I I
CO >■ CO
I I
ch2-co( m CH2-C00R
dieser ist aber eine stärker saure Substanz als der Ace-
tondicarbonsäureester selbst, und bevor nur der ganze
Natriuniacetondicarbonsäureester in Reaktion getreten
ist, hat ihm schon der Benzylacetondicarbonsäureester
sein Natrium entrissen und Natriummonobenzylaceton-
dicarbonsäureester damit gebildet:
CHNa-COOR C6H5-CH2-CH-COOR C6H5-CH2-CH-COOR CH2-COOR
I I
CO CO ^ CO + CO
I III
CH2-COOR CH2-COOR CHXa-COOR CH2-COOR
die neue Natriumverbindung reagiert wieder mit Benzyl-
chlorid zu Dibenzylacetondicarbonsäureester
C6H5-CH2-CH-COOR
l
CO
CGH5-CH2-CH-COOR
der aber noch stärker saure Eigenschaften besitzt und
wieder Natrium an sich reisst unter Bildung des Na-
triumdibenzylacetondicarbonsäureesters
CoH5-CH2-CNa-COOR
I
CO
I
CV,H5-CH2-CH-COOR
und der letztere endlich reagiert nochmals mit Benzyl-
chlorid zum Tribenzylacetondicarbonsäureester:
C0H5-CH2
\/
CgH5-CH2/^COOR
CO
C6H5-CH2-CH-CO( >R
Damit scheint dann das Spiel zum Stillstand zu kommen:
ein Tetrabenzylacetondicarbonsäureester konnte nicht
isoliert werden. Wie man aber die Synthese anstellen
— 267 —
mag, ob man den Ansatz wählt, der zum mono-, oder
zum di-, oder zum tri-substituierten Produkt führen
muss — immer erhält man ein Gemisch von flüssigen
Estern, aus welchem der vorhandene Tribenzylaceton-
dicarbonsäureester rasch und vollständig auskrystallisiert.
Einen noch bessern Überblick über die Mannig-
faltigkeit der Produkte der anscheinend so einfachen
Synthesen mit Acetondicarbonsäureester gewinnt man
bei Verwendung von p-Nitrobenzylchlorid, da die damit
erhaltenen Körper fast ausnahmslos gut kristallisieren47).
Symmetrisch substituierte /i-Oxyglutarsäuren sind
noch auf einem andern Wege zugänglich, den zuerst
S. Reformatzky 4S) beschritten hat, nämlich durch Re-
aktion von halogensubstituierten Estern bei Gegenwart
von Zink auf Ameisenester: so resultiert beispielsweise
aus a-Brombuttersäureester und Ameisenester (unter
intermediärer Bildung zinkhaltiger Produkte, die hier
nicht näher angeführt werden sollen) der Diaethyl-/:?-
oxyglutarsäureester :
CHs-CH'-CH Br-COOR CH3-CH2-CH-COOR
I
H . CO . OR ( -f 2 Zn) >- CH . OH
CH3-CH2-CH Br-COOR CH3-CH2-CH-CO( >R
Aus der symmetrischen Diäthyl-ß-oxyglutarsäure muss
bei der Destillation eine Diäthylvinylessigsäure ent-
stehen49) nach :
CH3-CH2-CH-COOH CH3-CH2-CH
CH.OH ►- CO2 + H2O ! CH
I I
CH3-CH2-CH-COOH CH3-CH2-CH-COOH
47) Herr Chaskel Wortsmann hat in einer diesbezüglichen Un-
tersuchung eine Reihe schöner Substanzen isoliert.
48) Ber. d. d. ehem. Ges. 28, 3262.
l9) Herr E. A. Wittmann widmet sich diesen Versuchen.
— 268 —
Dem Stereoiso mer enpaar Crotonsäure-Isocroton-
säure ist das Paar Tiglinsäure-Angelicasäure homolog.
Wie nun den Crotonsäuren als «/^-ungesättigten Säuren
die Vinylessigsäure als /?j/-Isomeres sich anreiht, so
sollte eine „Vinylpropionsäure" den aß- ungesättigten
Tiglinsäure-Angelicasäure zur Seite stehen :
CHs-C-H CH3-C-H CH-> CH
'I I
HOOO-C-CHa CHa-C-COOH CH3-CH-COOH
Tiglinsäure Angelicasäure Vinylpropionsäure
Ihre Darstellung wurde auf folgendem "Wege versucht.
Ameisenester wurde bei Gegenwart von Natriumäthylat
mit Brenzweinsäureester kombiniert zum Formylbrenz-
weinsäureester oder Oxymethylenbrenzweinsäureester 5")
CHs CH3
H.OOOR + CH2-CH-COOR y CH(OH)^C-CH-COOH
I I
COOK COOR
der durch Reduktion in den Ester der a-Methylpara-
consäure übergieng:
COOR COOR COOR
l 1 I
CHfOHi^C-CH-C'Hs y CH2(OH)-CH-CH-CH3 >■ CH2-CH-CH-CH3
I ! i I
COOR COOR O- -CO
Die daraus erhaltene «-Methylparaconsäure wurde dann
destilliert. Aber anstatt wie andre homologe Paracon-
säuren dabei zu zerfallen unter Kohlendioxydabgabe und
eine einbasische ungesättigte Säure zu liefern etwa nach:
COOH
CFL'-CH-CH-CHa >- CH2 CH-CH-CHs
6 CO COOH
geht die a-Methylparaconsäure im Vacuum und bei ge-
wöhnlichem Druck nnzerselzt über. Dieser Versuch
5n) Nach Analogie der Darstellung des Formvlbernsteinsäure-
esters, W. Wislicenus, Ber. d. d. ehem. Ges. 27, 3186.
— 269 —
zur Erlangung der Vinylpropionsäure ist also gescheitert51).
Nichtsdestoweniger bietet das geschilderte Verhalten der
ft-Methylparaconsäure grosses Interesse, insofern es
weitere Beiträge liefert zu dem Gesetz über die Kon-
stitution derjenigen Oxy säuren und Lactonsäuren, welche
bei der Destillation ein- und zweibasische ungesättigte
Säuren geben können.
Die Resultate dieses Abschnittes sind also dahin
zusammenzufassen, dass von drei Wegen zur Synthese
homologer Vinylessigsäuren nur einer sich als gangbar
erwiesen hat.
6. Einwirkung' aromatischer Basen auf die Bromad-
ditionsprodukte ungesättigter Säuren.
Bei den Versuchen von Kraft, die Vinylessigsäure
durch das Verhalten ihres Dibromids bei der Zer-
setzung mit Wasser zu charakterisieren, waren nur
wenig durchsichtige Resultate erlangt worden und es
erhob sich damit die Frage, ob vielleicht die Einwirkung
aromatischer Basen auf solche Bromadditionsprodukte
zu leicht zu reinigenden, krystallisierbaren Körpern
führen würde. Zu diesem Behuf mussten aber zuerst
die Additionsprodukte von Säuren bekannter Konsti-
tution in der angedeuteten Richtung untersucht werden,
und es erwuchsen hieraus eine ganze Reihe von Arbeiten,
die in extenso zu behandeln hier nicht der Ort ist, da
sie mit dem Hauptthema nur in einem losen Zusammen-
hang stehen. Es sei darum nur hingewiesen auf die
Darstellung des l-Phenyl-4-methylpyrazolons, seiner Ab-
kömmlinge und seiner Verwandten 5'2), aus Citra- und
51) Herr Ernst Rudin beschäftigt sich mit diesen und einigen
verwandten Untersuchungen.
:2) Joseph Enzenauer, Diss. Basel 1900; Emil Uellenberg, Diss.
Basel 1900, IL Teil ; Ber. d. d. ehem. Ges. 33, 494; Reinhard Vor-
tisch, Diss. Basel 1902.
- 270 -
Mesadibrombrenzweinsäure und Phenylhydrazin; ferner
auf das sogenannte Anilidocitraconanil und seine in-
teressanten Umwandlungsprodukte 53) ; aber ein kleines
Kapitel aus diesen Untersuchungen 54) muss doch kurz
besprochen werden wegen seiner Bedeutung für die
Beurteilung der Stärke der ungesättigten Säuren. Es
sollte zum Zweck des Studiums der Einwirkung von
Toluylen-o-diamin auf das Dibromadditionsprodukt der
Crotonsäure zuerst das Carboxyl jener Säure mit Toluyl-
endiamin festgelegt, d. h. in die Anhydrobase verwandelt
werden. In dieser Absicht wurde Crotonyl-p-toluid nitriert
NO2
l
CH3-/ .\ H-CO- CH = CH-CHs >- CHa- -NH-CO-CH ^ CH -CHs
und das Nitrocrotonyl-p-toluid reduziert. Das Produkt
der Reduktion mit Zinn und Salzsäure war aber keine
Anhydrobase, sondern einfach das 4-Crotonyltoluylen-
diamin, neben dem isomeren 3-Crotonyltoluylendiamin
NO2 NH2 NH.CkHöO
I 1 !
CH3- VnH.CjHsU y CHs-< VNH.C4H6O und CH3-/ -NH2
\ / \_/ \__y
Die Entstehung des letztgenannten Isomeren erklärt
sich dadurch, dass die Salzsäure einen Teil des 4-Cro-
tonyltoluylendiamins verseift, worauf der abgespaltene
Crotonsäurerest in der 3-Stellung von neuem angelagert
wird: im Produkt findet sich immer auch noch freies
Toluylen-o-diamin .
Das 4- und das 3-Crotonyltoluylendiamin können als
solche charakterisiert werden durch die Einwirkung von
salpetriger Säure, welche aus den beiden crotonylierten
53j Ernst Preiswerk, Diss. Basel 1902, und Ber. d. d. ehem. Ges.
35, 1626.
M) Ebenfalls aus der Diss. des Herrn Dr. Ernst Preiswerk,
— 271 —
o- Diaminen zwei isomere crotonylierte Azimidotoluole
erzeugt :
C4H5O <,!!,<>
NH N N NH-j N=N
— NH2 y — N _ V KH-C4H:,() >~ — N-C4H0O
CHa CHa CH3 CH3
Es wird durch die Existenz der beiden Crotonyl-
Azimidotoluole die Tautomerie der Azimidokörper von
neuem illustriert 55). Für unsre Besprechungen hier ist
speziell das Ausbleiben des Ringschlusses bei den beiden
Crotonyltoluylendiaminen wichtig.
7. Die reine Vinylessigsäure.
J. Wislicenus hat ein Verfahren ausgearbeitet 56)
um die sogenannte Isocrotonsäure, welche immer reich-
liche Mengen von fester Crotonsäure enthält, vollkommen
rein und frei vom Isomeren zu gewinnen. Die Methode
beruht im wesentlichen darauf, dass das Natriumsalz
der festen Crotonsäure in Alkohol fast unlöslich, das-
jenige der Isocrotonsäure dagegen äusserst leicht lös-
lich ist.
Es zeigte sich nun, dass auch das Natriumsalz der
Vinylessigsäure in Alkohol löslich ist — nicht gar so
leicht wie das der Isocrotonsäure, aber doch bedeutend
leichter als das der festen Crotonsäure. Mit einer
kleinen Abänderung bezüglich der Menge des Alkohols
Hess sich das Wislicenus' sehe Verfahren auf die rohe,,
crotonsäurehaltige Vinylessigsäure anwenden und lieferte
nun endlich die vollkommen reine einheitliche Vinyl-
5a) Vergl. Zincke, Ann. d. Chem. 291, 317.
sc) Chem. Centralis 1897, II, 259.
— 272 —
essigsaure 57), deren Haupteigenschaften hier in Vergleich
gestellt werden sollen mit denjenigen der reinen festen
Crotonsäure und der reinen Isocrotonsäure :
Crotonsäure.
Isocrotonsäure.
Vinylessigsäure.
H-C-CHu
CH3-C-H
CH2=CH-CH2-COOH
H-O-COOH
H-C-CÜOH
8m. 72°.
15°,4-15°,5.
flüssig.
Sd. 85°.
74°.
71°.
12-14 mm
Die Charakterisierung der reinen Vinylessigsäure
als einer /^-ungesättigten Säure gelingt nicht durch
Umwandlung in das ihr entsprechende j'-Butyrolacton.
Die mit dem gleichen Volum Wasser verdünnte Schwefel-
säure, welche Fiitifi zu derartigen Unilagerungen be-
nützt 58) sowohl als eine ganz verdünnte Schwefelsäure
bewirken beim Erhitzen eine quantitative Umlagerung
in feste Crotonsäure, und genau das gleiche Resultat
wird erreicht durch Behandlung der Vinylessigsäure
mit Bromwasserstoff bei 0°.
Aber die Vinylessigsäure lässt sich vorzüglich
charakterisieren durch ihr Dibromid und dessen Zer-
setzungsprodukte. Das Vinylessigsäuredibromid, auf die
übliche Weise in Schwefelkohlenstofflösung dargestellt,
krystallisiert nach dem Abdunsten des Lösungsmittels
und wird durch Umkrystallisieren aus wenig Schwefel-
kohlenstoff rein mit dem Schmelzpunkte 49-50° erhalten;
die neue Dibrombuttersäure im Vergleich mit den schon
bekannten zeigt also folgende Eigenschaften:
:,7j Ferdinand Sonneborn, Diss. Basel 1902, und Ber. d. d. ehem.
des. 35, 938.
58) Ann. d. Chem. 283, 51.
273 —
«.ï-Dibrombuttersaure a/î-lsodibrombuttersaure /?y-Dibrombuttersäure
aus fester Crotonsäure. aus Isocrotonsäure. aus Vinylessigsäure,
m. 85°. 58-59°. 40-50°. 59)
Wird die /?y-Dibrombuttersäure mit Wasser gekocht,
so spaltet sie Bromwasserstoff ab und tauscht ein Brom
gegen Hydroxyl aus unter Bildung eines /?-Oxybutyro-
lactons, das bei der Destillation Wasser verliert unter
Bildung eines Butenlactons:
CH2Br-CHBr-CH2-COOH >-
CHa-OHBr-CH2 CH2-CH(OH)-CH2 CHCH-CH>
I
-CO
O- -CO 0 CO 0 CO (?)
Das Oxybutyrolacton und das Butenlacton bedürfen
noch genauerer Untersuchung. Aber die Thatsache der
Bildung von Lactonen beweist allein schon aufs schla-
gendste, dass in der /?/-Dibrombuttersäure ein Bromatom
in /-Stellung sich befunden hat, dass also die ßy-Dibrom-
buttersäure das Additionsprodukt einer /^-ungesättigten
Säure ist — und damit ist die Konstitution der reinen
Vinylessigsäure über jeden Zweifel erhaben.
Die Bestimmung der physikalischen Konstanten der
Vinylessigsäure, speziell der Leitfähigkeit, gab den An-
stoss zu den Messungen, die im folgenden Kapitel be-
sprochen werden sollen.
59) Heisenberg, Diss. Leipzig 1901, vergl. Anmerkung «), fand
lür sein Vinylessigsäuredibromid den Sm. 50-51 i 2°.
18
274
II. Kapitel.
Leitfähigkeitsmessungen an ungesättigten Säuren.
1. Theoretische Vorbemerkung.
Nach den Theorien der elektrolytischen Dissociation
sind die meisten momentan in wässriger Lösung ver-
laufenden Reaktionen, wie die Neutralisation der Säuren
und Basen, „lonenreaktionen" G0). Demnach beruht
z. B. die Bildung von essigsaurem Natrium aus wässriger
Natronlauge einzig und allein auf einer Reaktion der
für die Säure charakteristischen Wasserstoffionen einer-
seits, mit den für die Base charakteristischen Hydroxyl-
ionen andrerseits, die sich zu nicht dissociiertem Wasser
vereinigen :
CH3.COO' H; + Na- OH' = OH3 COO' Xa- + H2O
während das Anion der Essigsäure CH3 . COO sowohl,
als das Kation Na, nach wie vor der Neutralisation
eine gewissermassen selbständige Existenz als elektrisch
geladene Ionen in der Lösung führen.
Die Heftigkeit, mit welcher eine Säure mit einer
Base reagiert, oder die Stärke der Säure, wird diesen
Anschauungen gemäss abhängen von der Leichtigkeit,
mit welcher sie sich in wässriger Lösung in ihre Ionen,
das Kation Wasserstoff, und das Anion Säurerest, spaltet,
oder also von der Anzahl der in einer Lösung bestimmter
Konzentration von ihr gebildeten Ionen. Je mehr freie
Ionen eine Säure bildet, desto stärker ist sie; wenn sie
vollständig in Ionen zerfallen ist, so hat sie das Maxi-
mum der Stärke erreicht. Den Grad der Dissociation,
von welchem also die Stärke einer Säure abhängt, kann
60) Vergl. z. ß. W. Ostwald, die wissenschaftlichen Grundlagen
der analytischen Chemie, II. Aufl. 1 90 1 .
275
man messen, durch die Leitfähigkeit der Säure; denn
nur die Ionen transportieren die Elektrizität, die nicht
dissoeiierten Molekeln beteiligen sich nicht an der
Leitung. Je mehr Ionen eine Lösung enthält, desto
besser leitet sie die Elektrizität. Eine starke Säure
leitet demgemäss besser als eine schwache Säure bei
derselben Konzentration.
Nun ist noch zu berücksichtigen der EinÜuss der
Verdünnung auf den Dissociationsgrad. Je verdünnter
die Lösung ist, desto weiter schreitet die Dissociation
einer Säure fort, so dass also die Leitfähigkeit und der
Dissociationsgrad, wenn wir sie immer auf ein Gramm-
äquivalent beziehen (das Aquivalentleitvermögen), welches
einmal in wenig, das andre Mal in mehr Wasser gelöst
ist, mit wachsender Verdünnung zunehmen. Direkt
vergleichbar sind also nur Säurelösungen gleicher Aqui-
valentkonzentration.
Ostwald hat aber aus dem Dissociationsgrad unter
Elimination des Einflusses der Verdünnung einen Aus-
druck abgeleitet, den man als Dissociationskonstante oder
Dissociationscoefhcient bezeichnet, und der direkt als
ein Mass der Stärke einer Säure angesehen werden
kann. Der Dissocationscoefricient wird aus Messungen
der Leitfähigkeit auf einfache Weise berechnet; die
Formel gilt aber nur für wenig dissoeiierte, also schwache
Säuren.
Die Dissociationscoefficienten organischer Säuren —
die meist zur Klasse der massig-starken Säuren gehören
(für welche die Dissociationsformel anwendbar ist) —
sind nun in weitgehendem Masse abhängig von der
Konstitution der organischen Molekeln. So wird die
schwache Essigsäure zu einer viel stärkeren Säure durch
276
Einführung von negativen Substituenten, wie Hydroxyl,
Halogen etc., was folgende kleine Tabelle zeigen möge :
Essigsäure CHs-COOH K= 0,0018 G1)
Glycolsäure CH2(OH)-COOH K = 0,015
Monochloressigsäure CH2CI-COOH K = 0,155
Dichloressigsäure CHCl2-COOH K = 5,l
Trichloressigsäure CCLt-COOH ist so weitgehend
dissociiert wie eine Mineralsäure.
Aber nicht nur die Anwesenheit, sondern auch die
Stellung der negativen Substituenten ist von bedeutendem
Einfluss auf die Grösse des Dissociationscoefficienten
in dem Sinne, dass der negative Substituent umso
stärker wirkt, je näher er sich bei der Carboxylgruppe
befindet; auch dieser Satz sei durch ein kleines Beispiel
illustriert0-):
«-Chlorpropionsäure CH3-CHCI-COOH K- 0.1465
/>'-Chlorpropionsäure CH2CI-CH2-COOH K = 0,0086
«-Chlorbuttersäure CH3-CH2-CHCI-COOH K = 0,1390
/i-Chlorbuttersäure CH3-CHCI-CH2-COOH K = 0,0089
Nun gilt auch die Doppelbindung als ein negativer
Substituent; sie muss demgemäss durch ihre Anwesen-
heit die Stärke der Säure oder den Dissociationscoef-
ficienten erhöhen, was auch in der That eintrifft:
Propionsäure CH3-CH2-COOH K = 0,0013
Acrylsäure CH2 = OH-COOH K = 0,0056
Butter säure CH3-CH2-CH2-COOH K = 0,0015
Crotonsäure CH3-CH = CH-COOH K = 0,0020
Die Erhöhung ist keine so beträchtliche, wie die durch
Chlor bewirkte, aber sie ist sehr wohl zu konstatieren.
,;1J Die Zahlenangaben, bei denen nichts weiter bemerkt ist,
stammen aus Kohlrausch und Holborn, Leitvermögen der Electro-
lyte, 1898.
G2) J) M. Lichty, Ann d. Ohem. 319, 381.
— 277 —
Wenn nun eine Doppelbindung gerade wie eine
Hydroxylgruppe oder wie ein Chloratom die Stärke
einer Säure erhöht, so war es ausserordentlich wahr-
scheinlich, ja selbstverständlich, dass eine Doppelbindung,
je näher sie der Carboxylgruppe steht, eine umso grössere
Erhöhung des Dissociationscoefficienten bewirken werde,
d. h. also dass unter den ungesättigten Säuren die
(^'-Säuren den grössten Wert des Dissociationscoeffi-
cienten aufweisen, dann die /iy-Säuren einen niedrigeren,
die yd-Säuren einen noch niedrigeren u. s. f.
Diesen Schluss hat auch Ostwald gezogen 63) und
er ist allgemein acceptiert worden.
Wie gross war daher unsere Überraschung, als die
Messungen des Herrn Dr. Ferd. Sonnebor n an der Vinyl-
essigsäure bewiesen, dass diese Säure stärker sei als
die isomeren Crotonsäuren !
Ich gebe hier das Resultat einer Messung, die
Herr Alfred Pfisier später ausgeführt hat:
Vinylessigsäure bei 25° 6t)
A_ = 383
L >o
v = 16 32 64 128 256 512 1024
A = 9,36 13,16 18,46 25,01 35,89 50,02 68,92
100a = 2,44 3.44 4,82 6,77 9,37 13,1 18,0
K = 0,00381 0,00383 0,00381 0,00384 0,00378 0,00386 0,00386
K Mittel = 0,00383 G5)
,;3) Zeitschr. f. phys. Chem. 3, 383.
°4) v- : Anzahl Liter auf ein Gramm äquivalent; \ das Äqui-
valentleitvermögen; Aoo das Äquivalentleitvermögen bei unend-
licher Verdünnung, das maximale Leitvermögen ; 100 a der Disso-
ciationsgrad iu Prozenten; K der Dissociationscoefficient.
Gr>) In früheren Publikationen ist K infolge eines Versehens
zu 0,0051 angegeben worden, was hiemit berichtigt sei.
— 278 —
Der Dissociationscoefhcient beträgt demnach für
Vinylessigsäure K = 0,0038, während feste Crotonsäure
K = 0,0020 (und unreine Isocrotonsäure K = 0,0036?)
aufweist.
2. Messungen an den Penten- und Hexensäuren.
Das Problem war damit gegeben ; es mussten nun
an isomeren Reihen ungesättigter Säuren von vergleich-
barer Konstitution Messungen des Leitvermögens ange-
stellt werden, um zu untersuchen, ob die Annahme von
Ostwald richtig ist. Das Material für solche vergleichende
Messungen boten neben den bekannten aß- und /^/-un-
gesättigten Säuren die yö- und de-Säuren, deren Dar-
stellung im ersten Kapitel besprochen ist. Die Ge-
winnung und peinliche Reinigung der ungesättigten
Säuren, sowie die Messungen selbst hat Herr Alfred
Pfister mit Sorgfalt und Geschick ausgeführt, wofür
ihm auch an dieser Stelle herzlicher Dank ausge-
sprochen sei.
Die Resultate sind in der folgenden Tabelle ver-
einigt und ausserdem in zwei beigelegten Tafeln graphisch
dargestellt.
I. tt^-Pentensäure bei 25".
380-
Aoo-J
v=16 32
04
128
256
512
1024
A = 5,90 8,35
11.71
16.38
22,53
30,72
41,98
100a =1,55 2,20
3. (»8
4,31
5,93
8,08
11,05
K = 0,00153 0,00158 0.00153 0.00152 0.00146 0,00139 0.00134
K Mittel = 0,00148.
— 279 —
II. /?7-Pentensäure bei 25°. J\ = 380.
v=16 32 G4 128 256 512 1024
A = 8,94 12,(il 17,60 24,32 32,51 45,06 62,46
100a = 2,35 3,32 4,63 6,40 8,56 11,86 16,44
K = 0,00353 0,00356 0,00351 0,00342 0,00313 0,00312 0,00316
K Mittel = 0,00335.
III. j^-Penten säure bei 25°. A = 380.
v = 16 32 64 128 256 512 1024
A = 6,90 9,89 13,76 19,33 26,88 36,86 50,17
100a = 1,82 2,60 3,62 5,09 7,07 9,71 13,2
K = 0,00211 0,00217 0,00213 0,00213 0,00210 0,00204 0,00196
K Mittel = 0,00209.
IV. «ß-Hexensäure bei 25°. A = 378.
v =16 32 64 128 256 512 1024
A = 6,46 9,18 12,93 18,18 25,34 35,33 49,15
100a = 1,71 2,43 3,42 4,81 6,70 9,35 13,0
K= 0,00186 0,00189 0,00189 0,00190 0,00188 0,00188 0,00190
K Mittel = 0,00189.
V. /i;'-Hexensäure bei 25° 66). A = 378.
v=16 32 64 128 256 512 1024
A=7,76 11,01 15,42 21,50 29,95 40,96 55,30
100a = 2,05 2,91 4,08 5,69 7,92 10,8 14,6
K= 0,00268 0,00273 0,00271 0,00268 0,00266 0,00256 0,00244
K Mittel = 0,00264.
G6) /?}'-Hexensäure oder Hydrosorbinsäure ist schon früher von
Ostwald gemessen worden, Zeitscbr. f. phys. Chemie, 3, 274* er fand
K 0,0024.
\ =378
512
1024
35,84
49,15
9,48
13,0
— 280 —
VI. /d-Hexensäure bei 25°. A _ = 378.
v=16 32 04 128 256 512 1024
A- 6,21 8,83 12,54 17,54 24,22 33,79 47,10
100a =1,64 2,34 3,32 4,64 6,41 8,94 12,5
K= 0,00171 0,00175 0,00178 0,00176 0,00172 0,00171 0,00174
K Mittel = 0,001 74.
VII. dg-Hexensüure bei 25°.
v=16 32 64 128 256
A =6,50 9,25 12,99 18,18 25,60
100a =1,72 2,44 3.44 4,81 6,77
K = 0,00188 0,00192 0,00192 0,00190 0,00192 0,00194 0,00190
K Mittel = 0,00191.
Eine Zusammenstellung führt uns nochmals das
Resultat vor Augen :
Butensäuren aß 0,0020 ßy 0,0038
Pentensäuren aß 0,00148 ßy 0,00335 yd 0,00209
Hexensäuren aß 0,00189 ßy 0,00264 yö 0,00174 de 0,00191
In dieser Zahlenreihe fällt — abgesehen von der
gleich zu diskutierenden Hauptfrage wegen des Unter-
schiedes zwischen aß- und ^/-ungesättigen Säuren —
der Umstand auf, dass die a/2-Hexensäure einen höheren
Dissociationscoefficienten besitzt als die «^-Pentensäure,
während im allgemeinen beim Fortschreiten in der Reihe
der Homologen mit steigendem Molekulargewicht die
Stärke der Säuren abnimmt.
Aber auch bei den gesättigten Fettsäuren erhlilt
man keine ganz regelmässige Zahlenreihe, wenn man
die DissociationscoerHcienten miteinander vergleicht. Die
betreffenden Zahlen sind nach neueren Messungen für:
281
(Uneare Con re/i tr citions)
fié
M
: 3
Tufeßj.
T'ervieni
-g C Cifi4.u-fe Conceniruiiori)
Ar v
Il ex en s 6iu,rerv.
^S
— 282 —
Ameisensäure H . COOB K = 0,02 1 r'7)
Essigsäure CEfe-COOH 0,0018
Propionsäure CH3 CHs COOH 0,0013
Buttersäure CH3-CH2-OH2-COOH 0,00154
N-Valeri an säure CH3-GH2-CH2-CR2-COOH 0,00161
N-Capronsäure CH3-(CH2j4-COOH 0,00146
Heptylsäure CH3-(CH2)5-COOH 0,0013
Caprylsäure OH3-(CH2)6-OOOH 0,0014
und Ostwald äusserte sich schon früher über diese Reihe
folgen dermass en G8) : „Die Werte für die drei ersten
Glieder der Fettsäurereihe nehmen stetig ab, der Eintritt
von CH3 für H erniedrigt also die Reaktionsfähigkeit
der Säuren. Vom dritten Gliede ab schwanken die
folgenden Werte unregelmässig um kleine Beträge auf
und ab. Die weit vom Carboxyl erfolgenden Substi-
tutionen von Wasserstoff durch Methyl haben keinen
merklichen Einfluss mehr auf dasselbe, und es machen
sich andre Wirkungen geltend, die sich zunächst unseren
Kenntnissen entziehen." G9)
Das Verhalten der gesättigten Fettsäuren zeigt uns
also, dass wir nicht voraussetzen dürfen, es müssten in
07 ) Teils nach E. Franke, Zeitschr. f. phys. Chemie 16, 463,
teils nach J. BilUtzer, Monatshefte f. Chemie 20. 666; Jahrbuch
d. Elektrochemie VI, 99.
C8) Ctrundriss der allgemeinen Chemie, II. Aufl. 1890, pag. 3S0.
69j Wenn man die Affinitätsgrössen der Fettsäuren auf anderm
Wege bestimmt, z. B. durch Katalyse von Methylacetat, so erhält man
ganz stetig verlaufende Zahlen. Setzt man den Greschwindigkeits-
coefficienten von Salzsäure = 1,00, so ergiebt sich für die Reihe
der homologen Fettsäuren:
Chlorwasserstoff 1,00
Ameisensäure 0,01310
Essigsäure 0,00345
Propionsäure = 0,00304
Buttersäure 0,00299
vergl. Osticald, Grundriss der allgemeinen Chemie, iL Aufl., pag. 357.
— 283 —
einer homologen Reihe die Werte der Dissociations-
coefficienten ganz stetig verlaufen.
Eine zweite kleine Schwierigkeit bietet sich hei der
Betrachtung der Reihe der Dissociationscoefficienten inner-
halb einer Messungstabelle bei den verschiedenen Ver-
dünnungen ; speziell bei den ßy-\u\ gesättigten Säuren
(II und V) zeigen die einzelnen Werte eine nicht unbe-
deutende Abnahme bei steigender Verdünnung. Das
kann nicht durch eine ungenügende Reinheit der ange-
wandten Säuren veranlasst sein, denn gerade bei den
/^'-ungesättigten Säuren ist auf die Reinigung eine weit-
gehende Sorgfalt verwendet worden. Es lässt sich leicht
ein Grund denken, warum eine solche Unregelmässigkeit
gerade bei den /^-ungesättigten Säuren eintreten könnte.
/^/-Säuren werden durch Säuren, d. h. durch Wasserstoffi-
onen, iny-Lactone umgelagert. Wenn eine /^/-ungesättigte
Säure in wässriger Lösung dissoeiiert, so bildet sie selbst
Wasserstoffionen, und zwar bei steigender Verdünnung
verhältnismässig immer mehr. Diese Wasserstoffionen
können auf die Säure selbst zurückwirken unter Ein-
lagerung in das isomere Lacton, das nicht dissoeiierbar
und auch nicht dissoeiiert ist und das infolge dessen
scheinbar den Dissociationsgrad der Säure und damit
den Dissociationscoefficienten herunterdrückt-, dies muss
sich speziell bei den höheren Verdünnungen bemerkbar
machen. Die Wirkung der Wasserstoffionen der Säure
auf den nicht dissoeiierten Teil der Säure ist eine Au-
tokatalyse, wie sie an einem ganz analogen Fall, dem
freiwilligen Übergang der /-Oxysäuren in /-Lactone
unter dem Einfluss der Wasserstoffionen aus den y-Oxy-
säuren von P. Henry70) und von Heinr. Goldschmidt'11)
konstatiert- worden ist.
70) Zeitsclir. f. phys. ( îhemie X. 96 ; I ier. d.d. ehem. Ges. 25, Ref. 845.
T1) Ber. d. d. eitern. Gres, 29. 2213; die1 Versuche betreffen die
sog. direkte Esterbilduner.
284
.'}. Die ^'/-ungesättigten Säuren zeigen höhere Disso-
ciationscoenicienten als die cr/j-ungesättigten Säuren.
Der in der Überschrift ausgesprochene Satz geht
aus allen Beobachtungen an der Vinylessigsäure, an den
Pentensäuren und an den Hexensäuren hervor und lässt
sich am einleuchtendsten demonstrieren mit Hilfe der
beiden Tafeln, auf welchen die Kurve der /^/-Säuren
immer den höchsten Platz einnimmt 7-).
Die von Ostwald — man darf wohl sagen — ange-
nommene Regel (denn er hat diese Regel nicht durch
vergleichende Messungen an einbasischen Säuren be-
wiesen) ist demnach zu modifizieren. Allerdings nimmt
der Dissociationscoemcient der ungesättigten Säuren mit
steigender Entfernung der doppelten Bindung von der
Carboxylgruppe ab — aber erst bei Vergleichung der
ßy- mit den yd-Säuren 7a) ; dort, wo der Dissociations-
coefncient am höchsten sein sollte, bei den a/J-Säuren,
ist er im Gegenteil niedrig, niedriger als bei den /?/-un-
gesättigten Säuren, ja bei der a/J-Pentensäure sogar
niedriger selbst als bei der /d-Pentensäure.
Dieselbe Beobachung findet sich in der Litteratur
schon mehrfach verzeichnet. So äussert sich v. ßaeyer 7i)
zu den unter Ostwald von den Herren Bethmann und
Bader1'0) durchgeführten Messungen an den hydrierten
Naphtoesäuren:
7-) Die Curve der âe- Hexensäure konnte nicht eingezeichnet
werden, weil sie mit derjenigen der «,?-Hexensäure fast vollständig
zusammenfällt.
71 1 Über das Verhalten der <5e-Säuren kann man noch kein
abschliessendes Urteil bilden.
T4) Ann. d. Chem. 266, 175.
"') Zeitschr. f. phys. Chemie V, 39!) und VI, 311.
285
COOH
CH
A^Dihydro-a-naphtoësaure 0H2 K = 0,0080
COOH
\--Dihydro-«-naphtoësaure CH K= 0,0114
\CH,/
'\/CH2\0_C00H
A2-Dihydro-/3-naphteesäure CH K = 0,00290
VCH2
/OH2\CHCOOH
Jy'-Dihydro-ß.naphtoesäure OH K = 0.00515
'W
„Diese Zahlen wirkten anfangs entmutigend, da die
Bestimmungen für die Leitfähigkeit der Dihydrosäuren
gerade das Umgekehrte des Resultats gaben, welches
man nach Osheald's früheren Beobachtungen hätte er-
warten sollen. Es wurde nämlich in beiden Fällen die
labile Dihydrosäure (d. h. die /fy-Säure) stärker befunden
als die stabile (die a/S-Säure), d. h. die Säuren,* welche
die doppelte Bindung in unmittelbarem Zusammenhang
mit dem Carboxyl enthalten, leiten schwächer als die
andern. Nachdem nun aber Ostivaltfs Messungen bei
den Hydrophtalsäuren dasselbe Resultat ergeben haben,
wird es wahrscheinlich, dass hier ein allgemeineres Ge-
setz zu Grunde liegt, dessen genauere Kenntnis für
die Mechanik der Ringsysteme selbstverständlich von
grosser Wichtigkeit sein würde."
In der That liegt diesem Verhalten ein allgemeineres
Gesetz zu Grunde, wie wir gleich noch weiter sehen
— 286 —
werden — nur kommt für dasselbe nicht die Ringnatur
der Säuren, sondern allein die Stellung der doppelten
Bindung in Betracht. Von den betreffenden Messungen
an den hydrierten Phtalsäuren seien hier nur die zwei
wichtigsten angeführt :
CH
/ \
CI II' C-COOH
A2'6-Dihydrophtalsäure i K = 0,0172
CH-2 C-COOH
\ //
CB
CH
\
CH CH-COOH
trans-A3'5-Diuydrophtalsäure i I K = 0,0246
J x CH CH-COOH
/
CH
wozu v. Baeyer bemerkt: „Bei den Dihydrosäuren sollte
A2'6 am stärksten sein, sie wird aber von A3'5 über-
troffen" 7G). Also auch hier ein augenfälliges Beispiel
dafür, dass die /Jy-Säuren grössere Dissociationscoeffi-
cienten aufweisen als die a/J-Säuren.
Fernere Beobachtungen solcher Art machte Ossian
Aschan1') an den Tetrahydrobenzoesäuren:
a 1 m x ! t i •• •• nu CH-'-CH flüssige K 0,00214
A -Tetrahydrobenzoesaure CH2< ^C-COOH
GHa-GHs/ feste K 0,00221
CH=CH
A2-Tetrahydrobenzoe'säure CH2< >CH-COOH k o,O0305
CH2-CH2
Er schreibt darüber: „Wie die Dihydronaphtoë-
säuren zeigen also auch die entsprechenden Derivate
'<■) Ann. d. Chem. 269, 163.
77) Ann. d. Chem. 271, 237 und '271.
287 —
der Benzoesäure, dass die Leitfähigkeit im Gegensatz zu
den Beobachtungen Oslwald's in derEettreihe mit der Ent-
fernung der doppelten Bindung von Carboxyl zunimmt."
Es ist also durch die Untersuchung der normalen
ungesättigten Fettsäuren sowohl als durch ältere Beob-
achtungen andrer Autoren an ringförmig gebauten partiell
hydrierten Benzoesäuren, Phtalsäuren und Naphtoë-
säuren, übereinstimmend die Thatsache konstatiert
worden, dass die ^-ungesättigten Säuren höhere Disso-
ciationscoefticienten besitzen als die aß-unge sättigten
Säuren.
Man wird versucht sein, den Grund hiefür zuerst
bei den /^/-ungesättigten Säuren zu suchen.
Vielleicht bieten räumliche Verhältnisse eine Hand-
habe. Wenn man aus den bekannten tetraëdrischen
Kohlenstoffmodellen, deren Axen die Valenzrichtungen
des Kohlenstoffs repräsentieren sollen, eine Kette von
4 oder 5 Atomen aufbaut, in der Art, dass die Centren
aller Tetraeder in einer Ebene liegen und dass die
Atommodelle immer auf der gleichen Seite aneinander
gesetzt werden, so erhält man eine bogen- oder sichel-
förmige Anordnung, in welcher das vierte — nach der
bei den Säuren üblichen Bezeichnung das y-Kohlenstoff-
atom (da das erste als Carboxylkohlenstoff nicht gezählt
wird) — und das fünfte, das d-Kohlenstoffatom, ziemlich
nahe an das erste, das Carboxylkohlenstoffatom, heran-
gerückt ist. Diese relative Annäherung von y- und
(^-Stellung an die Carboxylgruppe hat z. B. J. Wisli-
cenus 7S) herangezogen, um das Zustandekommen der
Ringschlüsse bei den y-Lactonen und <3-Lactonen in
eleganter Weise zu erklären.
78) Über räumliche Anordnung der Atome in organischen.
Molekeln, 1887.
— 288 —
In unserm Fall würde der Einfluss der räumlichen
Annäherung so zu deuten sein, dass die in ^-befind-
liche doppelte Bindung durch die Nähe des /Î-Kohlen-
stoffatoms eine relativ starke Wirkung auf die Carbo-
xylgruppe ausübt; aber diese Erklärung hält nicht
stand, erstens, weil das a-Kohlenstoffatom immer noch
näher an der Carboxylgruppe steht als das geeignet
herumgebogene y-Kohlenstoffatom, und zweitens, weil
das d-Kohlenstoffatom der Carboxylgruppe noch näher
kommt als das y-Atom, und demgemäss die y<5-Säuren
den höchsten Dissociationscoefficienten haben müssten, -
was eben nicht der Fall ist.
Nicht die /^-ungesättigten Säuren also nehmen eine
Ausnahmsstellung ein; nicht sie sind stärker dissociiert
als man erwarten sollte ; sondern im Gegenteil zeigen
die ßy-, die yd- und die dg-ungesättigten Säuren das
normale Verhalten. Die «/J-Säuren aher sind viel weniger
dissociiert, als dies von einer ungesättigten Säure mit
einer als negativer Substituent wirkenden Doppelbindung
in unmittelbarer Verbindung mit der Carboxylgruppe
vorauszusetzen war.
4. Die «^-Stellung bedingt einen auffallend schwachen
Einfluss der Doppelbindung auf die Dissociationsconstante
der ungesättigten Säure.
In einzelnen Fällen beeinflusst die a/J-Doppelbindung
den Dissociationscoefficienten einer Säure sogar negativ,
derart, dass die ungesättigte Säure einen niedrigeren
Coefficiente.n aufweist als die entsprechende gesättigte
Säure. In der folgenden Zusammenstellung:
Propionsäure 0,0013 Acrylsäure 0,0<».V>
Buttersäure 0,00154 Crotonsäure 0,0020 Vinylessigsäure 0,0038
N-Valeriansäure 0,00161 a/?-Pentensäure 0,00148 /?j'-Peutensäure 0,00335
Kapronsäure 0,00140 a/3-Hexensäure 0,00189 /?j/-Hexensäure 0,0021)4
— 289 —
tritt diese merkwürdige Erscheinung bei der or/J-Penten-
säure auf; die andern Reihen - - ausser Propionsäure-
Acrylsäure — zeigen nur unbedeutende Zunahme des
Coefficienten bei Eintritt der cn/?-Doppelbindung gegen-
über dem grossen Sprung zwischen der gesättigten und
der ßy-xmge sättigten Säure. Man erhält geradezu den
Eindruck, dass die a/?-Doppelbindung die Beweglichkeit
des AVasserstoffatoms der Carboxylgruppe herabsetzt.
Eine derartige Wirkung lässt sich nun auch in der
That verstehen, wenn man die Thiele'sche Theorie der
Doppelbindung 7<J) zu Hilfe nimmt. Nach Thietëa An-
nahme verbraucht eine Doppelbindung nicht die ganze
Energie der doppelt gebundenen Atome, sondern lässt
noch einen Energierest, die sogenannten Partialvalenzen
übrig. An Stelle der früheren Schreibweise der Doppel-
bindung :
0: C
tritt die neue
C = C
worin die punktierten Striche die Partialvalenzen aus-
drücken sollen. Eine derartige Anschauung ist sehr
geeignet, die ungesättigte Natur der Doppelbindung zu
erklären; den Angriffspunkt für die addierten Atome
und Atomgruppen bilden eben die Partialvalenzen.
In einem System aus zwei hintereinander liegenden
Doppelbindungen
C = 0 - 0 = c
vereinigen die mittleren Atome ihre Partialvalenzen zu
einer neuen, inaktiven Doppelbindung:
C = C^C C
so bezeichnet, weil sie keine Partialvalenzen mehr ent-
hält. Aus dem ursprünglichen System mit zwei unab-
™) Ann. d. Chem. 306, 87 ff.
L9
290 —
hängigen Doppelbindungen und vier freien Partialva-
lenzen wird also ein neues, in welcbem die Doppel-
bindungen in Beziebung zu einander getreten sind, zu
konjugierten Doppelbindungen, und das nur mehr zwei
freie Partialvalenzen enthält. Derartige Umwandlungen
erklären sich leicht durch das allgemeine Bestreben der
Molekeln, in möglichst gesättigte Verbindungen über-
zugehen.
Die konjugierten Doppelbindungen vermögen nur
noch zwei Atome und zwar an den Enden des Systems
anzulagern. Dabei werden die äusseren Doppelbindungen
zu einfachen und die mittlere inaktive zu einer aktiven
mit zwei Partialvalenzen. Derartige Vorgänge sind zur
Genüge bekannt durch das Verhalten zweifach unge-
sättigter Säuren bei der Reduktion, wovon schon im
ersten Kapitel, Abschnitt 1, die Rede war.
Doppelbindungen existieren nicht nur zwischen Koh-
lenstoffatomen allein, sondern z. B. auch zwischen Kohlen-
stoff- und Sauerstoffatomen. Eine «^-ungesättigte Säure
-CH = CH-0 (OH) = 0
enthält ein System von Doppelbindungen, das sicher
auch zu einem konjugierten wird80):
-CH. CH^C(OH) = 0
80) Man kann diese Annahme benutzen zu einer plausibelu Er-
klärung der Thatsache, dass die a/3-ungesättigten Säuren sich im
Gegensatz zu den /Jy-ungesättigten Säuren durch Natriumamalgam
direkt reduzieren lassen. In dem konjugierten System der «^-un-
gesättigten Säuren wird Wasserstoff an den Enden addiert und das
Produkt lagert sich sofort um:
-CH = CH ^ C(OH> 0 + m - -CHj-CH = C (OH)-OH ^
y -CH2-CH2-C(OH) 0
zu einer gesättigten Säure.
291
Aus diesen wenigen Grundsätzen lässt sich mög-
licherweise ohne weiteres eine Erklärung ableiten für
die niedrigen Dissociationscoefhcienten der «^-ungesät-
tigten Säuren. Nach Thiele ist eine «/j-ungesättigte
Säure ein gesättigteres Gebilde als eine /^-ungesättigte
Säure
C-C = 0 ^ C = 0 gesättigter als C C-C-C = O
und wir können erweiternd hinzufügen: auch gesättigter
als eine yd- oder de-Säure.
Ist es dann nicht geradezu selbstverständlich, dass
das gesättigtere Gebilde auch weniger Neigung besitzt, sein
Wasserstoff- Kation abzuspalten als das ungesättigtere?
Gewisse Anschauungen, die Vorländer 81) in einer
Abhandlung über die Konstitutionsformeln der Säuren
entwickelte, führen zu demselben Schluss: nach Vor-
länder enthalten alle Säuren eine Kombination von vier
Elementen :
12 3 4
H. E. E: E.
wobei die Elemente 3 und 4 die „reaktive Gruppe"
bilden. Die Beweglichkeit des Wasserstoffatoms 1 hängt
zunächst ab von dem Nichtmetall 2 (im Falle der Car-
boxylgruppe ist dies ein Sauerstoffatom), mit welchem
der Wasserstoff in direkter Verbindung steht. Dann
wird die Beweglichkeit von den Nichtmetallen 3 und 4
(bei der Carboxylgruppe C und 0) beinflusst, besonders
von dem ungesättigten Zustand derselben.
Der ungesättigte Zustand — so lässt sich im
Hinblick auf die vorliegende Frage weiter argumentieren
— der Elemente 3 und 4 ist nun bei den gesättigten
Säuren oder bei den ßy-, yd- etc. ungesättigten Säuren
mit den Thiele 'sehen Formeln
*l) Ber. d. d. ehem. Ges. 34, K333.
— 292 —
-C-C-C-C (OH) = 0 -C = C-C-C (OH) - 0
gewiss stärker ausgeprägt als in den a/J-ungesättigten
Säuren :
-C = C ^ C (OH) = 0
wo eine der beiden Partialvalenzen der Oarbonylgruppe
durch Konjugierung mit der benachbarten Doppelbindung
abgesättigt ist — und so muss also nach Vorländer die
Beweglichkeit des Wasserstoffatoms in einer aß-unge-
sättigten Säure geringer sein als in einer /^/-ungesättigten,
was mit unsern Beobachtungen vollkommen überein-
stimmt.
Thiele suchte die gesättigtere Natur einer a/?-Säure
gegenüber der /?/-Säure auch nachzuweisen durch den
geringeren Energieinhalt der ersteren, gemessen durch
die Verbrennungswärme. „Nach den oben entwickelten
Anschauungen sollte eine a/9-ungesättigte Säure eine
geringere Verbrennungswärme haben als eine ^/-unge-
sättigte. Es liegt dafür eine Litteraturangabe vor:
_V-Dihydromuconsäure (aß) hat die Verbrennungswärme
629,1 Cal., A" (ßy) bat 629,4 Cal. (Stohmami): Die
Differenz liegt zwar in dem richtigen Sinne, ist aber
allerdings geringer als man erwarten sollte" 8"2).
Leider sind derartige Messungen an einbasischen
ungesättigten Säuren noch nicht ausgeführt worden.
Aber eine aus ganz andern Gründen begonnene Unter-
suchung weist uns auf Analogieen hin, die wir vielleicht
hier zum Beweis heranziehen dürfen.
Nachdem die Vinylessigsäure dargestellt und damit
alle drei der Theorie nach möglichen isomeren Buten-
säuren mit gerader Kette bekannt waren, sollte versucht
werden, zu der längst bekannten Phenyl-/J/-butens;tun
2) Thiele, Aun. d. Chem. 306, 103.
— 293 —
Phenylisocrotonsäure auch das entsprechende Stereoiso-
merenpaar der Phenyl-a/?-butensäuren zu gewinnen. Eine
Phenyl-a/?-butensäure hat Fittig 83) durch ümlagerung
der Phenyl-/?j/-butensäure mit Natronlauge, aber in auf-
lallend geringer Ausbeute erhalten. Um die Phenyl-
or/J-butensäure bequemer darzustellen, wurde Phenyl-
acetaldehyd mit Malonsäure kondensiert bei Gegenwart
von Pyridin oder von Essigsäureanhydrid : aber statt
der nach der Reaktion :
Gem CH2-CHO -!■ ('H-<^||||| CO2 + H2O ! (VU.-. CH2 CH: CH-COOH
zu erwartenden Phenyl-«/9-butensäure resultierte fast
ausschliesslich Phenyl-/?y-butensäure oder Phenyliso-
crotonsäure Si). Zweifellos ist zuerst Phenyl-a/?-buten-
säure gebildet worden; sie ist aber so unbeständig, dass
sie unter den Bedingungen der Reaktion ohne weiteres
in Phenyl-/?y-butensäure übergeht.
Vergleicht man die Beständigkeit der Butensäuren
und der Phenylbutensäuren miteinander :
Vinylessigsäure, labil. (feste) Crotonsäure, stabil.
CH2 CH-CH2-COOH CHt-CH CH-COOH
Phenylvinylessigsäure, stabil. Phenyl-aß- crotonsäure, labil.
CgHs-CH CH-CH2-CO( )H C6H5-CH2-CH CH-COOH
so fällt die direkte Umkehrung der Stabilitätsverhält-
nisse ohne weiteres in die Augen 8'J). In den Phenyl-
butensäuren spielt die Phenylgruppe sozusagen dieselbe
Rolle, wie in den Butensäuren die Carboxylgruppe; in
den fetten Säuren zieht die Carboxylgruppe, in den
SH) A. Liriö, Ann. d. Chem. 283, 297.
84) Herr E. Alber führt diese Versuche aus.
85) Interessante Aufschlüsse sind in dieser Beziehung auch von
der von Herrn W. Latzko dargestellten /?y-Diphenylvinylessigsäure
«V,U, CE C(CeH5)-CH2-COOH zu erwarten.
— 294 —
aromatischen die Phenylgruppe die Doppelbindung zu
sich heran 86). Man kann auf Grund obiger Beobach-
tungen direkt das Phenyl in Parallele setzen zum Car-
boxyl, und miteinander vergleichen
Vinylesssigsäure (labil) und /fy-Propenylbenzol (labil)
CHl> = CH-CH2-OOOH CH2 = CH-CHa-CeHs
Crotonsäure (stabil) und «,9-Propenylbenzol (stabil)
CH3-CH = CH-COOH CHs-OH = CH-CcHn
Die Analogieen beider Verbindungsreihen werden
durch beliebig herausgegriffene Beispiele belegt.
OCH3
/
Eugenol, CH^CHGFh- \öR wird durch alkalische Mittel
OCH3
/
in Isoeugenol CH3-CH = CH-/ ; OH umgelagert87). Eugenol ist
nicht reduzierbar, aber Isoeugenolmethyläther
OCH3
/
CH3-CH = CH- / ^ - OCHs
wird von Natrium und Alkohol zu Dihydroeugenol-
methyläther 00H3
/
( ,H:s-CH2-CH2-</ \ - OCHs
reduziert ss).
8G) Auf die letztere Thatsache und auf ihre Verwertung be-
züglich der Auffassung des Benzols, an dessen Kohlenstoffatomen
wahrscheinlich noch ein geringer Rest freier Affinität vorhanden
ist, hat auch schon Thiele hingewiesen, Ann. d. Chem. 306, 126,
Fussnote w).
8T) Tiemarui, Ber. d. d. chem. Ges. 24, 2871 ; Einhorn, DRP. 76982.
ss) Ciamician und Silber, Ber. d. d. ehem. Ges. 23, 1166.
295 —
1 > CHü
/ I
Safrol CH2 = ÖH-CHt-< >_o ist sehr beständig gegen
Reduktionsmittel89); das daraus durch Umlagerung mit
alkoholischem Kali erhaltene Isosafrol
,-/°7CH2
CH3-OH = CH-< ^>-0
wird durch Natrium in alkoholischer Lösung zu
0\0H«
/ 7
Dihydrosafrol CHa-CHs-CH*--'' >-0 reduziert89).
Die Umlagerung mit Alkali führt von den /fy-Pro-
penylbenzolen zu den a/5-Propenylbenzolen; die Reduktion
mit Natrium tritt nur ein bei den a/ï-Propenylbenzolen,
nicht bei den /?/-Propenylbenzolverbindungen 90).
Demnach sind die «/i-Propenylbenzole die gesättig-
teren von den beiden Isomeren; das drückt sich in
schönster Weise in den Verbrennungswärmen aus :
PY< aß.
Eugenol 1286,9 Cal. Isoeugenol 1278,1 Cal.
OCHs OCHs
/ _/
CH2-CH-CH2-/ >-OH GH3-CH = CH-/ \oH
89) Ciamieian und Silber, Ber. d. d. ehem. Ges. 23, 1162.
9'J) Hieher gehört auch die bemerkenswerte Fähigkeit der
Phenylisocrotonsäure, durch Natriumamalgam reduziert zu werden
zur Phenylbuttersäure, vergl. Jayne, Ann. d. Chem. 216, 108,
trotzdem sie bez. der Carboxylgruppe eine /^-ungesättigte Säure ist.
296
ßy. aß.
Safrol 1244,7 Cal. Isosafrol 1234,5 Cal91)
0 0H2 °- CH2
CHo = CH -CH2-/ Vo OHa-CH: (II N-0
\ / \ /
Die a/î-Propenylverbindungen besitzen also bedeutend
niedrigere Verbrennungswärmen als die /¥j/-Propenyl-
verbindungen : die Konjugierung der a/?-Doppelbindung,
die in den a/j-Propenylbenzolen zu der relativ grösseren
Sättigung führt, findet vermutlich mit Doppelbindungen
des Benzolkerns auf Grund der im Benzol noch vor-
handenen Affinitätsreste statt 92).
Es lassen sich auf diese Weise Schlüsse ziehen von
dem relativ gesättigten Charakter der c^-Propenylben-
zole auf denjenigen der a/^-ungesättigten Säuren — bis
auch an diesen durch direkte Bestimmung der Ver-
brennungswärmen die auf Grund der Dissociationscoef-
ficienten vermuteten Unterschiede im Energieinhalt (gegen-
über dem der /^/-ungesättigten Säuren) bewiesen werden
können.
Es muss nun zum Schluss noch ausdrücklich betont
werden, dass die Grösse der elektrolytischen Dissocia-
tionscoefticienten nicht ohne weiteres als absolutes Mass
für die Affmitätsgrösse oder „Stärke" der Säuren ange-
sehen werden darf. Die Zahlen, die für die Stärke der
Säuren auf dynamischem Wege, . durch Messung von
Reaktionsü-eschwindisrkeiten, erhalten werden, verlaufen
,J1) Stohmann, Ber. d. d. ehem. <i<'s. 25, Ref. 897; daselbst
noch zahlreiche andere Beispiele.
'■'-) Vergi. FussnoteM;).
297 —
nicht unbedingt parallel mit der Reihe der Dissociations-
coefficienten, und es müssen deshalb nun vor allem ver-
gleichende Messungen mit ungesättigten Säuren an der
Katalyse von Methylacetat, oder an der Inversion von
Rohrzuckerlösung angestellt werden. Was in der vor-
stehenden Abhandlung dargelegt und diskutiert ist, be-
trifft nur die Beziehungen zwischen der elektrolytischen
Dissociation ungesättigter Säuren und der Stellung der
Doppelbindung in der Molekel.
Wir haben bisher nur eine Beobachtung chemisch-
dynamischer Natur über die „Stärke" a/i-ungesättigter
Säuren gemacht. Im Ö. Abschnitt des ersten Kapitels
ist gezeigt worden, dass Crotonsäure keine Anhydrobase
bildet, oder dass Crotonyltoluylendiamin den Imidazol-
ring nicht schliesst. Vermutlich kommt ein derartiger
Ringschluss in zwei Phasen zu Stande : zuerst addiert
die Carbonylgruppe NH und H unter Bildung eines
„Ortbosäurederivates" das dann wieder Wasser abspaltet
unter Schliessung des Ringes, nach
/NHH NH OH X
CO-R ^ ! C-R >- O-B
\/XH X/^NH^ MI
Die Crotonsäure kann diese Reaktion nicht geben,
offenbar weil das Carbonyl ihrer Carboxylgruppe nicht
mehr addieren kann : denn es besitzt nur noch eine
Partialvalenz
XH ,0
XII
C_('I1 CÏÏ-CH3
anstatt zweier, wie dasjenige einer gesättigten Fett-
säure.
— 298
Ist diese Anschauung richtig, so müssten alle ge-
sättigten Fettsäuren, sowie alle ßy-, yô- etc. ungesättigten
Fettsäuren Imidazole geben — nur gerade die «^-unge-
sättigten Säuren dürften dies nicht thun. Es muss
deshalb in dieser Richtung vor allem weiteres Material
gesammelt werden.
BASEL, im Oktober 1902.
Die Bedeutung der Farbstoffe im Haushalte
der Natur.
Eine farbenchemisch biologische Studie.
Von
Rudolf Nietzkl.
Bei einem Blick in unsere Umgebung sehen wir,
dass die meisten Gegenstände eine mehr oder weniger
ausgesprochene Färbung zeigen, forschen wir aber nach
der Ursache dieser Färbung, so werden wir finden, dass
dieselbe durch die Beimengung verhültnissmässig geringer
Mengen gefärbter Stoffe veranlasst wird, welche wir als
Farbstoffe im weiteren Sinne bezeichnen. Wenn wir von
der sehr geringen Färbung absehen, welche auch die
sogenannten farblosen Körper, wie Wasser und Luft,
in dicken Schichten zeigen, so kommen wir zu der
Überzeugung, dass die Hauptmasse der Körper farblos
ist. So verdanken die meisten Mineralien ihre Färbung
einer Beimengung von Eisen, Mangan und anderen
Schwermetallen sowie von organischen Substanzen.
Noch auffallender aber ist diese Erscheinung in der
organischen Welt. Die Materialien, aus denen die ein-
fachsten Zellen und Gefässe der Pflanzen und Tiere
aufgebaut sind, die Zellulose, die Eiweisstoffe, etc. sind
ungefärbt, und deshalb finden wir bei den niedrigen Or-
ganismen die Färbung nur ausnahmsweise, bei den
höheren aber wird sie zur Regel und ist dort durch das
Vorhandensein ganz charakteristischer Farbstoffe bedingt.
Es kommen hier namentlich zwei solcher Farbstoffe in
300 —
Betracht: der Blutfarbstoff, der in allen warmblütigen
Tieren, und das Chlorophyll, welches in allen höheren
Pflanzen eine wichtige Rolle spielt.
Beide gehören den organischen Farbstoffen an, sie
bestehen aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und
Stickstoff, denen sich in beiden Fällen noch das Eisen
hinzugesellt.
Wenn auch in den letzten 25 Jahren die For-
schungen in der organischen Chemie die Konstitution
der künstlichen Farbstoffe und eines grossen Teils der
natürlichen, aufgeklärt haben, so müssen wir doch ein-
gestehen, dass unsere Kenntnisse über diese beiden wich-
tigsten Farbstoffe fast auf dem Nullpunkt stehen. Die
wichtigsten sind sie jedenfalls, denn der Blutfarbstoff
unterhält den Atmungsprozess der Tiere, das Chloro-
phyll vermittelt die Kohlenstoffassimilation in der Pflanze,
ohne die Beiden ist daher ein höheres Tier- und Pflan-
zenleben undenkbar.
Es drängt sich uns nun die Frage auf: Waruni sind
diese Körper Farbstoffe? Ist die Färbung hier eine
ganz zufällige Beigabe, oder steht sie in einem gewissen
Zusammenhang mit der Eigenschaft der Substanzen und
ihren Funktionen? Die Erfahrung scheint diese Frage
im letzteren Sinne zu beantworten.
Das Chlorophyll wird in verschiedenen Algen,
Diatomeen und Flagellaten durch andere Farbstoffe
ersetzt, und trotzdem findet Kohlenstoffassimilation statt.
Farbstoffe aber müssen es sein, darüber scheinen die Bo-
taniker einig zu sein, ja, sie ziehen sogar aus der Ge-
genwart von Farbstoffen den Schluss auf das Vorhan-
densein von Assimilation. Erklärungen für diese That-
sache sind von botanischer Seite versucht worden. Man
betrachtet die Wirkung der Farbstoffe als eine rein phy-
sikalische und nimmt an, dass sie gewissermassen als
— 301
Lichtfilter wirken und nur diejenige Lichtgattung absor-
bieren, welche gerade für den Assimilationsprozess am
wirksamsten ist. Ich muss sagen, dass mich diese Erklä-
rung niemals befriedigt hat, und dass ich mich deshalb
bemühte eine Erklärung zu suchen, welche die chemischen
Eigenschaften der Farbstoffe in Rechnung zieht und
ihnen eine chemische Rolle in diesem Prozess anweist.
Zum Verständnis des nachfolgenden wird es nötig
sein, dass wir auf die chemischen Eigenschaften der grossen
Körpergruppe, die wir als organische Farbstoffe betrach-
ten, etwas näher eingehen. Dass die Färbung keine
zufällige Eigenschaft organischer Kohlenstoffverbindungen
ist, sondern mit der chemischen Konstitution im engen
Zusammenhang steht, ist schon lange erkannt worden,
und zwar war es eine allen Farbstoffen gemeinsame
Reaktion, welche zuerst zu der i^nsicht führte.
Alle Farbstoffe gehen durch nascenten Wasserstoff,
also durch Behandlung mit Reduktionsmitteln bei Ge-
genwart von "Wasser, in farblose Substanzen über, aus
denen sie durch Oxydation, also durch Entziehung von
Wasserstoff, wieder hergestellt werden können.
Als klassisches Beispiel kann hier die schon seit
Jahrhunderten bekannte Indigoküpe angeführt werden.
Das Indigoblau, ein aus Kohlenstoff, Stickstoff, Sauer-
stoff und Wasserstoff bestehender Farbstoff ist in den
meisten indifferenten Lösungsmitteln unlöslich. Setzt
man es jedoch in irgend einer Weise der Wirkung des
nascierenden Wasserstoffs aus. indem man es mit re-
duzierenden Mitteln, wie Zucker, arseniger Säure, Eisen-
oxydul, Zinkstaub etc. bei Gegenwart von Alkalien behan-
delt, so geht es in eine farblose alkalilösliche Substanz
über, „das Indigweiss," welches sich, der Luft ausge-
setzt, leicht wieder in unlösliches Indigoblau verwandelt.
Unter dem Namen Indigoküpe ist die Indigweisslösung
802
ein uraltes und noch heute wichtiges Färbemittel, denn
auf 'der damit getränkten Zeugfaser schlägt sich durch
oxydierenden Einfluss der Luft unlösliches Indigoblau
nieder, und diese wird gleichmässig und echt blau gefärbt.
Die chemische Untersuchung hat gelehrt, dass In-
digweiss sich von Indigblau nur durch den Mehrgehalt
zweier Wasserstoffatome unterscheidet, welche ihm bei
der Oxydation wieder entzogen werden.
Bei seinen klassischen Untersuchungen der ersten
künstlichen Farbstoffe fand A. W. Hofmann, dass alle
Farbstoffe der Rosanilinreihe sich dem Indigo durchaus
analog verhalten. Mit dem Namen „Leukanilin", welchen
Hofmann der aus Rosanilin dargestellten farblosen Sub-
stanz gab, führte er den Namen Leukokörper oder Leu-
koverbindungen in die organische Chemie ein.
Heutzutage betrachtet man es als ganz selbstverständ-
lich, dass zu jedem Farbstoff der entsprechende Leuko-
körper gehört, und wenn es nicht gelingt denselben darzu-
stellen, suchen wir die Ursache nur in unseren ungenügen-
den experimentellen Mitteln. Grabe und Liebermann
haben zuerst den Satz aufgestellt, dass die Reduktions-
fähigkeit eine integrierende Eigenschaft aller organischen
Farbstoffe sei. Zum ersten Mal wiesen sie auf die Analogie
mit dem lange bekannten Chinon hin, welches, lebhaft gelb
gefärbt, durch Reduktion unter Aufnahme von 2 Wasser-
stoffatomen in das farblose Hydrochinon übergeht.
Grabe und Liebermann waren daraufhin geneigt
im Chinon den Prototyp sämmtlicher Farbstoffe zu er-
blicken. Später trat 0. N. Witt mit seiner ausführ-
lichen Farbstofftheorie an die Öffentlichkeit, und wies
darauf hin, dass in allen Farbstoffen bestimmte Atom-
gruppen vorhanden seien, die er als Chromophore be-
zeichnet, und deren Wirkung durch andre Radikale,
die Auxoehrome, gesteigert würde. Bei der weiteren
303
Durchführung' dieser Theorie hat sich gezeigt, dass aller-
dings ein grosser Teil der Chromophore (wenn auch
nicht alle) anolog der Chinongruppe konstituiert ist, dass
aber alle als ungesättigte Radikale anzusehen sind. Sie
haben alle das Bestreben sich durch Addition von Was-
serstoff zu sättigen. Durch diese Sättigung aber wird
die Färbung aufgehoben, und der Farbstoff geht in den
Leukokörper über.
Nicht alle Leukokörper sind so leicht oxydierbar, dass
sie schon durch den Luftsauerstoff in Farbstoffe verwandelt
werden, es müssen vielmehr zur Erreichung dieses Zweckes
Oxydationsmittel angewandt werden ; andre dagegen oxy-
dieren sich so leicht, dass die Leukoverbindungen über-
haupt nicht fassbar sind. Andrerseits sind unsere Farb-
stoffe ausserordentlich widerstandsfähig gegen Reduktions-
mittel, während viele andre durch die Reduktion völlig
zersetzt werden. Leukokörper können gleichzeitig noch
Farbstoffe sein, wenn ursprünglich mehrere Chromophore
vorhanden und nur ein Teil davon reduziert war.
Aus dem hier gesagten aber geht hervor, dass Farb-
stoffe als Oxydationsmittel, und da sie immer wieder re-
generiert werden, als Sauerstoffüberträger dienen können.
In umgekehrter Weise aber fungieren die Leukokörper
als Wasserstoffüberträger.
Die sauerstoffübertragende Wirkung lässt sich
leicht durch einen Versuch zeigen, der zuerst, in etwas
andrer Form, von A. W. Hofmann1) angestellt wurde.
Bringt man in eine Kochflasche eine nicht zu konzen-
trierte Lösung von Safranin in verdünntem Alkohol, fügt
einige Tropfen Ammoniak und etwas Zinkstaub hinzu, so
wird nach einigem Erwärmen und Schütteln die intensiv
rote Lösung entfärbt und bleibt farblos, wenn die Flasche
!) Hofmann bediente sich statt des hier verwandten Sat'ranins,
des Naphtaünrots, eines dem ersteren in seiner Konstitution ver-
wandten Farbstoffes.
- 304 —
nach dem Austreiben der Luft mit einem gut schliesseuden
Stöpsel verschlossen wird. Ein blosses Lüften des Stop-
fens und Einlassen von Luft bewirkt momentane Rotfär-
bung, erneutes Schliessen und Schütteln aber Entfärbung.
Man kann nun diese Oxydation und Reduktion so
lange wiederholen, bis alles vorhandene Zink zu Zink-
oxyd oxydiert ist Da Zinkstaub durch verdünntes Am-
moniak nicht angegriffen wird, so ist die Oxydation durch
die übertragende Wirkung des Farbstoffes bewirkt wor-
den. Letzterer hat das Wasser zersetzt, sich des Was-
serstoffs bemächtigt und den Sauerstoff für das Zink
disponibel gemacht. Bei der Oxydation des Leukokörpers
aber hat dieser seinen Wasserstoff an den Luftsauerstoff
abgegeben, ersterem kommt hier also die Rolle eines
Wasserstoffüberträgers zu.
Im Grunde aber hat das beschriebene Experiment
eine gewisse Ähnlichkeit mit dem tierischen Atmungs-
prozess. Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel, das:-.
das Venenblut zum Arterienblut in derselben Beziehung
steht, wie der Leukokörper zum Farbstoffe.
Die blaue Farbe des Venenblutes kann vom Vor-
handensein eines zweiten Chromophors oder von einem
beigemengten nicht reduzierbaren Farbstoff herrühren.
Wir haben in den Lungen die Oxydation des Leuko-
körpers zum Farbstoff, des Venenblutes zum Arterien-
blut, die Rolle des Zinkstaubes aber spielen alle koh-
lenstoffhaltigen Substanzen, welche vom Arterienblut oxy-
diert und schliesslich zu Kohlensäure verbrannt werden.
Beiläufig unterscheidet sich diese Auffassung fast gar
nicht von der bisher üblichen, der Chemiker ist so sehr
daran gewöhnt Wasserstoffabspaltung und Oxydation
einerseits, Wasserstoffaddition und Reduktion anderseits
in eine Kategorie zu stellen, dass er kaum zwischen die-
sen Reaktionen unterscheidet. So ist es in vielen Fäl-
— 305 —
len ganz gleichgültig, ob wir eine Reaktion mit dem
wasserstoffentzielienden Chlor oder mit der sauerstoff-
abgebenden Chromsäure ausführen. Mehr Schwierig-
keiten macht die Anwendung dieser Hypothese zur Er-
klärung der Kohlenstoff-Assimilation in den Pflanzen.
Die Pflanze atmet Kohlensäure ein und scheidet
Sauerstoff aus. Da der ganze Prozess bei Gegenwart
von Wasser vor sich geht, so kann er in verschiedener
Weise aufgefasst werden. Nach der meist üblichen An-
sicht wird dem Kohlendioxyd direkt der Sauerstoff ent-
zogen und durch Einwirkung von Wasser auf den nas-
centen Kohlenstoff entstehen dann die sogenannten Koh-
lenhydrate wie Zucker, Stärke etc. Dem Chemiker
scheint der Sprung von der Kohlensäure zum Kohlen-
hydrat etwas zu gross, als dass er sich mit dieser An-
nahme befreunden könnte, und es ist denn auch von
chemischer Seite eine andre Hypothese aufgestellt worden.
A. v. ßaeyer spricht die Ansicht aus, dass zunächst
Wasser zersetzt wird, und durch Einwirkung des nas-
centen Wasserstoffs auf die Kohlensäure Formaldehyd
entstehe, welcher sich in der ihm eignen Weise weiter po-
lymerisiert und kondensiert. Es wird dieser Ansicht entge-
gengehalten, dass Formaldehyd eine eiweissfällende, daher
für alles Pflanzenleben giftige Substanz sei, deren Existenz
im lebenden Organismus problematisch erscheinen muss.
Der Kernpunkt der Baeyerschen Hypothese liegt
aber nicht in der Formaldehydbildung, sondern in der An-
nahme des nascenten Wasserstoffs als Reduktionsmittel
für die Kohlensäure. Auch für diesen Prozess ist ein
Farbstoff, das Chlorophyll, das unentbehrliche Reagenz.
Versuchen wir, uns die Wirkung desselben, mit
Hilfe der bekannten Reaktionen der Farbstoffe klar
zu machen, und kehren wir wieder zu dem Hofmannschen
Versuch zurück. Bei der Reduktion des Farbstoffs mit
» 20
306
Zinkstaub wird ebenfalls Wasser zersetzt, der Wasser-
stoff tritt zu ersterem, während sich das Zink des Sauer-
stoffs bemächtigt. Der Farbstoff allein kann das Was-
ser nicht zersetzen, denn dieser Prozess erfordert die
Zufuhr einer Energiemenge, welche der Verbrennungs-
wärme des Wasserstoffs gleich ist, und wenn vielleicht
die Reduktion des Farbstoffs Wärme erzeugt, so würde diese
doch nicht ausreichen, wenn nicht gleichzeitig eine zweite
Reaktion daneben herliefe, welche die für den Prozess
nötige Energiemenge erzeugt: Die Verbrennung des
Zinks zu Zinkoxyd.
Eine ähnliche Wirkung, wie sie hier dem Zink zu-
kommt, müssen wir im Atmungsprozess der Tiere
den verbrennenden Kohlenstoffverbindungen zuschreiben,
diese unterhalten aber nicht allein die chemische Reak-
tion, sie liefern auch den nötigen Wärmeüberschuss
für den Lebensprozess.
Betrachten wir nun die Kohlenstoffassimilation der
Pflanze von diesem Standpunkte und nehmen an, dass
das Chlorophyll Wasser zersetzt, sich mit dem Wasser-
stoff zum Leukokörper vereinigt und der Sauerstoff' in
Freiheit gesetzt wird, so sehen wir, dass in dieser Re-
aktion ein wichtiger Faktor fehlt: Die durch die Ne-
benreaktion gelieferte Verbrennungswärme beziehungs-
weise Energiezufuhr. Für diese muss ein Ersatz vor-
handen sein und ihn schafft das Sonnenlicht, ohne wel-
ches jede Kohlenstoffassimilation unmöglich ist.
Im weiteren Verlauf des Prozesses können wir an-
nehmen, dass der Leukokörper seinen Wasserstoff auf
die Kohlensäure übertrügt, und damit sind die Beding-
ungen zum Aufbau der komplizierteren Kohlenstoffver-
bindungen gegeben, gleichgiltig ob wir den etwas bissigen
Formaldehyd, die harmlosere Ameisensäure, oder etwas
anderes als erstes Durchgangsprodukt annehmen wollen.
— 807
Jedenfalls aber wird das Chlorophyll regeneriert und
der Prozess kann sich ad infinitum wiederholen. Über
die Einwirkung des Sonnenlichtes auf organische Kör-
per, speziell auf Farbstoffe, ist bis jetzt nicht viel bekannt,
und es hätte seine Bedenken, wenn man aus dem Verhal-
ten der toten Materie einen Schluss auf den Vorgang
in der lebenden Pflanze ziehen wollte.
Die bisher vorliegenden Thatsachen aber stehen
mit unsrer Auffassung in gutem Einklang. So ist
Chlorwasser im Dunkeln haltbar, am Sonnenlicht wird
Sauerstoff entwickelt, und das Chlor verbindet sich mit
dem Wasserstoff zu Salzsäure. Organische Farbstoffe
werden teilweise reduziert, und es lassen sich in vielen
Fällen die Leukokörper unter dem Umwandluhgspro-
dukte nachweisen. So bildet Chinon, in wässeriger Lö-
sung dem Sonnenlicht ausgesetzt, stets Hydrochinon. Die
Reaktion wird hier aber dadurch kompliziert, dass der
abgeschiedene Sauerstoff, welcher stark aktiviert ist, sei-
nen oxydierenden Einfluss auf einen Teil der Substanz
ausübt und dadurch tiefer greifende Zersetzung eintritt.
Wie Ciamician gezeigt hat, lindet beim Belichten orga-
nischer Körper in alkoholischer Lösung eine Reduktion
derselben statt, während gleichzeitig der Alkohol zu
Aldehyd oxydiert wird.
Ich will hier nur noch an die photographische Re-
duktion des Ferrioxalats und an das Bleichen einer al-
koholischen Eisenchloridlösung am Sonnenlicht erinnern !
Ich nehme es als selbstverständlich an, dass die
Herren Botaniker zu meiner Hypothese die Köpfe be-
denklich schütteln werden und bin darauf gefasst, dass
man mir eine Anzahl von mehr oder weniger richtigen
Beobachtungen zitiert, die ich bis dahin übersehen hatte,
und welche mit der Theorie nicht in Einklang stehen!
Ich bin jedoch der Ansicht, dass die Wissenschaft als
— 308 —
solche durch derartige Übergriffe nur gefördert werden
kann und es im Interesse der Chemie nur zu wünschen
wäre, dass sie ihrerseits öfters damit behelligt würde.
Die langen Namen und Formeln, welche in der orga-
nischen Chemie üblich sind, scheinen besonders geeig-
net, unberufene Eindringlinge fern zu halten, und doch
wäre der Fachchemiker jedem dankbar, dem es gelänge,
diese Formeln entbehrlich zu machen und eine kürzere
und geschmackvollere Nomenklatur zu schaffen. Da
sich die organische Chemie bis jetzt nur mit relativ sehr
einfachen Verbindungen beschäftigt, während gerade die im
Haushalte der Natur so wichtigen Eiweissstoffe wegen ihrer
komplizierten Beschaffenheit eine terra incognita sind,
so ist begründete Aussicht vorhanden, dass Formeln und
Nomenklatur im Lauf der Zeit eher komplizierter, als
einfacher werden müssen.
Die organischen Chemiker haben sich bemüht die
natürlichen Farbstoffe zu untersuchen und dieselben,
sowie neue, synthetisch darzustellen. Sie haben den Zu-
sammenhang zwischen Färbung und chemischer Konsti-
tution zu ermitteln gesucht und sind dabei so weit gekom-
men, dass man bei einer Synthese die Nuance des
darzustellenden Farbstoffs mit ziemlicher Sicherheit vor-
aussagen kann.
Auch im übrigen gehören gegenwärtig die organi-
schen Farbstoffe zu den am besten studierten organi-
schen Verbindungen, damit ist aber die Aufgabe der
Chemiker beendigt. Die eigentliche Ursache der Fär-
bung ist immer noch ein ungelöstes Rätsel und die
Lösung desselben muss dem Physiker, beziehungsweise
einer physikalischen Chemie der Zukunft, vorbehalten
bleiben.
Zur Gammafunktion.
Von
H. Kinkelin.
Den Hauptgegenstand der vorliegenden Abhandlung
bildet die Ableitung der Eigenschaften der Gamma-
funktion aus dem für alle reellen und komplexen Werte
ihres Argumentes geltenden Gauss'schen Ausdruck dieser
Funktion auf direktem Wege und ohne Zuziehung anderer
Hilfsmittel.
Angeschlossen sind von der herkömmlichen Weise
abweichende Bestimmungen zweier bekannten Integrale.
I. Die Grundgleichungen.
Als Definition der Gammafunktion gilt der Aus-
druck
r, lim. k *k!
k = oo x(x + l)(x + 2)...-(x+k-l)
Wird k ein für allemal als unendlich wachsende
Zahl gedacht, so kann für die Folge die Bezeichnung
lim. in der Regel weggelassen werden.
Die erste Grundgleichung
/T(x~f-i) x-rx (2)
ergibt sich sofort, wenn man beachtet, dass k : (x + k)
die Einheit zur Grenze hat.
— 310 -
Die zweite Grundgleichung
beweist sich durch Auflösung von Sin ttx in Faktoren.
Man bestimme zunächst die Wurzeln der Gleichung
Sin z = o,
die mit
7.1 - zi
e - e =o
gleichbedeutend ist. Es sei z = a + bi. wobei a und b
als reell gedacht sind, so geht dieselbe über in
- 1, b
e (Cos a -f i Sin a) - e (Cos a - i Sin a) = o
und teilt sich in die zwei Gleichungen
/ -b h\
Cos a \e - e / = o ,
/ - b h\
Sin a \e +e / - o .
Da der zweite Faktor in der zweiten Gleichung
für reelle b nicht null sein kann, so muss
Sin a = o .
woraus die Werte a = o, + rc, ± 2/r, • • • + k?r folgen. Für
diese wird aber in der ersten Gleichung der erste Faktor
Cos a nicht null, daher muss
-b b
e -e =o,
was nur für b = o stattfindet. Die Gleichung Sin z -= o
liefert somit nur die Wurzeln z = o, + rr, + 2.t, ■ • • + k.T,
und die Gleichung
Sin ttx o
die Wurzeln x = o, + 1, + 2, • • • + k, so dass Sin 7tx ausser
den Faktoren x, x + 1, x + 2. ---x + k keine andern von
— 311 —
x abhängigen Faktoren besitzt. Demnach ist, unter A
eine Konstante verstanden,
Sin .7\ A • x (x + ] ) (x J 2) • • • (x -|- k)
(1 -x) (2 -x) ...(k-x)
, Sin 7ix ,
oder- = A(x+l)(x + 2)- • -(x + k)
(l-x)(2-x)...(k-x).
Lässt man x gegen null konvergieren, so kommt
n A-k!k!,
so dass nun
Sin ffx
— — = x (x + 1) (x + 2) • • • (x + k)
(l-x)(2-x)..-(k-x):k!k!
Andrerseits gibt die Definition von _Tx:
- 1
k k ' k '
rx.r(i-x)
x(x + l)(x + 2)---(x + k-l)
(i-x)(2-x).-.(k-x)
oder, wenn man Zähler und Nenner mit x + k multipli-
ziert und im Zähler für (x 4- k) : k die Einheit setzt :
k' k'
/'x./'(l-x)
x (x + 1) (x + 2) ■ • • (x + k)
(t - x) (2 - x) • ■ • (k - x)
woraus sofort die Richtigkeit der zweiten Grundgleichung
erhellt. Dass diese auch für komplexe Werte von x
Geltung hat, geht aus ihrer Herleitung ohne weiteres
hervor.
II. Das Multiplikationstheoren».
Setzt man in der Definitionsgleichung
X - 1
k k!
/ x
x (x + 1) (x + 2) • • • (x + k - 1)
312
der Reihe nach für x die Werte
nx 1 ux + 1 n-lnx + n-1
x — , x + — '=-— — , •••x-l-
und multipliziert die Ergebnisse mit einander, so kommt
nx - .', u - ! n n k
^x.r(x + l)...r(x + ^V (k!)D
n qx (nx +!)••• (nx + nk - 1)
Andrerseits ist, wenn nk für k gesetzt wird, was
gestattet ist,
nx - l nx - l
_,- ' k d (nk)!
I (nx) -
nx (nx + 1) • • ■ (nx + nk - 1)
Aus der Vergleichung beider Ausdrücke folgt
/'X.r(x+l)...r(x + 1izi) y -]n nk+1 n
n ' N n k n (k!)
/ (nx) • n
Da die linke Seite dieser Gleichung k nicht ent-
hält, so muss auch die rechte Seite eine von k unab-
hängige Funktion von n sein, die mit <f (n) bezeichnet
werde, so dass
I - i n nk + 1 n
k" n (k!)
<p(p) = - — ■
(nk)!
dann ist
rx r(x + —)••• r(x + — ) = r(nx) n " UX<f (n),
n n
und es bleibt die Aufgabe, den Wert von <f (n) zu be-
stimmen.
Setzt man hier - x für x, so kommt, unter An-
wendung der aus der ersten Grundgleichung folgenden
Beziehung
-z- /•( -z) r(i-z),
— 313 —
auf r (- x) und r (- nx) und nach Umkehrung der Fak-
torenfolge vom zweiten Faktor an :
T(l-x) r(l-x--)...7Ttl-x-5^1) = ^(l-nx)nnX"1çJ(n) .
Unter Anwendung der Beziehung
rz.r(i-z) = 5A-
Sm 7iz
ergibt die Multiplikation der letzten Gleichung mit der
vorhergehenden :
Sin ,tx • Sin n (x H ) • • • Sin n (x H ) = Sin nnx • n ~ ncp (n)~ '
woraus für ein gegen null konvergierendes x:
a. n _. 2.t (u-I).t n-i 2 -2
Sin Sm --Sm- — -n nœ(n)
n n n T v
Der Wert dieses Produktes wird aber bekanntlich
gefunden, indem man x n- 1 in seine reellen Faktoren
von der Form x"'-2xCos— + 1 zerlegt, sodann x=l
und = — 1 setzt, die beiden Ergebnisse mit einander
multipliziert und aus dem Produkt die Quadratwurzel
zieht, welche positiv sein muss. Man erhält
Sin Sin Sin — = n ■ 2
n n n
so dass nun aus der Vergleichung der beiden Werte
des Produktes folgt:
'. \ n - ',
9(n) = n"(27r)_
wodurch endlich als Multiplikationstheorem sich heraus-
stellt :
rx . r(% + l) . . • r(x + — ) = r(nx)J ~ dx(2.t) ' n " k (4)
— 314
Bemerkung. Die Einführung des gefundenen Wertes
von cp (n) in die Definitionsgleichung dieser Funktion
gibt noch zu einer weitern Bestimmung Anlass. Es
wird nämlich
(nk)! = k~ " n ?(2») (k!)
für ein unendlich wachsendes k. Diese Eigenschaft der
Funktion k! kann zur Aufstellung eines Grenzausdruckes
für sie selbst benützt werden.
Es sei allgemein f (m) eine Funktion, die der
Eigenschaft
|-|n nm + ] \ - ■§- n u
f'(nm)=m ' n "(2^)" f(m)
genügt, so wird f(m) bei unendlich wachsendem m = k
mit k! übereinstimmen. Aus dieser Gleichung folgt nun
für m = 1 :
n + i 1 - \ n n
f(n) = n -(2^)" ' f(l) ,
daher ist auch
m + A \- - i m in
f(m)-m -(Ott)- f(l)
Da beim Übergang von m in k die Funktion f (m)
in k! übergeht, so hat auch k! diese Form, nämlich
k + > > - ', k k
k! = k (2tc)' -A ,
wo nun noch die Konstante A zu bestimmen übrig bleibt.
Man setze kl 1 für k:
k + 1 -|- 1 -4k k + 1
(k + l)! = (k+l) '(2*) " A
und dividiere diese Gleichung durch die vorige, so wird
1
i k-i-i
(2*)2
315 —
und beim Übergang zur Grenze k = ~>c :
A = i-.(2*)*,
wodurch endlich
k!=kVe~ IM; (5)
die bekannte Laplace'sche Grenzbestimmung sich ergibt.
III. Die periodische Reihe.
Innerhalb der Grenzen x = o und 1, diese selbst
im allgemeinen ausgeschlossen, gilt für jede zwischen
diesen Grenzen stetige Funktion f(x) die Gleichung
f (x) = Ao + 21 (2 An Cos 2mrx + 2 Bn Sin 2mrx) ,
wobei die Summe von n = 1 bis c>c zu nehmen ist, und
l
A0= ! f(x).dx,
o
i i
A„ = I f (x) Cos 2n/rx • dx , B„ = I f (x) Sin 2d.tx • dx .
0 0
Die Funktion log Tx genügt der Bedingung der
Stetigkeit und kann daher in eine Reihe von der an-
gegebenen Form entwickelt werden. Sie ist definiert
durch den Ausdruck
k-i
log r x = log k ! - log k + x log k - y log (x + r) .
r = o
Bei der Ausführung der Integrale setze man iu den
Summengliedern am Ende dieses Ausdruckes x + r in y
um, wodurch die Integrationsgrenzen o und 1 bezw. in
r und r + 1 verwandelt werden und die Summe der
— 316 —
Integrale in ein einziges Integral zwischen den Grenzen
o und k zusammengezogen werden kann. Man erhält so
l
/' k
Ao = I logr-x-dx = logk! -logk + J logk-[y logy-y]
J ,J
O =logk!- Jrlogk-klogk + k
Da aber vorhin in Gleichung (5)
log k ! = k log k - k + i- log k + -\ log 2.t
gefunden wurde, so wird einfach
Ao = | log 2n . (a)
Ferner wird, unter Anwendung partialer Integration
leicht erhalten:
i k
An = ! log 7Tx • Cos 2njix • dx = - I log y • Cos 2nrcy • dy
o o
k K
1 / Sm 2njiy , 1 / hm v ,
= -— lày = - — \ —dw
2n.r J y 2ri7i J v
wo zur Abkürzung 2n^tk = K gesetzt ist.
Um den Wert dieses Integrals zu finden, lasse man
in dem geschlossenen Integral
JL
- z
e -I
dz u
die komplexe Veränderliche z den Umfang des ersten
Quadranten im Kreise vom Radius K um den Koordi-
natenanfang als Mittelpunkt durchlaufen, wodurch sich
für ein unendlich wachsendes K durch Trennung des
reellen vom imaginären Teile sofort die Bestimmungen
ergeben :
— 317
K
Sin v , n
v 2.
0
K K
und I dw= i du,
o o
deren erste für A„ den Wert liefert:
A -1
An — -, —
4n
0-
Endlich
erhält man auf gleiche Weise
1
Bn
= 1 log^Tx
• Sin 2n;rx ■
dx
»
0
log k
k
1 f1
- Cos 2ii7ry
y
dy
2n^ '
2X171 J
0
K
logk
: fi-
- Cos w ,
av
2n^ 2n7r F v
c
O
oder zufolge der zweiten der obigen Integralbestimmungen
K
B„=-!§Li+ 1 /W^d..
2n?r 2n/r /
O
Der Wert dieses Integrals berechnet sich wie folgt.
Zunächst kann die obere Grenze K == 2n7rk durch die
zunächst grössere ganze Zahl y. = K + & ersetzt werden,
indem der hinzugefügte Teil zwischen den Grenzen
— 318
K und x bei wachsendem k die Null zur Grenze hat.
Sodann kann für e der Grenzausdruck
- V V in
e =lim. (1 )
gesetzt werden, wobei für m eine beliebige unendlich
wachsende Zahl genommen werden darf. Nimmt man
der Einfachheit wegen m - x an, so geht das Integral
über in
X 1
J
v / 1 — 11
du
1 -u
o o
und wird nach Auflösung des Bruches gleich
1
■/.
dessen Wert durch Differenziation von log T x und die
Annahme x = 1 gleich
log x + C
erhalten wird, wo C = - T' 1 : T\ die Mascheronische
Konstante 0,577 •• • bedeutet. Es ist aber
log x = log (K + d) = log K + log (1 + ^)
und geht bei unendlich wachsendem k in log 2n?rk über,
so dass nun
K
»
j 1~e~v du = log K -!- C = log 2n;rk + C
J °
o
wird, wodurch sich für Bn der AVert ergibt:
Bn = ^ log 2n,T + — - . (c)
2n.T 2n.T
— 319 —
Die in den Gleichungen (a), (b), (c) gefundenen
Werte von A0, A„, Bn geben schliesslich die Bestimmung
Cos 2n?rx C 4- log In _, Sin 2n7rx
log r x = ' log 2.T -(- . 2' + — - — - — 1 — —
b - - — n -T n
1 v logn Siu 2q^x (o < x < 1} ^ (6)
^ — n
die Summen von n = 1 bis oo genommen.
Aus dieser Gleichung lässt sich das Multiplikations-
theorem ebenfalls leicht ableiten, wie schon Kummer
bemerkt hat (Grelle J., Bd. 35).
IV. Die Potenzreihen.
Setzt man zur Abkürzung
log7T(l+x) = »,
so folgt aus der Definitionsgleichung
kx-k!
/(1 + x)-(x-!-l)(x + 2)--(x + k)-
ü = x log k + k! - log (x + 1) - log (x + 2) log (x + k)
und die Ableitungen
1 1 1
v' - losr k -
x + 1 x + 2 x + k
1 s+^+^
(x + l)2 ' (x + 2)2 ' (x+-3)2
V(x + 1)3 ' |x !- 2)» ^ (x + 3):! T /
(n) n , / 1 1 1
t/' = (-l n!(- - + - + - — -+■
\ n n n
\(x + 1 ) (x -I- 2) (x + 3)
Man erkennt, dass zwischen den Grenzen o und 1
für |x| weder v noch dessen Ableitungen unstetig sind, so
dass v sich zwischen diesen Grenzen nach dem Maclau-
— 320 —
rinschen Satz in eine nach Potenzen von x fort-
schreitende konvergente Reihe entwickeln lässt. Für
x = o wird
v = o, v - - C, v" = s„, v" — - 2! s9 , • • •
o ' o o 2' o 8
(n
(
worin allgemein
(-D (n-l)!.n,
1 1 1
n ^ 2n 3n 4n
so dass nun
log r (1 + x) = - Cx + \ s2 x2 - l s3 X3 + • ■ • 1 (- if SQ xU + • • ■ I 7)
Mit dieser Formel, zweckmässig umgeformt, hat
Legendre seine Tafel der Logarithmen der Gamma-
funktion berechnet.
Eine andere zur Berechnung von log T x bequeme
Formel erhält man durch Verwendung der allgemeinen
Gleichung
x + k
fx + f (x + 1) + ■ • • f (x + k) = I fz • dz + \ (fx + f (x + k))
%J
X
-|f(f'x-f'(x + k)) + |l(f-x-f-(x + k))-... _
wo die B2, B4, • • • die Bernoullischen Zahlen bedeuten.
Für fz = log z ergibt sich hieraus bei unendlich wach-
sendem k:
logx(x+l)(x-|-2)--(x + k) = (x-!-k)lüg(x + k)-k-xlogx + |logx
' ' B» 1 Bj 1 JBe 1
+ Mog(x + k)- — _ + __-_ -+...
Demnach geht die Gleichung
log /'x = (x - 1) log k + log k ! - log x (x + 1 ) • • • (x + k) + log (x + k)
— 321
unter Berücksichtigung der Bestimmungen
log k ! = k log k - k - -i- log k + \ log 2ti ,
lim. log (x + k) = log k
lim. k log (x + k) = k log k + k log M + -^ j = k log k + x
über in
log fx- .V log 2ji - x + (x - \) log x
1 • 2 x 3-4x3 + 5-6x
i=i+r-=5n— <8>
wo beim Abbrechen der Reihe der Best jeweilen kleiner
ist als das zuletzt berechnete Glied.
Die Gammafunktion selbst und ihr reziproker Wert
lassen sich ebenfalls in Potenzreihen auflösen. Denn
ebenso wie log r (1 + x) = v und seine Ableitungen, so
sind auch r (1 + x) = u und seine Ableitungen zwischen
den Grenzen o und 1 für |x| stetig.
Aus v' = —
u
folgt u' = uv' ,
u" = uv" + u' v'
u"' = uw"' + 2u' v" -\- u" v'
(u) (n) , /n-l\ , (v-1) /n-l\ „ (d-->)
u = ui; +^ 1 Ju'i) +( 2 )U V +'"
. /n-l\ fn-1) ,
••■ + U ljU
und hieraus für x = o, da u = 1 :
o
uö = VuoC
u- = s-2!s3-2u;sa-u;'C
21
— 322 —
(n) ii n - 1 /n _ i \
a^J=(-l) (n-l)!.n+(-l) (n11)(n-2)!u;8n_1
+ (-1) ( 2 )i*-W\*n-2 + ---(n.-l)% °'
daher die Koeffizienten der Potenzen von x in der
Reihenentwicklung :
2Tuo=if82-uoC)
1 ,„ , , , 1 ,.n
7TT U = - -.V (S -U S.+-7II U
3! 0 j v 3 o 2 ' 2! 0
— ; U = (- 1) 1 S - U S , +—P U S , + — -; U L I.
n! o v ' n^n on-i'2! on-i — (n-1)! 0 J
Schreibt man der Analogie wegen st für C und setzt
r ( 1 + x) = 1 - &1 x + a2 x2 - a3 x3 + . . . (_ 1 )" aQ x" + • • ■
so gibt dies die Rekursionsgleichungen:
l2 = i(S2 + Vl)
i8=i(83 + ai82 + a28l)
1
a =
= — /s + a s , + a„ s . + ■ • • a s \
n n In1 in-1 2 n-2 ' n-i îj
Eine für die Ausrechnung geeignetere Formel er-
hält man durch Subtraktion der vorigen von
1 n n
1_X + X2_X3+...(_1) x _|_...
1+x
Setzt man abkürzend b = 1 — a , so kommt
n n'
fT(l + x) = r^i + b1X-b2X2 + b3X3_...(_])n-1biiXn+...(9)
— 323 —
wo die Koeffizienten folgende Zahlenwerte haben:
bj = 0,4227 8434 b8 = 0,0018 9431
b2 = 0,0109 4400 b9 ^0,0009 7474
b3 = 0,0925 2093 b, 0 = 0,0004 8435
b4 = 0,0182 7192 bn = 0,0002 4341
b5 = 0,0180 0494 b12 = 0,0001 2173
b6 = 0,0068 5089 bt 3 = 0,0000 6094
b7 = 0,0039 9824 bt 4 = 0,0000 3048 .
Von hier an ist jeder folgende Koeffizient die Hälfte
des vorhergehenden.
Setzt man endlich
1
w-.T(t + x)'
so folgt
log w = - log r (l + x) = - v ,
woraus durch Differentiation
w' = - w v'
\v" = - wi>" - \\' v'
W'" = - W!)"' - 2\v' v" - w" v'
In den vorhin aufgestellten Gleichungen für die
Ableitungen von u hat man somit nur den Buchstaben
u durch w zu ersetzen und auf der rechten Seite das
Vorzeichen zu ändern. Man erhält so die Reihe
__L:_=l + C1X+C2x2 + C3xB + ...CnXI1 + ... (10)
und für die Koeffizienten c die Rekursionen«:
-*(■•- Vi)
HS3~V2 + Vl)
n - l 1 / n - 1 \
3 =(-1) — I 9 - C. S . + C S „-•••(-1) C , S 1,
n n\Q in-ian-2 n - l iy '
— 324 —
welche folgende Zahlenwerte ergeben:
Ci= 0,57721566 c9 =-0,00021524
es =- 0,6558 7807 c10 = 0,00012805
c3 = - 0,0420 0268 c^ = - 0,0000 2014
c4 = 0,1665 386 L l-12 = - 0,0000 0125
c5 = - 0,0421 9773 c13 = 0,0000 0113
c6 = - 0,0096 2197 cl4 = - 0,0000 0021
c7= 0,0072 1894 c15 = 0,0000 0001
c8 = - 0,0011 6517
Mit x multipliziert, gibt die Reihe den Wert von — •
Für Werte von x, deren Modul ^ \, nehmen die
Glieder der beiden Reihen (9) und (10) rasch ab, so dass
sich die Berechnung der Gammafunktion sowie die
ihres reziproken Wertes auf das einfachste gestaltet.
Man kann aber jede Gammafunktion auf solche zurück-
führen, in denen x diese Bedingung erfüllt, Ist x reell,
so genügt hiezu die Verwendung der Grundgleichungen
(1) und (2). Ist x komplex = a + ß\, so verwende man
zunächst für die Reduktion des imaginären Teils das
Multiplikationstheorem (3), indem man für n eine ganze
Zahl > 2 \ß\ wählt, und reduziere sodann in den als
Faktoren auftretenden Funktionen noch den reellen
Teil des Argumentes mittelst der Grundgleichungen
(1) und (2).
Das Integral | » <™
J l + v
Für reelle positive Werte von x < 1 beweist man
gewöhnlich die Grundgleichung (3) vermittelst des Euler-
schen Integrals der ersten Art
325 —
abgeleitet wird. Dieses kann ohne Integrationsverrich-
tung gefunden werden. Für ein geschlossenes Integral
mit komplexer Veränderlichen gilt die Bestimmung
Az , f«
I — dz = 2/n • hm.
falls für nur einen Wert a von z innerhalb des von z
umlaufenen Gebietes tpz = o wird. Daher ist
» 2m - i
z dz „ .
2n
*- 1 + z
Lässt man z den Umfang eines Kreissektors durch-
laufen vom Radius k und dem Zentriwinkel - im Koor-
dinatenanfang, von welchem der eine Schenkel in die
Abszissenaxe fällt, so liegt innerhalb des Sektors der
Punkt
ja
z c a ,
in dem 1 | z = o ist. Der Wert des Integrals ist da-
her gleich
. — (an-rn) . ^ - ni 5f
711 . -n n\ n m n
V = — e = e
11 n n
— 326 —
Das Integral selbst teilt sich in drei Teile, in denen
beziehungsweise
z = v, dz = di>, v von o bis k ,
z - ke , dz = kie dq>, (p von o bis — ,
in in
z~ve , dz = e dv, v von k bis o .
Der erste Teil wird = J, der zweite = o für m < n,
2111771
der dritte = Je , so dass nun
J-Je
n
ni
= e
n
n
?
woraus
mni
J = ^.
n
e
ni
1
n
e
>.mni
n
mm
mm
n -1
n
oder endlich
k
r
2in - l
dz
L'll
1 -4-z
n
»
„ ~. mn
2n Sin
2n
Die Substitution von z = v gibt bei Ersetzung
2a
von k durch k,
i- m
r* n
l v dv
j "TT"«--,
Q. mar
Sm
n
oder, wenn — = x gesetzt wird,
k
» x - 1
dv
I
| 1 -|- V Sil! 7TX
(1
327 —
übei
VI. Das Integral I e ùv.
o
Durch Umsetzung vou v- in u geht dieses Integral
3
, / -u -i
•_> | e u du
«7
0
und wird als besonderer Fall von
-u x - 1
i | e u du = | /' x
O
für x = \ erkannt, so dass sein Wert = \ '\Jn, wie sich
sowohl aus der zweiten Grundgleichung (3) für x = l, als
aus dem Multiplikationstheorem (4) für x = 1 und n = 2
ergibt.
Der Wert des Integrals kann direkt gefunden werden,
wie folgt. Durch partielle Integration kommt
i i
/,„ „ m 2m / * m-i
J(1-U2) dn=to+ïJ (1""^ d"
o o
Nimmt man einmal m = k, das andere Mal m == k - 1
an, so erhält man bei wiederholter Anwendung dieser
Formel
k 2-4-6 ■■•(2k)
(1 - u-) du =
J
t
J y± 3 -5- 7- --(2k-M) '
0
1
;. .,k-> 1-3-5- •• (2k -1) ;r
1-u-) du = - — ^ L. _
; 2 ■ 4 ■ 6 • ■ ■ (2k) 2
— 328 —
Die Umsetzung u2 - -r- ergibt
1* /« <,2\k , 2-4-6- •• (2k)
J 0-k) d^3.5-7-.(2kiTl)'^
o
/k
T /i ^Y*^ l-3-5-(2k-l) .r
o
woraus das Produkt
V k 1 k
O 0
Mit unendlich wachsendem k nähern sich die
Potenzen in beiden Integralen dem gemeinsamen Grenz-
wert e~ , so dass schliesslich nach Ausziehung der
Quadratwurzel folgt :
oc
- v- yn
j
0
Der Quotient der beiden Integrale aber gibt
n _22-4-4-6-6-- (2k) ■ (2k)
2 " 1 ■ 3 - 3 ■ 5 • 5 • 7 ■ • • (2k - 1) (2k + 1) '
Basel, 24. November 1902.
Einige Grundversuche über elektrische Schwingungen.
Von H. Veillon.
Nach den von den meisten heutigen Physikern ge-
teilten Anschauungen hat man die elektrischen Erschei-
nungen als Veränderungen aufzufassen, welche sich im
Dielektrikum abspielen. Die genialen Konzeptionen
Faraday's und Maxwell's im Verein mit den berühmten
Versuchen von Hertz haben diese , der klassischen
Elektricitätslehre so fremdartige, Vorstelluugswelt mit
einem Schlage eröffnet. Geleitet durch den Gedanken
an die wunderbare Präzision der mathematischen Optik,
welche in den Werken Fresnel's und seiner Nachfolger
eine erstaunliche Höhe erreichte, erkannte man bald in
der neuen Elektricitätstheorie den Keim einer sich eng
an die Lehre des Lichtes anschliessenden Behandlung
der elektrischen Phänomene. Mit Eifer wurde überall,
theoretisch sowohl als auch experimentell, in diesem Sinne
gearbeitet, und manche hervorragende Entdeckung oder
Erfindung würde ohne diesen Anstoss der Menschheit
noch vorbehalten geblieben sein. Mit immer steigender
Zuversicht suchte man nach Analogien, ja selbst nach
einer Identität, zwischen den elektrischen und optischen
Erscheinungen, und viele mögen die Partie heute schon
als gewonnen betrachten.
Wie dem nun auch sei, so ist gewiss, dass alle Be-
strebungen, die Optik und die Elektricitätslehre von
einem gemeinsamen, der erstem dieser Wissenschaften
330
entlehnten Standpunkte aus zu behandeln, so neu sind,
dass es nicht als Anmassung hochverdienten Forschern
gegenüber erscheinen kann, wenn bereits bekannte Ex-
perimente immer wieder aufs neue angestellt werden,
unbekümmert jeder vorgefassten Meinung und jedes früher
gewonnenen Resultates.
In diesem Sinne möchten wir die wenigen folgenden
Experimente aufgefasst wissen, welche, obwohl von andern
bereits angestellt, doch noch nicht als ganz geklärt zu
betrachten sind und welche wegen ihrer prinzipiellen
Bedeutung für die Theorie immer noch der Aufmerksam-
keit wert sind.
Transversalität der elektrischen Schwingungen.
Bei den experimentellen Untersuchungen über die
genannten Analogien war eine der wichtigsten Fragen
diejenige nach der Natur der Schwingungen. In der
Theorie gelangt man auf Grund der Maxwell'schen
Gleichungssysteme, indem man den Erreger elektrischer
Wellen weit weg annimmt und die Wirkung auf einem
sehr kleinen Teil der Wellenfläche betrachtet, zu den
sogenannten Strahlgleichungen. Aus diesen folgert man
dann wieder, dass die in der Strahlrichtung selbst liegen-
den Komponenten verschwinden, und dass nur die senk-
recht zu ihr gerichteten Komponenten für die Schwingung
in Betracht kommen. Mit andern Worten, es wird für
die elektromagnetische Strahlung die Transversalität der
Schwingungen gefolgert, wie für das Licht. Dieses höchst
wichtige Ergebnis der Theorie prüfte und bestätigte Hertz
mit Hilfe seines kreisförmigen Resonators. Seit diesen
denkwürdigen Arbeiten sind nun eine ganze Anzahl
anderer wertvoller Hilfsmittel zur experimentellen Er-
forschung des elektromagnetischen Feldes dem Resonator
3;n
an die Seite getreten. Das Instrumentarium des Phy-
sikers ist dadurch erheblich bereichert worden, und in
einer für den ersten internationalen Physikerkohgress zu
Paris von Righi verfassten sehr interessanten Abhandlung
werden nicht weniger als einundzwanzig verschiedene
diesbezügliche Methoden aufgezählt1). Viele derselben
sind bloss auf die Demonstration oder Konstatation
elektrischer Schwingungen abgerichtet, während andere
möglichst genaue Bestimmung der quantitativen Ver-
hältnisse in den einzelnen Punkten des Feldes erstreben.
Von vornherein verdienen diejenigen Instrumente, welche
dieser zweiten Forderung genügen, unbedingt den ersten
Platz, allein sie leiden nur zu oft an dem Nachteil einer
schwierigen und umständlichen Manipulation, die schwer
von störenden Einflüssen zu befreien ist. Man wird daher
trachten, wenn es sich um Messungen handelt, eine solche
Methode zu wählen, welche auch in ihrer Handhabung
nicht allzuviel Schwierigkeiten verursacht, und wird suchen,
dieselbe in möglichst einfacher Weise den Anforderungen
an eine brauchbare Messmethode anzupassen. Dasjenige
Instrument, welches sich hiezu wohl eignet, ist der Ko-
härer. In erster Linie ist derselbe allerdings bloss zum
qualitativen Nachweis von Schwingungen geeignet, und
bei den meisten Arbeiten, in welchen er als Reagens
benützt wurde, hat er nur diese Bedeutung. Seine be-
kannte grosse Launenhaftigkeit scheint ihn als Organ
einer Messvorrichtung auszuschliessen. Allein, wenn man
sich lange mit der Handhabung dieses Instrumentes ab-
gibt, so findet man, dass bei Beobachtung gewisser Vor-
sichtsmassregeln die Inkonstanz im Reagieren zwar nicht
aufgehoben, aber doch auf ein verhältnismässig kleines
Mass reduziert werden kann. So wird dann der Kohärer
') A. Righi. Les ondes hertziennes. Congrès international de
physique, rapports t. II p. 301.
— 332 —
ein für Messungen brauchbares Mittel, das für erste An-
näherungen recht gute Dienste leisten kann. Die folgen-
den Versuche, welche eine Prüfung der Transversalität
der elektrischen Schwingungen bezwecken, sind mit diesem
Hilfsmittel angestellt worden.
Als gut geeignet erwies sich ein Kohärer, bestehend
aus einem 7 cm langen, etwa 1 cm weiten Glasrohr, durch
Korke verschlossen und mit einem Gemisch von nicht
zu feinen Kupferdrehspähnen gefüllt, denen ein wenig
Nickelfeilicht beigemengt war. Durch die Korke ragten
ins Innere zwei gerade Kupferdrähte von 3 mm Dicke,
so weit eingesteckt, dass die einander zugekehrten Enden
1 bis 2 cm von einander abstanden. Die äussern Enden
waren so ca. 40 cm von einander entfernt. Über dem
ganzen Glasrohr war als metallische Hülle ein 7 cm
langes dickwandiges Messingrohr geschoben, welches das
Glasrohr dicht umschloss. Die beiden Elektroden des
Kohärers trugen je ein Quecksilbernäpfchen, um die
Einschaltung des Kohärers in einen geeigneten Strom-
kreis ohne Erschütterung nach stattgehabter Einwirkung
bewerkstelligen zu können. Dieser Stromkreis war der
Nebenschluss eines auf einem Widerstand von 100 Ohm
geschlossenen Trockenelementes, und enthielt ausser dem
Kohärer noch eine Galvanometerrolle. Die durch diese
Schaltung den Kohärerelektroden applizierte elektromoto-
rische Kraft betrug 0,1 Volt. Die Entfernung der Galvano-
meterrolle von der beweglichen Nadel war so herauspro-
biert, dass, wenn der Kohärerwiderstand auf Null sinken
würde, genau der letzte Teilstrich der Skala im Fernrohr
erscheinen sollte. Durch Vorversuche mit einem Rheostaten
war eine Skala hergestellt worden, welche die jeweiligen
Kohärerwiderstände direkt abzulesen gestattete.
Um nun den Kohärer für die Messungen geeignet
zu machen, musste, wie viele vorhergegangene Versuche
es hatten erkennen lassen, sein normaler Widerstand so
333
sein, dass er bei der stärksten Einwirkung des Oscilla-
tors, die benützt wurde, nicht tiefer als etwa 40 Ohm
sank, aber auch nicht höher blieb als ca. 70 Ohm.
Durch Regulierung der Distanz der einander zugekehrten
Elektrodenenden im Kohärer, sowie der Masse der ein-
gefüllten Metallspäne war dies leicht zu erreichen. Nach
so regulierter Empfindlichkeit zeigten die einzelnen Ver-
suche, bei anscheinend gleichen Versuchsbedingungen,
immer noch unter sich Abweichungen, die nicht mehr
zu vermeiden waren, aber dieselben waren doch so be-
deutend reduziert, dass bei sehr zahlreich wiederholten
Beobachtungen vollkommen brauchbare und sichere Mittel-
werte zu bekommen waren.
Als Oscillator dienten zwei Messingstangen von je
40 cm Länge und 1 cm Durchmesser, in gerader Linie
angeordnet. Die einander zugekehrten Enden trugen
Kugeln von Messing, 2 cm Durchmesser, die mit Kappen
aus Platin versehen waren. Dicht hinter den Kugeln
waren Drähte angesetzt, welche zu einem Induktorium
führten. Als solches wurde ein gewöhnliches Carpen-
tier'sches (grosses Modell) oder ein Klingelfuss'sches mit
geschlossenem Eisenkern verwendet. An dieser Stelle
möchten wir nicht versäumen, Herrn Ingenieur Klingel-
fuss für die freundliche Überlassung eines seiner durch
so grossen Nutzeffekt ausgezeichneten Instrumente unsern
besten Dank auszusprechen.
Oscillator und Kohärer waren in einer Höhe von
1,5 m über dem Fussboden und in 4 m Entfernung von
einander aufgestellt. Die Einwirkung wird nun stark
abhängen von der Zahl der benützten Funken, resp.
von der Dauer des Funkenspieles. Deshalb wurden ver-
schiedene Versuchsreihen vorgenommen. Zuerst wurden
nur drei Funken hintereinander erzeugt, indem der pri-
märe Stromkreis des Induktoriums durch eine geeignete
— 334
Vorrichtung dreimal hintereinander gleichmässig ge-
schlossen und geöffnet wurde. Die durch diese drei
Funken erzeugte Wirkung wurde dann beobachtet. Her-
nach wurde eine zweite Versuchsreihe unternommen, bei
welcher aber das Induktorium mit einem Desprez ver-
sehen war und jeweilen dreimal hintereinander ein Fun-
kenspiel von zirka einer halben Sekunde ausgelöst wurde.
Beide Arten zu „geben" führten zu qualitativ verschie-
denen Resultaten, aber der Charakter der Erscheinung
blieb durchaus derselbe.
Die Aufgabe bestand nun darin, die Grösse der
Einwirkung zu messen bei allen möglichen relativen
Stellungen, welche Oscillator und Kohärer gegen einander
einnehmen können.
Figur 1.
In Figur 1 sei A die Mitte des Oscillators, B die-
jenige des Kohärers. Die Richtung des erstem bilde
mit der Grundlinie den Winkel 0i, diejenige des letztern
den Winkel 02. Ferner sei e der Neigungswinkel der
beiden Ebenen, welche die Grundlinie AB einerseits
mit der Oscillatoraxe, andererseits mit der Kohäreraxe
bestimmt. Alle möglichen gegenseitigen Lagen werden
erschöpft, wenn man e, 0i, &z von 0 bis 7t variieren lässt.
Wir haben uns beschränkt, diesen Winkeln die Werte
zu erteilen :
0° 45° 90° 135°
indem wir jeweilen um eine Viertelsdrehung fortge-
schritten sind. Der letzte Wert 180° war überflüssig,
— 335 —
da er wieder mit 0° zusammenfällt. Kombiniert man
alle diese vier Werte für die drei Winkel mit einander, so
erhält man 64 mögliche Zusammenstellungen. Da es
für uns nur auf gegenseitige Bichtungen ankommt, die
nicht mit einem bestimmten Bewegungssinn behaftet sind,
so reduzieren sich diese hier auf 20 wirklich geo-
metrisch verschiedene. Diese werden am besten dadurch
ermittelt, dass man sich die Figur 1 mit Hilfe eines aus
Stricknadeln und Korkstopfen hergestellten Modells räum-
lich versinnlicht. Man eliminiert dadurch die unnötigen
Stellungen sehr leicht und die übrig bleibenden sind die
in folgender Tabelle zusammengestellten und mit Buch-
staben bezeichneten:
e Gi
02
8
0i
(-h
0 0
0
A
45
45
45
L
45
B
90
M
90
C
135
N
45
0
D
90
45
O
45
90
E
F
90
P
90
45
45
Q
135
G
90
B
90
0
H
90
45
S
45
I
90
T
90
K
135
45
135
U
Eine bessere Übersicht über diese zu untersuchen-
den Stellungen erhalten wir durch die Zeichnungen in
Figur 2, in welchen immer links der Oscillator und
rechts der Kohärer zu denken ist. Wie man sieht, kann
der Versuch immer so disponiert werden, dass der Ko-
härer horizontal liegt, was für eine möglichste Konstanz
in den einzelnen Beobachtungen ein Haupterfordernis
ist. Vertikal gestellte Kohärer sind nämlich von so
33G
grosser Unzuverlässigkeit, dass von ihnen abgesehen
werden muss.
A B
I)
)r- ~* yr~^ ^-^r ^
H
i k l n
;-+"Kh^Nf ^b
N 0
U
^-^- &—^ ^r^t ^~k
K S
^r \
Figur 2.
337
Die ganze Versuchsreihe wurde öfters wiederholt,
indem bei jeder einzelnen Stellung dreissig Beobachtungen
gemacht wurden. Dem Charakter nach waren alle Re-
sultate gleich, und es möge hier eines unter ihnen an-
gegeben werden, wobei die Zahlen Ohm bedeuten:
A B C D E
CO CO 3C >C 190
F
G
H
I
K
71
139
sc
87
34
L
M
N
0
P
310
144
430
165
57
Q
R
S
T
U
OO CO >C CO' 250
Das Maximum der Wirkung findet also bei der
Stellung K statt, d. h. wenn Kohäreraxe und Oscillator-
axe zu einander parallel und senkrecht zur Grundlinie
stehen. In neun Stellungen blieb die Wirkung völlig
aus. Wenn Oscillator und Kohärer die Lagen haben
wie in K, so wollen wir sagen, sie befinden sich in ihren
Hauptlagen. Bilden wir nun bei allen zwanzig Stellungen
das Produkt der Cosinuse der Winkel, welche Oscillator
und Kohärer mit ihren respektiven Hauptlagen bilden,
so muss, wenn das Gesetz der Transversalität der Schwin-
gungen richtig ist, dieses Produkt jeweilen proportional
der stattfindenden Einwirkung sein. Da wir nun die
Einwirkung durch die Widerstandsverminderung im Ko-
härer messen, und über den funktionellen Zusammenhang
zwischen dieser Widerstandsverminderung und der Grösse
der Einwirkung bis jetzt nichts wissen, so müssen wir
uns damit begnügen, zu sehen, ob die beobachteten Wider-
stünde abnehmen, wenn die oben genannten Produkte
wachsen, und ob für diejenigen Stellungen, bei welchen
— 338 —
diese Produkte gleich sind, die Widerstände gleich sind.
Unter diesem Gesichtspunkt gruppiert, ergeben obige
Resultate folgende Tabelle:
Produkt der
Beobachtete
Stellung
Cosinuse
Widerstände
K
1
.'54 Ohm
F
71 Ohm
I
0,7
87 „
P
67 „
E
190 Ohm
G
0,5
139 „
M
144 „
0
165 „
L
310 Ohm
N
0,4
420 „
U
301 „
ABC
DHQ
0
alle >c
RST
Angesichts der Un Vollkommenheit, die dem Kohärer,
trotz aller Sorgfalt, anhaftet und seine Anwendung für
Messungen erschwert, dürfen diese Zahlen doch als in
gutem Einklang mit den Forderungen der Theorie und
speziell mit dem Cosinusgesetz stehend bezeichnet werden.
Man wird auch zugeben, dass diese Methode, trotz ver-
schiedener Einwendungen, die man gegen sie erheben
kann, Resultate liefert, die ebenso sicher sind als die,
welche man mit dem gewöhnlichen Resonator erhält, bei
welchem man durch Grösse und Zahl der ausgelösten Fünk-
chen die Kräfte im Felde bestimmt. Wir möchten da-
her obige Zahlen als einen neuen Beleg für die Trans-
versalität der elektromagnetischen Schwingungen hinstellen .
— 339 —
II.
Einfluss eines Drahtgitters auf elektrische Strahlen.
Ein für die Theorie ebenfalls sehr wichtiger Ver-
such, auf welchen die Methode des Kohärers auch wieder
mit Vorteil angewendet werden kann, ist der, bei welchem
ein Drahtgitter auf den Weg der Strahlen' eingeschaltet
wird. Diesbezügliche messende Versuche sind bereits
vor zwölf Jahren von Rubens und Ritter unter Ver-
wendung des Bolometerprinzips ausgeführt worden 1).
Wir haben dieselben mit dem Kohärer wiederholt und
in dem Sinne erweitert, dass wir die Gitterebene nicht
beständig senkrecht zur Grundlinie nahmen, sondern ihr
alle möglichen Orientationen erteilten. Für diese Ver-
suche bedienten wir uns zweier kleiner Hertz'scher Pa-
rabolspiegel, deren Axen horizontal je 1,5 m über dem
Fussbodeu waren. Die Spiegel waren einander zugekehrt
mit 4 m Abstand; einer enthielt in seiner Axe den Os-
cillator, der andere den Kohärer. Ihre Masse waren :
Brennweite 4 c, Öffnung 40 c, Axenlänge 57 c. Es
waren solche, wie sie von der Firma Leybold zu Demon-
strationszwecken hergestellt werden. Das Gitter aus
Kupferdrähten von 1,5 mm Dicke in Abständen von
1,5 c war auf hölzernem Rahmen montiert und hatte
80 c Breite. Die Mitte des Gitters war immer in der
Mitte der Grundlinie, also 2 m von jeder Spiegelaxe
entfernt. Über die möglichen Stellungen des Gitters
gewinnen wir am besten durch beistehende Figur 3 einen
Überblick, wobei nur die extremen Lagen angegeben
und die durch 45° gehenden Übergangslagen weggelassen
sind.
'l Rubens u. Ritter, Über das Verhalten von Drahtgitteru gegen
elektrische Schwingungen, Wied. Ann. Bd. XL, p. 55, (1890).
340
B
S
I)
E
C
F
,e.
Figur 3.
Bei diesen Zeichnungen denke man sich das Auge
von der Mitte des Kohärers nach der Mitte des Oscil-
lateur, also in der Richtung der Grundlinie, blickend.
Die Kugeln des Oscillators sind durch Kreise angegeben.
Bei A und B ist die Gitterebene senkrecht zur Grund-
linie, bei den übrigen fällt sie mit ihr zusammen. Bei
C und F stehen die Gitterdrähte senkrecht zur Grund-
linie, bei D und E parallel zu ihr. Ausser diesen sechs
Hauptstellungen wurden auch die sechs mittleren Über-
gangsstellungen untersucht, die man bei jeweiligem Drehen
um 45° erhält. Das Resultat dieser Messungen, welche
für jede Haupt- und Zwischenstellung hundert mal wieder-
holt wurden, ergab folgendes Resultat für die Wider-
stände in Ohm:
Hauptstellung
Zwischenstellung
A . .
. . . 433
. . 222
B
... 94
. . 86
34 1
Hauptstellung
Zwischenstellung
c
. . 77
D
... 76
, . . 75
E
. . . 77
. . 264
F
. . . 471
. . 463
A . .
. . . 433
Wie man sieht, bestätigt sich die Folgerung der
Theorie für die Polarisation der elektromagnetischen
Schwingungen in den Versuchen A bis E, wogegen aber
bei F erwartet werden sollte, dass die Wirkung fast un-
gestört sich ausbreiten sollte. Es ist das ein Punkt,
wo die Analogie mit den Lichtstrahlen nicht mehr auf-
recht erhalten werden kann, wie bereits die Herren
Prof. Hagenbach-Bischoff und Zehnder bei ihrer Wieder-
holung der Hertz'schen Versuche es bemerkt hatten 1).
Diese Sache ist in innigem Zusammenhang mit den
im nächsten Abschnitt zu besprechenden Versuchen,
so dass wir auf dieselbe noch einmal zurückkommen
werden.
TIT.
Interferenz direkter und an einer metallischen Wand
reflektierter elektrischer Strahlen.
Beim Nachforschen nach weitern Analogien sind es
sodann die Interferenzerscheinungeu, welche Gegenstand
vielfacher Untersuchungen geworden sind. Man hat sich
bemüht, das Phänomen der Fresnel'schen Spiegel mit
}) Hagenbach >/. Zehnder, Die Natur der Funken bei den
Eertz'schen elektrischen Schwingungen, Wied. Ann. Bd. XLIIT
p. 610, (1891).
— 342 —
elektrischen Strahlen zu reproduzieren und insbesondere
seine Modifikation nach Lloyd, welche nur eines einzigen
Spiegels bedarf. Die Einfachheit dieser zweiten Dis-
position Hess uns hoffen, auch hier mit der Methode
des Kohärers einen Beleg für die betreffenden Folge-
rungen aus der Theorie zu erhalten. Von Herrn Righi
wurde in seinem bekannten Buche, unseres Wissens
zum ersten Male in dieser Absicht, dieser Versuch be-
schrieben 1). Wir haben uns an die von diesem Gelehrten
angegebenen Verfahren zur Produktion von Schwingungen
gehalten, indem wir nach seinen Angaben einen Oscil-
Iator konstruierten, der eine Wellenlänge von 10,6 c
liefern sollte. Zwei messingene Vollkugeln von 3,75 c
Durchmesser waren in isolierenden Ringen so montiert,
dass ihr Abstand genau reguliert werden konnte. Durch
zwei seitliche längere Funken wurde dem System die
Ladung zugeführt. Die Axe dieses Oscillators stand
wieder parallel mit der des Kohärers, und es wurde
immer zuerst bewerkstelligt, dass nur der mittlere kleine
Funke wirksam war, während die beiden grossen Ladungs-
lünken wirkungslos blieben. Hiezu verband man die
grossen Kugeln metallisch durch einen eingepressten
Metallkeil und vergrösserte einerseits die Ladungsfunken
während man andererseits die Empfindlichkeit des Ko-
härers verkleinerte bis keine Wirkung mehr bemerklich
war. Darauf wurde der Metallkeil entfernt und der
mittlere Funke auf günstigste Wirkung eingestellt. Die
Reflexion geschah an einer ebenen Zinktafel von 2 m
Länge und 1 m Breite, die mit der längern Seite pa-
rallel der Grundlinie gestellt war. Kohärer- und Os-
cillatoraxe waren der Ebene parallel, und letztere war
parallel verschiebbar. Es bedeutet A in Figur 4 der
]J A. Righi, Die Optik der elektrischen Schwingungen, deutsch
von B. Dessau, p. 91.
343 —
Erreger, B der Empfänger, deren Axen senkrecht zur
Papierehene seien und T die Blechtafel, deren Ebene
auch senkrecht zur Zeichenebene sei.
Figur 4.
Es sei d der Abstand des Kohärers vom Oscillator,
h der Abstand des Spiegels von der Grundlinie. Dann
ist der geometrische Wegunterschied eines direkten und
eines reflektierten Strahles:
A = V d2 l 4 h* — d
woraus: h = £ \ j- + 2 dz/
Daraus lassen sich die Distanzen h berechnen, für
welche Maxima oder Minima der Wirkung eintreten
sollten. Unter Berücksichtigung, dass bei der Reflexion
an der metallischen Wand eine halbe Wellenlänge ver-
loren geht, sollten wir haben :
Maxima für A = * 3 i 5 j ...
Minima für J = * 2 A Sä ...
Berechnet man diese Distanzen h bei Zugrunde-
legung der Wellenlänge l = 10,6 c und des Abstandes
d = 400 c, so ergeben sich folgende Werte in c :
Maxima für h = 83 57 74 88 101 .. .
Minima für h = 46 68 81 94 . . .
Bei der Anstellung der Versuche haben wir die
Distanz h von 10 zu 10 c wachsen lassen. Trotz einer
sehr grossen Anzahl von Wiederholungen konnten wir
das erhoffte Interferenzphänomen nicht wiederfinden.
Alle Versuche ergaben Resultate mit demselben Cha-
rakter und folgende herausgegriffene Versuchsreihe giebt
344
Mit Blechtafel.
Widerstand
deren Typus wieder. Die Distanzen h sind in c ange-
geben, die Widerstände in Ohm.
Ohne Blechtafel.
224 ^_
0 953
10 1860
20 754
30 370
40 290
50 1 70
60 131
70 98
80 133
90 134
100 230
Die graphische Darstellung dieses Ergebnisses in
Figur 5 giebt ein deutliches Bild des Verlaufes der
Erscheinung.
1400
J2oo
1000
XQ6
600
M 09
200
20
30
uo fo
Figur 5.
6o ?o 8o so
100
345
Die horizontale Gerade in der Höhe 224 giebt die
Wirkung an, wenn das Blech fortgenommen ist. Am
Anfang, d = 0, schneidet das Blech die Strahlen stark
ah, oder ahsorhiert sie stark. Bei d = 10 ist diese Ab-
sorption noch gesteigert und nimmt hernach wieder ab
bis d = 40, wo die Wirkung mit Blech gerade gleich
derjenigen ohne Blech geworden ist. Die Tafel ist dort
ganz wirkungslos. Bei weiterem Entfernen des Schirmes
tritt nunmehr eine Verstärkung ein, bis etwa bei d = 70
ein Maximum der Wirkung eintritt. Dann lässt diese
Verstärkung wieder nach, und bei d = 100 ungefähr ver-
schwindet wieder der Effekt der Tafel. Weiter hinaus
zeigte sich dann auch kein EinMus-s derselben mehr.
Wie man sieht, trägt diese Kurve durchaus nicht den
Charakter, den sie aufweisen müsste, wenn man hier
wirklich eine dem Lloyd'schen Versuch der Optik ana-
loge Erscheinung hätte. Berücksichtigt man nämlich die
vorhin berechneten Distanzen h für Maxima oder Minima,
so sollte, zunächst ganz abgesehen von der merkwürdigen
Schwächung bei h = 0, die Kurve nach einer Verstär-
kung hinsteuern und nicht nach einer Schwächung, also
hinunter und nicht hinauf gehen. Da ferner mit wach-
sender Entfernung h die Maxima und Minima immer
näher zusammenrücken, so sollten die Schnittpunkte der
Kurve mit der horizontalen 224 die Tendenz haben, in
immer kleinern Intervallen aufeinander zu folgen und
nicht, wie es hier zu sein scheint, immer mehr ausein-
ander zu rücken. Mit andern Worten, die Kurve sollte
nicht so flach sich hinausziehen, wie sie es thut.
Aus diesem den Forderungen der Theorie nicht
entsprechenden Resultat könnte man nun entweder
schliessen, dass die Methode des Kohärers im betrach-
teten Falle unzureichend ist, oder aber, dass die zu den
Erscheinungen der Optik erhofften Analogien bei den
elektromagnetischen Schwingungen noch in gewissen
346
Punkten Lücken aufweisen, deren genaue Konstatation
und Erforschung von grosser Tragweite sein kann. Ohne
entscheidend hier antworten zu wollen, wozu vorerst noch
parallele Versuche etwa mit der Methode des Bolometers
notwendig wären, möchten wir doch dahin neigen, dass
man bis heute noch nicht von einer vollständigen und
durchgreifenden Analogie zwischen beiden Arten von
Strahlungen überzeugt sein darf. Avas uns hiezu bewegt,
ist, dass die Methode des Kohärers in den beiden vor-
hergehenden Aufgaben Resultate ergab, welche mit den
Versuchsergebnissen bewanderter, mit andern Methoden
operierender, Experimentatoren in guter Übereinstimmung
stehen. Dieses spricht zu Gunsten des hier angewendeten
Verfahrens und lässt es als das Wahrscheinlichste er-
kennen, dass bei unserem letzten Versuche thatsächlich
die Analogie versagt.
Um sich nun über die hier vorliegende Erscheinung
Rechenschaft zu geben, könnte man vielleicht folgender-
massen verfahren, indem man sich mehr auf den Boden
der alten Elektrizitätslehre stellt. Fassen wir den Os-
cillator als Zentrum einer Energieaustrahlung auf, so ist
es ein ganz bestimmtes Bündel von Energiestrahlen,
welche die Wirkung auf den Kohärer vermittelt, wenn
noch keine Blechtafel da ist. Wenn nun das Blech in
irgend eine der Lagen des Versuches gebracht wird, so
werden in elementaren Streifen, aus welchen das Blech
gebildet gedacht werden kann, Ströme induziert. Dieses
wird auf Kosten auch eines gewissen Kegels von Energie-
strahlen geschehen, wodurch immer eine gewisse Ab-
sorption von Energie bedingt sein wird. Die Elementar-
streifen des Bleches können nun ihrerseits wieder auf
den Kohärer induzierend wirken. Heissen wir diese
Wirkung die sekundäre, während wir unter der primären
diejenige verstehen, welche direkt, ohne Vermittlung des
Bleches, vom Oscillator auf den Kohärer ausgeübt wird.
— :547 —
Liegt nun die Tafel so, dass li = 0 ist, so schöpft die
Tafel ihre Energie direkt aus dem primären Kegel. Die
primäre Wirkung ist schon ziemlich stark vermindert.
Es werden in der Tafel aber nur in den dem Oscillât« >r
zunächst liegenden Streifen Ströme induziert und in den
andern nicht, weil diese letztern vom Oscillator nicht
„gesehen" werden. Die sekundäre Wirkung der in den
erstem Streifen induzierten Ströme kommt aber kaum
zur Geltung , weil sie ihrerseits den Kohärer nicht
„sehen". Die Gesamtwirkung ist also eine sehr merklich
geschwächte. Bringen wir jetzt die Tafel auf h = 10,
dann absorbiert sie immer noch aus dem primären Kegel
Energie, aber jetzt viel mehr als vorhin, denn alle
Elementarstreifen werden jetzt vom Oscillator „gesehen",
und es wird in allen induziert. Die vermehrte Absorption
hat eine noch bedeutendere Schwächung der primären
Wirkung zur Folge. Die sekundäre Wirkung ist jetzt
gegen vorher gesteigert, aber sie ist nicht imstande, die
Schwächungszunahme ganz aufzuheben. Die Gesamt-
wirkung sinkt also noch tiefer als vorher, und das er-
klärt, dass die Kurve jetzt höher steht als vorhin. Gehen
wir mit dem Blech auf h = 20, so hat die Tafel langsam
begonnen, aus dem primären Kegel herauszutreten und
hat angefangen, einen Teil ihrer Induktionsströme aus
einem andern Kegel zu schöpfen. Die noch geschwächte
primäre Wirkung ist im Wachsen begriffen und die se-
kundäre unterstützt sie, die Gesamtwirkung hat also
wieder zugenommen. Bei h = 40 zieht die Tafel immer
noch zum Teil den primären Kegel in Mitleidenschaft
und die primäre Wirkung hat noch nicht ihre volle Höhe
wieder erreicht. Die sekundäre Wirkung aber, die zum
Teil aus einem neuen Strahlenkegel Energie schöpft, der
mit dem primären nichts gemein hat. ist gerade hin-
reichend, um die Gesamtwirkung auf das volle Mass der
direkten Wirkung zu bringen, welche stattfindet, wenn
— 348 —
gar kein Blech da ist. Die Kurve schneidet also hier
die horizontale Linie, welche diese letztere Wirkung dar-
stellt. Gehen wir nun auf h = 50, so nimmt die Tafel
immer noch etwas vom primären Kegel in Anspruch und
schwächt noch um etwas die primäre Wirkung. Hiezu
kommt aber die immer noch sehr merkliche sekundäre
Wirkung der Tafel, die ihre Energie aus einem Kegel
schöpft, der nur noch sehr weniges mit dem primären ge-
mein hat. Die Gesamtwirkung ist grösser als ohne Blech.
Bei h = 70 hat die additive sekundäre Wirkung ihren
Höhepunkt erreicht, ebenso die primäre und hiemit auch
die Gesamtwirkung. Die Kurve steht dort am tiefsten.
Lässt man h noch mehr wachsen, so bleibt jetzt die
primäre Wirkung ungeändert auf ihrer vollen Höhe,
während die sekundäre wegen der wachsenden Entfer-
nung beständig abnimmt, bis sie schliesslich sich der
Beobachtung entzieht. Die Kurve wird sich wahrschein-
lich asymptotisch der Horizontalen 224 nähern.
Auf diese Weise lässt sich vielleicht das eigentüm-
liche Ergebnis unseres letzten Versuches erklären. Die
dem Gedankengang zu Grunde liegende Zerlegung der
Blechtafel in elementare Streifen senkrecht zur Grund-
linie mag dadurch gerechtfertigt sein, dass wir auch
einen Versuch anstellten, wo an Stelle der Tafel das
früher benutzte Gitter mit entsprechender Orientation
der Drähte gebraucht wurde. Zum Schlüsse mag noch
erwähnt sein erstens, dass die vollständige Neutralität
des Gitters festgestellt wurde, wenn dasselbe als „reflek-
tierende Wand" benützt wurde, indem die Drähte parallel
der Grundlinie verliefen, und zweitens, dass eine Blechtafel
ebenfalls keine Wirkung zeigt, wenn die Oscillatoraxe
auf ihrer Ebene senkrecht steht.
Basel, Physikalisches Institut der Universität. Nov. 1902.
Rheticus und Paracelsus.
Von
Karl Sudhoff.
Als Hohenheim in Salzburg die Augen schloss, war
eben zu Basel bei Robert Winter l) der für den süddeutschen
Vertrieb bestimmte Abdruck der ersten Schrift des da-
mals 27jährigen Georg Joachim Rheticus über des grossen
Copemicus unsterblich Werk erschienen, die „Narratio
prima" . . „de libris revolutionum Doetoris Nicolai To-
runnsei Canonici Varmiensis," in Form eines Send-
schreibens an den Nürnberger Mathematiker Johannes
Schöner, welches einen Schleier nahm von den Augen
der Menschheit — als Hohenheim schon zum ewigen
Schauen eingegangen war. Das Lebenswerk des Co-
pernievs selber wurde erst zwei Jahre später ausge-
geben ; sein sterbend Auge hat das erste fertige Exem-
plar noch am Morgen des Todestages gestreift. —
Wohl wusste man schon seit einigen Jahren in ein-
geweihten Kreisen von der grossen wissenschaftlichen
That des Frauenburger Domherrn und die staunener-
weckende Kunde drang langsam in immer weitere Kreise;
aber in die weltfernen Alpenthäler, in welchen Hohen-
heim die letzten Jahre seines Lebens verbrachte, war
kaum ein Laut von dieser grossen geistigen Umwälzung
gekommen, welche die „libriVI de revolutionibus" bringen
sollten.
1) Nicht Georg "Winter, wie Leopold Prowe in seinem „Nicolaus
Coppernicus 1. Band. Das Lehen II. Theil, Berlin 1883," S. 427
Anin. schreibt; einen Basler Drucker namens Georg Winter hat es
im 16. Jahrhundert überhaupt nicht gegeben.
350
Und doch, wer sich nachdenkend in die Weltan-
schauung Hohenheims zu versenken versucht hat, wer
gar seine astronomischen Schriften trotz der Sprödig-
keit ihrer Form und des fliegenden Geistes ihrer Spe-
kulationen oder ihrer mystischen Seitensprünge auf sich
hat wirken lassen, der wird sich unwillkürlich die Frage
vorgelegt haben, wie hätte Hohenhcim, wenn er sie er-
lebt hätte, zu den Offenbarungen des Copernims sich
gestellt. Hätte der redliche Wahrheitssucher auf allen
naturwissenschaftlichen Gebieten, dem beispielsweise in
der Chemie so mancher Blick hinter den Schleier der
Maja glückte, hätte er die neuen astronomischen Wahr-
heiten sofort mit offenen Armen aufgenommen, mit kon-
genialem Verständnis erfasst?
Wenn diese Frage auch ewig ohne Antwort bleiben
muss, so wird doch das gleichzeitige Ringen der beiden
Männer nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis immer
wieder den denkenden Historiker der Natur- und Heil-
kunde fesseln und zum Vergleich herausfordern.
Denen aber unter den heutigen Historikern der
exakten Naturwissenschaften, welche etwa einen Coper-
nicus, einen Galilei nachschaffend neu erstehen lassen
wollen, und die Lippen spöttisch schürzen, wenn man
neben ihren Grössen den genialen Einsiedler auch nur
zu nennen wagt, denen gebe ich zur Erwägung, dass
Hohenheim in seiner Auffassung von der Chemie — und
um diese Naturwissenschaft handelt es sich bei ihm ja
vor allem — jeglichem alchemistischen Krimskrams un-
endlich viel vorurteilsfreier gegenüberstand als etwa die
grossen Astronomen neben und nach ihm den astro-
logischen Hirngespinsten! — —
Aber die Brandmale der Verkennung und Ver-
leumdung haben sich im Laufe der Jahrhunderte zu tief
in das historische Antlitz des Paracelsus hineingebrannt,
— 351 —
als dass auch die, welche sich frei von der Wirkung
aller Schlagworte glauben, durch dieselben hindurch oder
daran vorbei sehen könnten.
Wer jedoch eine gerechte Beurteilung Hohenheims
anbahnen will, darf sich daran nicht stossen, darf sich
auch durch das Gekläff der kleinen Geister der konserva-
tiven Schulmeute des 16. Jahrhunderts das geistige Ohr
nicht stumpf machen lassen, sondern muss auf Hohenheim
selbst und auf die wenigen Grossen nach ihm hören, die
aus ihrem eigenen Geistesringen heraus für die ver-
wandten Stimmen anderer Wahrheitskämpfer im wirren
Marktgeschrei der Tagesgrössen, der Zeit- und Schul-
gemässen selber feinhörig geworden waren, die gleich
einem Tycho Brake, oder Giordano Bruno Verständnis
gewonnen hatten für das weltumspannende Neue, das
Paracelsus geschaut und gedacht hat. — — —
Heute will ich nur den Einfluss, welchen Hohen-
heim auf Einen von ihnen ausgeübt hat, aufdecken,
auf den Herold der Copernicanischen Wahrheitskündung,
den man vielleicht nicht zu den „Grossen" im strengsten
Sinne rechnen darf, dem aber im Nachschaffen Coper-
nicanischer Grösse der Sinn erwacht war für das wahr-
haft Bedeutende auch auf anderen Gebieten.
Ist doch die Geschichte der Einwirkung Hohen-
heims auf seine Zeitgenossen und Nachlebenden noch
von grundauf zu schaffen — hiermit ein Steinchen zu
diesem Bauwerk!
In den »ONOMASTICA IL," welche der federfertige
Hagenauer Paracelsist, weiland Schulmeister und poëta
laureatus Michael Schütz, genannt Toxilcs, im Jahre 1574
in Gemeinsamkeit mit Johann Fischart, dem Dichter
und „Schriftführer der deutschen Nation," bei dessen
— :j52 —
Schwager Bernhard Jobin in Stras sburg hatte erscheinen
lassen, findet sich im zweiten Teile, dem „Onomasticon
Theophrasticum," auf Seite 430 bei der Erklärung des
Wortes „Elixir" folgende Zwischennotiz:
„Edemus autem hreui publicse vtilitatis gratia Arc/ii-
doxa in latin am linguain, à viro clarissimo et doctiss.
Georgio Ioachimo R/mtico meclicinae Doctore prsestantiss.
et mathematico sumrao optime conuersa. ut externe na-
tiones melius iudicare de Theophrasti doctrina possint.
Gerardi enim Dorm) versio plurimis in locis vitiosa
est ..."
Der erste Apostel des grossen Meisters Copernicus,
ein lateinischer Interpret der Paracelsischen Jugendschrift
„Archidoxa"! — Man kann sich denken, wie ich stutzte,
als ich diese Nachricht zum ersten Male las. Ein Zweifel
an ihrer Authentizität konnte nicht statthaben; noch
war ja der fähige Schüler des Frauenburger Domherrn
am Leben1)!
Es lässt bei Rheticus ein grosses Interesse an der
Paracelsischen Reform der Heilkunde voraussetzen, wenn
er sich entschloss, das lange verborgene, lange verloren
geglaubte Handbuch der Hoheiiheim'schvn chemischen
Arzneibereitungslehre, das seit dem Ende des Jahres
1569 in zahlreichen Ausgaben an die Öffentlichkeit ge-
treten war - jeder der bekannten Paracelsuseditoren
und Paracelsusverleger in Strassburg, in Basel, in Köln,
in München musste seine Archidoxen-Edition haben! —
in korrekterer Form als bisher in die Sprache der ge-
lehrten AVeit zu kleiden.
Die noch so wenig aufgehellten Lebensschicksale
des Rheticus in seinem letzten Jahrzehnt lassen einst-
weilen keine Begründung für die naheliegende Vermutung
!) Rheticus starb zu Kaschau in Ungarn am i. Dezember
1576.
;;5:{
zu, dass er vielleicht schon vor ihrem Erscheinen im
Druck die Archidoxen gekannt und übersetzt habe, dass
il m etwa der schlesische Dichter am polnischen Königs-
hofe, Adam Schröter in Krakau, der das Buch 1569 bei
Mathias Wirzbieta in blühendem Latein erscheinen liess,
damit bekannt gemacht habe. Oder sollte Rheticus auch
mit dessen Übersetzung, welche die offizielle Klique der
Paracelsusschüler und -Herausgeber trotz ihrer kleinen
Häkeleien untereinander mit beachtenswerter Einmütig-
keit totschweigen, nicht zufrieden gewesen sein?
Adam Schröter hatte sich der Gunst des Albert
Laski (a Lasko) zu erfreuen und auch Rheticus stand
mit der Familie der Laski in naher Beziehung, wie wir
noch sehen werden. Ob Mitglieder des Adam Schröter'' schvn
Freundeskreises in Polen wie die Gutteter in Krakau,
Johannes Gregorius Macer oder der Lubliner Arzt Ru-
pertus Finck im Leben des Rheticus eine Rolle gespielt
haben, bleibt künftiger Forschung anheimgegeben. Ob
irgendwo handschriftliche Spuren der von Toxites ge-
sehenen Umgewandung des ältesten Leitfadens einer
pharmazeutischen Chemie durch Georg Joachim von
Lauchen heute noch vorhanden sind, konnte ich nicht
in Erfahrung bringen ; doch sind mir noch andere Zeug-
nisse für das lebhafte Interesse, das Rheticus für Hohen-
heim hegte, zu Händen gekommen.
Bekanntlich hat der gelehrte Ilfelder Schulrektor
Michael Neander(*l525,-fl595)im Jahre 1583, „ISLEBLT
Imprimebat Vrbanus Gubisius," in 8° eine „ORBIS
TERRAE PARTI VM SVCCINCTA EXPLICATIO"
(212 unnumerierte Bll.) erscheinen lassen, in welcher
er — wie unter „Bruxelhv vom Tode des grossen Ve-
23
— 354 —
.salins — so unter der Rubrik „Palatinatus, die Pfaltz,
Vrbs Heidelberga" von dem dortigen „grossen" Pro-
fessor der Medizin Thomas ErastUS und seiner Be-
kämpfung der Paracelsiscben Lebren in dem vierbändigen
Werke der „üisputationes" bericbtet. Derart über
Hobenbeim zum Worte gelangt, kramt der gewissenhafte
Schulmann nun seine ganze Weisheit über Paracelsus
unter der Spitzmarke „Heidelberg"' fein säuberlich und
gewissenhaft aus. Ja in den späteren Auflagen von 1586
und 1589 (beide in Leipzig in 8° erschienen) finden sich
über den Wundermann noch viel Seiten lange Zu-
thaten.
Doch schon in der ersten Auflage dieses Werkes
findet sich ein für uns wichtiges Brieffragment des Rhe-
ticus, das Neander folgendermasseu einführt: „. . addimus
huc partem Epistohe , quam Rheticus professor olim
Matbematum in Accademia Lipsensi, et post hac Cro-
cauiensi [!], ubi etiam anno superiori diem suum obijt,
scripsit de Theophrasto ad virum quendam doctrinse
multiplicis et meritorum ergo in républicain literariam
per uniuersam Europam clarissimum, communicatani nobis
à pietate, doctrina varia, ingenio atque industria maximo
domino Ioanne Reiffenstein. patritio Stolbergensi, nostri
semper studiosissimo et amantissimo . ." Also dem Stol-
berger Honoratioren Johann Reiffenstein verdankt Ni -
ander einen Brief des Rheticus an eine ungenannte
wissenschaftliche Grösse jener Zeit, der folgen dermass en
lautet :
„Nostramedicinanon estGeometria, quse semper
suum finem assequatur. Quantö enim plus in ea
proficio, tantö plus in ea desidero. Credo eam
posse cognosci, si idoneos prseceptores habere mus.
qualem unicum agnosco Hippocratem, in reliquis
— 355 —
ut plurimum pärollas1) habemus. Femelius per
destillandi artem inuenit eam rationem, ut omnem
quartanam unico haustu curauerit, sed is obijt.
Paracelsus nostri seculi Theophrastus similia
miracula mnlta praestitit, de quibus certo constat.
Cum Albertus Basa Polonise régis medicus ex Italia
rediret, diuertit ad Paracelsum, qui tum temporis
ad Sancti Viti urbem agebat. Accessit cum Theo-
phrastô segrotum, quem supervicturum paucis lioris
affirmabant omnes ex casu virtutis, et pulsus de-
fectu, laborante etiam pectore. Ibi Theophrastus
idem affirmabat fore secundum Humoristarum ar-
tem medicam, sed facile restitui posse ex vera
arte, quam Dens in natura occultauerit, atque
aegrum in crastinum ad prandium invitauit, pro-
ducto igitur quodam destillato trium guttarum,
quod illi in vino exhibuit, restituit hominem, ut
ea nocte conualuerit, et sequenti die comparuerit
in hospitio Theophrasti sanus maximo omnium
miraculo. Cum humsmodi multa ex Bei béné-
ficie) faceret, nihil nisi cahimnias et obtrecta-
liones assecutus est."
Hfcc Rheticus "-').
So spricht oder schreibt doch nur, wer von der
Grösse der ärztlichen Kunst Hohenheims für seinen
Teil fest überzeugt ist!
Dabei verdient es volle Beachtung, dass Rheticus
sich neben Hohenheim nur auf seinen, als Neuerer ver-
!) „Hohlköpfe" ; in parolla eig. kleines Geschirr („lebes minor"
Du Canye), vergl. niederrheinisch „Düppen" für Dummkopf.
-)'l. c. 1583 ßl. JV; 1586 Bl. Gs>: 1589 Bl. 5Gb-57a.
356 —
schrienen, Zeitgenossen Jean Fernel (-j- 1558) beruft,
der von Hohenheim bis zu einem gewissen Grade be-
einflusst war, und bei ihm auch noch gerade ein che-
misches Heilmittel rühmend hervorhebt. Man darf ferner
nicht übersehen, dass Rheticus — ganz paracelsisch! —
von den Alten einzig den Hippokrates als Lehrmeister
noch weiter gelten lassen will, Galenos und Avicenna
aber völlig bei Seite lässt oder verwirft, auf welche sein
astronomischer Lehrmeister Copernicus noch so grosse
Stücke hielt.
Ein weiteres direktes Zeugnis für den Einfluss,
welchen Hohenheim'1 sehe Gedanken auf den geistvollen
Vorarlberger Mathematiker und Arzt ausgeübt haben,
linden wir in einem langen Schreiben des Georg Joachim
Rheticus, das an einer allenthalben leicht zugänglichen
Stelle abgedruckt ist und trotzdem Allen entgangen zu
sein scheint, welche sich in den letzten Jahrzehnten
mit seinem Leben, Denken und Schaffen näher beschäftigt
haben. Melchior Adam in seinen „Vitae Germanorum
Philo sophorum" *) weist auf diese Quelle hin und Sieg-
mund Günther'2) hat offenbar eine recht dunkle Kunde
davon erhalten, wie die Titel angeblicher ungedruckter
Werke aus dem Nachlass des Rheticus darthun, über
welche „der Pole Casiciusu berichten soll.
Josias Simler, der Schüler und Biograph Konrad
Gesner's teilt 1574 in der ihres ursprünglichen Reizes
beraubten „Epitome" der Gesner'schen „Bibliotheca
universalis" (von 15-45) einen Brief mit, den unser Rhe-
ticus 1568 an den berühmten Gegner der aristotelischen
i) Ed. III. Francofurti ad Mcenum 1706 Fol". S. 136
2j Allg. Deutsche Biographie Bd. 28. S. 390.
— 357 —
Philosophie, Pierre La Ramée (Petrus Raums) in Paris
gerichtet hat1).
In diesem Briefe an den Pariser Philosophen und
Mathematiker entrollt Rheticus, 8 Jahre vor seinem
Tode, eine lange Liste seines literarischen Schaffens —
Vollendetes und Geplantes — und entwickelt gleichzeitig
die Grundgedanken, welche ihn bei seinen wissenschaft-
lichen Arbeiten geleitet haben, die er beispielsweise in
die Worte zusammenfasse
„ Ut hypothesibus artem astronomicam liber-
em, solis contentus observationibus."
Doch auch scharf polemisch fixiert er seinen Stand-
punkt als Neuerer, als Reformator:
„In his omnibus ego longe iniquior suni Ptole-
mreo, quam tu Euclidi, illumque magis flagello
quàm tu Euclidem."
Ja er zieht folgenden bissigen Vergleich des ge-
waltigen Gebäudes der Ptolemäischen Weltordnung mit
einem Kinderspielzeug :
„Nam sicut se habent domunculse [Häuschen]
quas pueri luto et arena sedificant, ad Vitruvii
sedificationes, seu palatia fiorentis Romse: ita se
liabent magnae Ptolemsei constructiones, quas po-
tins maximas destrnctiones appellaveris, ad veram
et solidam de motibus siderum doctrinam, quam
et Aegyptiorum Astronomiam dixeris, qui suis
l) Petrus Ramus wurde ein Opfer der Bartholomäusnacht
(1572). — Ich benütze die vollständigste Ausgabe der Gresner-
Simler'schen „Bibliothek," hrsg. v. Joh. Jakob Frisius, Tiguri
1583 Fol", in welcher sich das Schreiben des Rheticus an Ramus
S. '270 abgedruckt findet. In der „Epitome Bibl. Gesner." Tiguri
1574 Fol- steht der Brief an Ramus auf S. 228.
358 —
RADIIS (qiios Gneei per imperitiam obeliscos
vocabant) divina plane mente prsediti, lias traeta-
bant scientias, etc.u
Nach dieser kräftigen Expektoration fasst Rhelicus
seine ganzen Bestrebungen unter folgendes Leitmotiv :
„Clarissime Käme in Ins subsistere eogito,
nisi quod Germanis meis Germanicam Astro-
nomiam eondo.
Nun frage ich jeden, der seinen Paracelsus kennt:
glaubt man hier nicht Hohenheim reden zu hören? Ist
da nicht deutlich die Einwirkung etwa seines Briefes an
Christoph Clauser zu spüren, von dem ich nur ein paar
Zeilen hierhersetze:
Innata mihi mea est viohntia medica ex patrio
solo: sicut enim Arabum medicus est Avicenna, Perga-
mensium Gedemts, Italorum vero Marsilius [Ficinus]
Mediorum optimus fuit : ita etiam ipsame Germania
ftelicissima in suum Mcdicum necessariwm
delegit .... quœlibet JSatio suum sibi ■proprium pecu-
liarem Medicum producit Ucee igitur facultas
ea est ex qua ego scribo, quam ipsa mihi pa-
tria dedit, idque ipsum per necessitatem quam di.ci,
ex qua prognatus ego sum . ."
Wie Hohenheim auch anderwärts betont, dass er
ein „Pfiilosophus nach der deutschen Art" sei.
ist bekannt, ebenso -wie er wissenden Herzens darüber
klagt, wie man ihn verfolge: „dass ich allein hin, dass
ich neu bin, dass ich deutsch bin!11 u. s. w«
Doch kehren wir zu dem Briefe des Rheticus zu-
rück! Es heisst dort weiter:
„In ea vero parte qiue est de Effectibus si-
derum, Pandeetas Astrologie in ordinem redigo.
359
Sed et eins proprium condidi artem, antiquissimis
artis fundamentis exquisitis."
Astrologische Schwachsichtigkeiten waren ja auch
dem so klar sehenden grossen Nicolaus Copernicus nicht
fremd, und des Rheücus heliozentrische astrologische
Theorien und Abenteuerlichkeiten sind bekannt1), während
Hoheuheim hierin seine besonderen Wege ging, die sich in
kurzen Worten einstweilen nicht skizzieren lassen. Es
ist das auch für diesmal nicht von nöten, da der Schild-
knappe des Copernicus auf diesem seinem ureigensten
Spezialgebiete selbständig Stellung genommen hatte.
Wichtiger ist das Folgende:
,,Habeo etiam prse manibus novas de verum
natura philosophandi rationes, ex sola natura
contemplation e, omnis antiquorum scriptis
sepositis."
Das ist die Quintessenz der Hohenheim'1 'sehen Re-
form, welche das „Perscrutamini verum naturas" an die
Stelle der alten Lehrmaxime „Perßcrutathini scripturasu
setzte; denn die Naturwissenschaft „bedarf min weiter
keines Skribenten mehr, allein Interprètes auf das Buch
der Natur nach Inhalt ihres Textes." Auch für die Medizin
hat dies „Eperientia ac Ratio Auclorum loco mihi suf-
fragantur,u wie er im Baseler Programm betont, unbe-
schränkte Geltung; denn „die Natur lehrt den Arzt
und nicht der Mensch." So fährt denn auch Rheticus fort:
„Idem in arte medica factito.u
und teilt mit, dass er auch, in der damals eben erst in
Halme schiessenden, neuesten naturwissenschaftlichen
Disziplin, der Chemie, sich zu vervollkommnen, in reger
Arbeit beflissen sei:
1) Vgl. z. B. Lcoj). Proice. Nicolaus Coppernicus 1. Bd. II. Teil,
Berlin 1883 S. 401 u. 480 Anm.
360 —
„Et cum plurimum Cheinia délecter, ad
eius artis fundamenta penetravi, ut septem de
ea libros delmeaverim."
Vielleicht tauchen diese schriftstellerischen Versuche
in der Scheidekunst noch einmal handschriftlich wieder
auf. Teilt doch Simler mit, dass ein grosser Teil aller
der genannten — hier nicht mit aufgeführten — Schriften
des Rheticus nach Johannes Laski's brieflicher Mittei-
lung schon 1570 vollendet vorgelegen hätten und von
diesem selbst eingesehen worden seien — ,,magna[m] ho-
rum librorum partem iam absolutam se vidisse, ante
quadriennium ad nie scripsit, ornatissimus vir Joannes
Lasicius Polonus1)," — die sieben < Bücher über die Chemie
dürften sich mit grosser "Wahrscheinlichkeit darunter
befunden haben.
Die Bezeichnung nChemiau für die wissenschaftliche,
namentlich pharmazeutische Seite der Alchemie ist im
Jahre 1568 immerhin noch beachtenswert. Was die
Sache angeht, so ist gerade in der medizinischen Chemie
im Beginn der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
der dominierende Einrluss Hohenheims absolut ausser
Frage.
Auf Bhe/icus'' ärztliche Qualität weist gerade der
Schluss des von Simler mitgeteilten Brieffragmentes
noch einmal recht eindringlich hin :
„Tot et tanta sunt qiue tracto, et ad qua1
mihi hactenus ars medica, meus Mœcenas sumptus
suppeditavit.u
Was doch wohl besagen will, dass dem Leipziger
Professor der Mathematik, in den "Wanderjahren seines
letzten Lebensabschnittes wenigstens, der Ertrag seiner
1) Das ist der polnische Gewährsmann Günthers!
— 3(U
ärztlichen Praxis die Mittel verschaffte, um seinen ge-
lehrten Arbeiten ohne Nahrungssorgen sich widmen zu
können. Seine ärztliche Thätigkeit, welche Simler,
Toxiks, Mander, Paschalis Gallus, Adam und hier auch
Rheticus selbst bezeugen, dürfte biographisch doch mehr
Beachtung verdienen, als es bisher geschehen ist.
Auch sein Lehrmeister Copemicus hatte ja Medizin
studiert und genoss einen weitverbreiteten ärztlichen
Ruf; ja er wurde in der übertreibenden Ausdrucksweise
jener Zeit in seiner Umgebung wohl als „zweiter Äskulap"
bezeichnet. Jedenfalls gehörte er zu den Koryphäen der
Heilkunde in den Weichselgegenden, aber die medizi-
nischen Bücher, die er besass und täglich gebrauchte,
vor allen das „Philonium" der Leuchte von Montpellier,
Valescus de Taratita (Balescon de Tarente aus Portugal,
um 1 380), sowie die überlieferten ärztlichen Aufzeichnungen
seiner Hand beweisen klar, dass der Reformator der
Himmelskunde getreulich in den althergebrachten Spuren
des „Fürsten der Arznei" Aviceuna (Ibn Sina, 980—1037)
wandelte1). Nicht so sein sonst pietätvollster Jünger,
Georg Joachim Rheticus!
Wie unvollkommen und lückenhaft auch die Über-
lieferung über ihn bis heute noch ist — soviel wird
jedermann klar geworden sein, dass Rheticus als Arzt
im Lager der Anhänger des Paracelsus gestanden hat!
Für die Frage der Beziehung Georg Joachim' s von
Lauchen zu Hohenheim darf endlich ein Faktor nicht
ausser Rechnung bleiben, der Empfänger des zuletzt be-
sprochenen langen Briefes (der wie ein Rechenschafts-
bericht über die ganze Summe seines Lebens aussieht und
l) Vgl. L. Proirr. Nicolaus Coppernicus 1, II. S. 291-320.
— 362 —
in seiner biographisch-literarischen Bedeutung für Rhe-
ticus von mir nicht zur Hälfte erschöpft ist) Pierre La
Ramée, welcher in ebendemselben Jahre 1568 in seiner
berühmten ,. Oratio de Basilea" die ewig denkwürdigen,
hoch anerkennenden Worte über Hohenheim gesprochen
hat: ,.In intima natura? viscera sie penitus introivit;
metalloruni stirpiumque vires et facilitâtes tarn incredi-
bili ingenii acumine exploravit ac pervidit, ad morbos
omnes vel desperatos, et opinione hominum insanabiles,
percurandum : nt cum Theophrasto nata primum medi-
ana perfeetaque videatur . ." und, nach einer Schilderung
der einstigen Reform des Askiepiades von Bithynien in
Born zum Schlüsse erklärt hat: „Theophrasfus nempe
Germanicus hie Asclepiades fuit : quem Adamus Boden-
steinius Basileœ suscitât: sicuti tota Germania plerique
excellentes medici."
Mit diesen Worten, die zugleich ein weiteres vor-
urteilsfreies Zeugnis der nächsten Nachlebenden von
Bedeutung über Hohenheim bilden, hat Petrus Ramus
offenbar auch unserm Georg Joachim Rheticus aus der
Seele gesprochen!
Beiträge zur Kenntnis der Labyrinthanomalien bei
angeborener Taubstummheit.
Von
F. Siebenmann.
Als Taubstummheit definieren wir nach dem Vor-
gehen von Mygind und Bezold denjenigen pathologischen
Zustand, welcher beruht auf einer angeborenen oder im
frühen Kindesalter erworbenen Anomalie des Gehöror-
gans mit dauernder und so bedeutender Herabsetzung
des Gehörs, dass das betreffende Individuum durch Hilfe
des Gehörs allein die Sprache nicht erlernen kann oder
— falls letztere beim Eintritt der Taubheit schon erlernt
war — sie nicht auf diesem Wege erhalten kann.
Die klinische »Seite der Taubstummheit ist durch
eine grosse Anzahl früherer statistischer Arbeiten, na-
mentlich aber durch die neuern Untersuchungen Bezolds
über die Funktion des Taubstummenlabyrinthes und über
die Hörreste der Taubstummen wesentlich gefördert
worden. Mit diesem klinischen Ausbau der Taubstummen-
frage hat die anatomische Erforschung des Taubstummen-
ohres aber nicht gleichen Schritt gehalten. Dies gilt
besonders von den angeborenen Veränderungen, auf
welche ich mich in meinem heutigen Vortrage beschrän-
ken möchte.
Die Schwierigkeit solcher anatomischen Untersu-
chungen lag von jeher darin, dass der wichtigste Teil
des Ohres — das Labyrinth — ein sehr zartes Gebilde
darstellt und dass es zudem tief im harten Knochen des
— 364 —
Felsenbeines eingebettet ist. Eine Untersuchung konnte
nur unter Zerstücklung dieses Knochens vorgenommen
werden und dabei zerriss der häutige Inhalt der Laby-
rinthhöhlen in der Regel zu unkontrollierbaren Frag-
menten. So kam es, dass früher nur die allergröbsten
Veränderungen zur Beobachtung gelangen konnten. Zu
solch hochgradigen augenfälligen Veränderungen gehört
in erster Linie das Fehlen des ganzen Labyrinthes oder
einzelner Teile desselben. Indessen haben sorgfältige
Untersuchungen und Nachuntersuchungen wie z. B. die-
jenigen Myginds nachgewiesen, dass es sich in diesen
Fällen nicht um primäre abnorme Anlage, sondern mit
ganz wenigen Ausnahmen bloss um Produkte späterer
Entzündungen und um sekundäre knöcherne Auffüllung
der ursprünglich normal vorhandenen Labyrinthräume
handelt. Andere Veränderungen, die unbestritten als
angeborene Hemmungsbildungen zu betrachten sind, be-
treffen die Länge und Form des knöchernen Schnecken-
kanals: Eine Verkürzung von 23/4 auf 1 bis 1 V2 Win-
dungen, sowie ein Ersatz der ganzen Schnecke oder bloss
ihrer obern Hälfte durch einen des innern Ausbaues
entbehrenden, grossen Hohlraum wurde mehrmals ge-
funden. Auch gänzliches oder teilweises Fehlen des
häutigen Inhaltes der Schnecke ist makroskopisch bei
angeborener Taubheit konstatiert worden. — Dagegen
muss bezweifelt werden, ob die nicht gerade häufigen Be-
funde von Degeneration und Atrophie des Stammes oder
einzelner Zweige des Acusticus ohne weiteres als alleinige
Ursache von angeborener Taubstummheit bezeichnet
werden dürfen, da «lie Weichteile des Labyrinthes in
diesen Fällen nicht genügend untersucht worden sind.
Während also die altern Sektionsbefunde über die
Ursache der angeborenen Taubheit uns nur sehr spär-
liche und wenig zuverlässige Anhaltspunkte liefern, scheint
— 865
dagegen die moderne Sektionstechnik hier unerwartetes
Licht zu bringen. Statt dem frühem rohen Verfahren
des Aufmeisselns und Aufsägens oder der unzweckmäs-
sigen Paraffin-Durchtränkung mit nachfolgendem Mikro-
tomieren sind wir nämlich durch das Einführen des Cel-
loidins in die mikroskopische Technik in Stand gesetzt,
auch diese häutigen zarten Gebilde, welche die knöchernen
Hohlräume erfüllen, in situ zur Anschauung zu bringen
und mit dem Mikroskop zu analysieren. Dieser moderne
Untersuchungsmodus besteht darin, dass der aus dem
Felsenbein herausgesägte und das Labyrinth mit der
Paukenhöhle enthaltende Knochenwürfel zunächst in einem
Gemisch von Formol und Müllerscher Flüssigkeit fixiert,
in Salpetersäure entkalkt, dann mit Celloidin imprägniert,
gehärtet und schliesslich in eine fortlaufende Reihe feinster
Schnitte zerlegt wird.
Derartig erhobene mikroskopische Befunde von Ver-
änderungen des Labyrinthes bei angeborener Taubstumm-
heit besitzen wir bis jetzt nur sehr wenige. Zwei stammen
von Scheibe (München) und drei von unserm Institute.
Dazu kommen ausser einigen, leider viel zu kurz mit-
geteilten Fällen von Kalz in Berlin, noch die interes-
santen und genauen Untersuchungen von Alexander,
welche Säugetiere betreffen und zwar die taube albi-
notische Katze und die taube japanische Tanzmaus.
Merkwürdiger und unerwarteter Weise handelt es sich
aber in diesen Fällen von angeborener Taubheit nicht
um gröbere Veränderungen der knöchernen Labyrinth-
räume, sondern um histologische Abnormitäten ihres In-
haltes und zwar in erster Linie des Sinnesepithels der
Schnecke, dann aber auch des Vorhofapparates. Leider
können von den vielen höchst interessanten Fragen pa-
thologischer und physiologischer Natur, welche auf Grund
dieses Materials einer Förderung harren, bis heute nur
— 366
wenige beantwortet werden und zwar deshalb, weil die
funktionelle Prüfung der Taubstummheit erst in aller-
letzter Zeit eine wissenschaftlich genaue Ausbildung
erhalten hat und sie gerade in diesen vorliegenden Fällen
noch nicht zur Anwendung gelangt war. - - Immerhin
sind wir doch im Stande, schon heute erstens aus den
vorliegenden anatomischen Befunden Rückschlüsse zu
machen auf gewisse noch streitige Punkte in der Lehre
der funktionellen Bedeutung des Labyrinth- Vorhofes und
zweitens hinzuweisen auf gewisse Entwicklunysstörunyen
im Labyrinth, die bisher fast unbekannt, in Zukunft
jedenfalls häutig gefunden werden.
I. Über die Frage, welche Teile des Labyrinthes
für das Hören am wichtigsten seien, war man sich re-
lativ früh klar; allgemein wurde die Schnecke als das
eigentliche Hörorgan angesehen. Dagegen bestehen bis
in die letzten Jahre hinein Unklarheiten und Wider-
sprüche bezüglich der physiologischen Bedeutung des
Vorhofs und der Bogengänge. Das physiologische Ex-
periment, die letztern Teile des Ohres isoliert auszu-
schalten, scheiterte an dem Umstände, dass die Nerven,
welche Vorhof und Bogengänge bedienen, in einem ge-
meinsamen Stamme mit dem Schneckennerv verlaufen
und dass sie nicht nur schwer isolierbar, sondern
beim Wirbeltier überhaupt schwer zugänglich sind.
Das Nämliche gilt von den einzelnen Teilen des Laby-
rinthes selbst, so dass es fast unausführbar ist die Schnecke
allein zu vernichten, ohne gleichzeitig den Vorhof- und
den Bogengangapparat zu schädigen. Denn die häutigen
Teile, welche durch das knöcherne Labyrinth gemeinsam
umschlossen werden und welche die spezifischen Nerven-
endigungen tragen, sind nur teilweise mit den Kochen-
367
wänden fest verbunden; sie flottieren, dem Einfluss der
Schwere entrückt, in einer gemeinsamen Flüssigkeit, —
der Perilymphe. Zudem bildet die häutige Schnecke
mit den Bogengängen und mit dem Vorhofapparat einen
einzigen zusammenhängenden Sack, der allerdings mannig-
fach gegliedert aber doch so gebaut ist, dass wenn er
an einer Stelle (traumatisch oder ulcerativ) eröffnet wird,
hier auch der Inhalt der andern Stellen — und zwar
Endo- wie Perilymphe — abfliesst, unter gleichzei-
tiger schwerer Schädigung sämtlicher Nervenendstellen
des häutigen Labyrinthes. Die beim Menschen beob-
achteten Fälle von Ausstossung des Labyrinthes beant-
worten deshalb nicht die eng umgrenzte Frage: „Was
können wir ohne Schnecke hören?" sondern die viel
allgemeinere: „Was können wir ohne Labyrinth hören?"
So war man denn angesichts dieser Schwierigkeiten zu-
nächst auf die vergleichende Anatomie und auf die
Deutung der dort vorhandenen normal anatomischen und
physiologischen Verhältnisse angewiesen; und hier stellte
sich zunächst die wichtige, von Kreidl nachgewiesene und
erst neuerdings unbestritten anerkannte Thatsache heraus,
dass von den schneckenlosen Wirbeltieren die Fische
nicht hören. Experimente bei verschiedenen Wirbel-
tierklassen stellten ferner die Thatsache fest, dass der
Bogengang- und Vorhofapparat ein Orientierungs- und
Regulierungsapparat ist für Stellungs- und Lagever-
änderungen des Kopfes respektive für die Equilibrierung
des ganzen Körpers (statisches Organ), und dass unter
seinem Einflüsse die Muskulatur sich in einem beständigen
Tonus befindet (Tonuslabyrinth). Während die funk-
tionelle Bedeutung des Bogengangapparates bezw.
der 3 Ampullen mit ihren 3 Cristae durch die scharf-
sinnigen , minutiös exakten Experimente von Ewald
endgiltig festgestellt worden ist, stehen auch heute
— 368
noch namhafte Physiologen dafür ein, dass möglicher-
weise dem ganzen Vorhof- und Bogengangapparat und
von den beiden otholitenhaltigen Flecken des Vorhofes
namentlich der Macula sacculi akustische Eigenschaften
zukommen. Welche Täuschungen aber bezüglich der
Prüfung des akustischen Sinnes das Tierexperiment her-
vorrufen kann, beweist drastisch der in den letzten Jahren
ausgefochtene Streit um die Möglichkeit der Hörfähig-
keit von Tauben, denen das ganze Labyrinth exstirpiert
worden war und welche dennoch reagierten auf grobe Ge-
räusche (Schiessen, Blasen des Nebelhorns). — Neuerdings
hat der Wiener Ohrenarzt Dr. Alexander eine Reihe von
histologischen Befunden und Experimenten veröffentlicht,
welche immerhin einen Teil der soeben berührten Frage für
das Säugetier-Ohr zu beantworten scheinen und zwar —
wie zu erwarten war - in dem Sinne, dass dem obern
der beiden Vorhofsäckchen, dem Utricidus und den Bo-
gengangen, keine akustische Funktion zukommt. Ale-
xander fand nämlich bei einer unvollkommenen albino-
tischen Katze, welche auf keinerlei Geräusche und Töne
reagierte und welche somit taub war, dass der Bogen-
gangapparat samt dem Utriculusfleck und den zugehörigen
Nerven ganz normal, die Nervenendstelle des Sacculus aber
samt dem Schneckenepithel hochgradig degeneriert waren.
Die Frage, ob dem Sacculus, welcher ja der Schnecke
topographisch -anatomisch, phylogenetisch und embryo-
logisch näher steht als der Utriculus, akustische Bedeutung
zukomme, scheint ebenfalls in negativem Sinne beant-
wortet werden zu müssen. Ein Sektionsbefund, der
kürzlich in miserai Institute erhoben worden ist und in
seiner Art einzig dasteht, darf in diesem Sinne als in-
teressantes Beweismaterial ein höheres Interesse bean-
spruchen: Da der Fall samt dem folgenden nächstens
in extenso als Dissertation in der Zeitschrift für Ohren-
— 869 —
heilkunde (durch unsern Assistenten Herrn Dr. Oppikofer)
veröffentlicht wird, beschränke ich mich hier auf die-
jenigen Einzelheiten, welche zur Lösung der oben be-
rührten Frage von Wichtigkeit sind:
Es handelt sich um eine im hiesigen Bürgerspital
verstorbene Frau, welche nur solche Geräusche wahr-
genommen hatte, die nachweisbar auch gefühlt werden
(sehr lautes Donnern, ins Ohr schreien oder Schiessen
in unmittelbarer Nähe), welche also ganz taub gewesen
war. Gleichgewichtsstörungen waren nie bemerkt worden;
Patientin war im Gegenteil sehr gewandt und flink. Eine
genaue und gründliche Untersuchung des einen durch
Herrn Prof. Kaufmann uns gütigst überlassenen Laby-
rinthes ergab, dass der Stamm des Schneckennervs
wenig oder gar nicht, der im Labyrinth verlaufende Teil
desselben aber samt dem Schneckenganglion hochgradig
hypoplastisch war und dass das Cortisone Organ teil-
weise oder ganz fehlte und nirgends seine vollkommene
Ausbildung erreicht hatte. — Das ganze übrige Ohr war
normal; vollständig normal war der Bogengangapparat
mit dem Utriculus, und auch der Sacculus mit seinem
Fleck, sowie die zugehörigen Nerven boten nicht die
geringste Veränderung dar. — Somit kommt iveder den
beiden Vorhof säckchen noch den Bogengängen irgend
welche akustische Bedeutung zu und es muss die Percep-
tionsstelle für die Geräusche wie für die Töne in die
Schnecke — speziell ins Cortische Organ — verlegt werden.
II. Eine andere, kürzlich von uns bei zwei Indivi-
duen gefundene pathologisch -anatomische Veränderung
im menschlichen Labyrinth wirft — zusammengehalten
mit dem sogleich zu beschreibenden ähnlichen Befunde
beim albinotischen Raubtier — ein recht interessantes
Licht auf eine gewisse, offenbar recht häufige Art der
intrauterinen Genese der Schwerhörigkeit respektive Taub-
heit und Taubstummheit : 24
370
Der erste Fall betrifft einen taubstummen Mann,
Michael H., der aus einer leiblich und geistig degene-
rierten Familie stammt und welcher im hiesigen Bürger-
spital gestorben ist. Das zweite überlebende der 10
Geschwister sowie eine Grossnichte sind ebenfalls taub-
stumm und erstere besitzt, wie unsere Untersuchung
ergab, auf dem einen Ohre noch ausgedehnte Hörreste,
sowie normale Nystagmus- und Schwindelreaktion beim
Drehversuch, während das andere Ohr total taub ist.
Dagegen wissen wir soviel wie nichts über das Hör-
vermögen und über die statischen Funktionen des Ver-
storbenen und im hiesigen pathologischen Institut zur
Obduktion gelangten Michael H. Auch die Journale
der Taubstummenanstalt, in welcher er seiner Zeit unter-
richtet worden ist, geben hierüber leider keine Auskunft.
Das äussere und mittlere Ohr war durchaus normal
gebildet, und auch das knöcherne Labyrinth, sowie der
Hörnerv zeigten keine Abnormität. Dagegen bot die
mikroskopische Untersuchung der beiden Labyrinthe ein
höchst interessantes, identisches Bild : Die Wände des
Vorhofsäckchens und der Schnecke, sowie des Verbin-
dungsganges zwischen beiden, des Ductus reuniens, sind
nicht in normalem Spannungsverhältnis sondern zu-
sammengefallen, collabiert, teilweise bis zur Aufhebung
des Lumens aneinanderliegend und verwachsen ; und —
was nun sehr wichtig ist — ihr Sinnesepithel ist hoch-
gradig degeneriert. Der Utriculus mit den Bogengängen
ist dagegen normal geblieben. — Der Collaps der mem-
branösen Wände der Pars inferior labyrinthi ist nicht
überall in gleichem Masse ausgebildet: Am meisten be-
troffen ist der Sacculus und der Ductus reuniens; beide
sind vollständig zusammengefallen und verödet-, das jeden-
falls abnorm gross angelegte freie Wandstück ist auf
die mit dem Knochen fester verbundenen und den Nerven-
371
fleck tragenden Teile der Wand zurückgesunken und in
mehrfachen Falten mit ihnen verwachsen. — Der häutige
Schneckenkanal ist mancherorts ursprünglich auffallend
weit angelegt gewesen; die Vergrösserung betrifft fast
ausschliesslich die äussere Wand, deren Epithel im nor-
malen Ohre dem Spiralhand fest aufliegt, hier aber stellen-
weise blasig abgehoben und in Falten gelegt ins Lumen
hinein fällt und die wichtigste Stelle der Schnecke —
die Papilla acustica oder basilaris, früher das Cortische
Organ genannt — in mannigfacher Weise schädigt, so
dass dasselbe nirgends seine normale Ausbildung erreicht.
Diese Schädigung wird durch die direkte Berührung und
Verklebung der Falte mit der Oberfläche der Papille
und ihrer Deckmembran verursacht. Vorschieben und
nachträgliches Zurückweichen solcher Falten ist mehr-
fach nachzuweisen aus den zurückgelassenen Spuren,
die in Form von Pigmentanhäufungen auf dem Spiral-
blatt und von Verzerrungen der Papille und ihrer Deck-
membran auch da vorhanden sind, wo später keine Falte
rneht so weit ins Lumen hinein vorragt.
Während der Nervenstamm des Acusticus normale
Stärke und normales mikroskopisches Verhalten zeigt,
ist der Ramus cochlearis und der Ramus saccularis in
seinem Endstück (Teleneuron) vom Schnecken- respektive
Vorhofganglion an sehr schwach entwickelt.
Zwei durchaus ähnliche Befunde teilt Scheibe mit;
nur war in dem zweiten seiner Fälle der Sacculus beider-
seits normal.
Während bei diesen 3 Taubstummen (den beiden
von Scheibe und dem unsrigen) das Sinnesepithel der
Schnecke durch die Faltung der äussern Wand ihres
epithelialen Rohres zerstört worden ist, finde ich in einem
Labyrinthe, welches der Leiche eines sehr schwerhörigen
älteren Mannes entnommen ist, die Verödung der akus-
372
tischen Papille hervorgebracht durch Collaps der Reiss-
nerschen Membran (Membrana vestibularis). Dieselbe
ist normaler AVeise die dünnste der drei Wandungen,
welche den prismatischen Epithelialschlauch des Ductus
cochlearis bilden ; auch entbehrt sie einer festen Unterlage ;
auf dem Durchschnitt durch die normale Schnecke er-
scheint sie als Hypotenuse eines Dreiecks, welches das
Lumen des Ductus cochlearis darstellt und in welchem
das Spiralblatt die eine, die obere Hälfte des Liga-
mentum spirale die andere Kathete repräsentieren. In
unserm Präparate aber wird mit Ausnahme des untersten
Viertels der Basalwindung die Reissnersche Membran
bogenförmig so in das Dreieck hinabgedrückt, dass nur
noch ein ganz kleiner Raum im gegenüber liegenden
rechten Winkel frei ist. Die akustische Papille bleibt über-
all auffallend niedrig und erscheint als ein breiter Wall,
dessen Zellen dicht und lückenlos ineinander gedrängt,
auch ziemlich regellos angeordnet sind und sich nur
schwer gegen einander abgrenzen lassen. Die Deck-
membran liegt fest eingekeilt zwischen der Reissnerschen
Membran und der akustischen Papille und erscheint
stellenweise mit denselben so verlötet, dass keine Grenze
mehr zwischen ihnen erkennbar ist. — Auffallend ist
der Umstand, dass das Ligamentum spirale mit Aus-
nahme des untern Viertels der Basalwindung sehr schwach
aufgewickelt respektive zurückgedrängt und dass gleichen-
orts auch die Membrana basilaris wellig verbogen ist. —
Auch hier sehen wir also wieder eine allzugrosse Anlage
der häutigen Schneckenwandung; doch ist es diesmal
nicht die äussere, sondern die untere (Basilarmembran)
und die obere innere Wand (Reissnersehe Membran),
welche bei ihrer abnormen Grösse in dem vom normalen
Knochengehäuse vorgezeichneten festen Rahmen nicht ge-
nügend Platz gefunden und sich daher gefaltet haben. —
— 373
Am Utriculus ist nur das abnorm, dass er sich
etwas weit hinunter erstreckt und am obern Umfang des
ovalen Fensters durch mehrere faden- und membran-
artige „Ligamente" am Rahmen und selbst an der Stapes-
platte fixiert ist. Die Form des Utriculus und der
Bogengänge, sowie des Sacculus (soweit auch letzterer
am Präparat noch erhalten ist) erscheint durchaus nor-
mal. — Dagegen findet sich, wie dies am Taubstummen-
ohr auch von anderer Seite schon beobachtet worden
ist, neben der Labyrinthveränderung eine Bildungsano-
malie im Mittelohr. Dieselbe besteht hier erstens in
einer Verbildung und Verdickung des Steigbügels und
des langen Ambossschenkels und in einer derben Fixation
dieser beiden am obern hintern Umfang der abnorm
engen ovalen Fensternische ; zweitens in einem Verschluss
der runden Fensternische durch Fettgewebe. — Die
Nervenbündel des Labyrinthes sind bis in die Vorhof-
nervenendungen und bis in die Spitze der Schnecken-
spindel hinein auffallend kräftig entwickelt. Die mikros-
kopische Struktur derselben wird aber gegen den Rand
des knöchernen Spiralblattes unscharf; im Labium vesti-
buläre finden sich keine normalen Nervenfasern mehr:
die Ganglienzellen des Schneckennervs sind an Zahl
zwar wenig verringert, haben aber meist zackige Form
und sind auch noch in anderer Beziehung zum Teil
atypisch gebaut.
Eine interessante Parallele zu dem letztbeschriebenen,
in seiner Art einzigen Labyrinthbefund beim Menschen
bildet derjenige des albinotischen Hundes und der albi-
notischen Katze, wie wir ihn kennen aus den etwas
unvollkommenen Beschreibungen von Rawitz und den
exakten Untersuchungen von Alexander und wonach es
sich handelt um eine gänzliche Aufhebung des endolym-
phatischen Lumens in der Pars inferior (Schnecke, Ductus
374
reuniens und Sacculus). Diese partielle Verödung des
häutigen Labyrinthes wird verursacht in der Schnecke
durch Herabsinken der Reissnerschen Membran, im Sac-
culus durch Collaps der freien Wand. Abgesehen davon,
dass in unserm Falle der Collaps sich auf die Schnecke
beschränkte, unterscheidet er sich von dem Rawitz-
Alexanderschen Befunde auch dadurch, dass die Degene-
ration des Schneckenepithels bezüglich ihrer Intensität
von der Basis gegen die Spitze zu sich steigert, während
bei der albinotischen Katze das Umgekehrte der Fall ist.
Fragen wir zum Schlüsse nach den letzten Ursachen
solcher Collapszu stände im Labyrinth, so dürften die-
selben gefunden werden können in dem räumlichen Miss-
verhältnis zwischen einem primär zu gross angelegten
Labyrinthbläschen und dem in normalen Grenzen sich
haltenden knöchernen Gehäuse. Die Verklebung der
collabierten Wände bildet keine auffallende Erscheinung,
da wir dieselbe auch unter normalen Umständen antreffen,
nämlich bei der Bildung der Bogengänge : Dieselben
entstehen dadurch, dass die primären Bogengangtaschen
im Zentrum collabieren und verkleben, während die
Randpartie ihr freies Lumen beibehält.
Interessant ist die Thatsache, dass in all den oben
genannten sehr emlässYichen Sektionsbefunden angeborener
Taubheit, wovon 8 das Gehörorgan des Menschen und
mehrere das Säugetier (albinotische Katze, Tanzmäuse)
betreffen, durchweg der Utriculus mit den Bogengänge)/
normal erscheint '), ebenso regelmässig war in allen Fällen
die Papilla acustica degeneriert ; bezüglich des Sacculus
varieren die Verhältnisse, indem beim angeboren tauben
Menschen häufig, bei der tauben Tanzmaus und bei
der tauben albinotiscben Katze durchweg- Sacculus-
'i Nur in einem von Katz kurz beschriebenen Falle war auch
das Ultriculusepithel verändert.
3 £5
Veränderungen gefunden wurden. Wenn wir diese Ver-
hältnisse an Hand der von Goltz-Ewaldschen Anschauung
über die statische Bedeutung der Vorhof-Labyrinthgebilde
weiter verfolgen, so rauss es als eine geradezu wichtige
Ergänzung der Tierexperimente dieser Forscher be-
zeichnet werden, dass die klinische Erfahrung beim
Menschen mit den obigen pathologisch-anatomischen Er-
gebnissen durchaus übereinstimmt. Bezold und sein
Schüler Warmer*) fanden nämlich, dass bei den an-
geboren total Taubstummen durch den Drehversuch
Schwindel und Nystagmus, wenn auch nicht durchweg,
wie beim Normalhörenden, so doch viel regelmässiger
ausgelöst werden können als bei denjenigen Taubstummen,
die ihre Taubheit später d. h. während des extrauterinen
Lebens erworben haben. Wanner geht also jedenfalls
nicht zu weit, wenn er die Berechtigung zugiebt, in ätio-
logisch zweifelhaften Fällen aus dem Vorhandensein
bezw. Fehlen dieser Erscheinungen auf die Zeit und
Entstehungsart der Taubstummheit Schlüsse ziehen zu
dürfen. — Zum nämlichen Resultate kamen — obwohl auf
anderem Wege — Alexander und Kreidl. Indem die-
selben die Zahlen von Pollak bezüglich der Regelmässig-
keit des Eintritts von galvanischem Schwindel bei den
Taubstummen einer genaueren Analyse unterzogen, fanden
sie, dass von den später Ertaubten bloss 3/io, von den
angeborenen Tauben aber ca. G/? auf den galvanischen,
durch das Ohr geleiteten Strom normal reagierten.
1) Wanner: Über die Erscheinungen von Nystagmus bei Nor-
malhörenden. Labyrinthlosen und Tauben. Habilitationsschrift Mün-
chen 1901. —
Jacobus Rosius
Philomathematicus
der mathematischer Künste besondere Liebhaber.
Einige biographische Notizen von
Prof. Fritz Burckhardt.
So weit und alt bekannt der Kalender des Jacobus
Rosius ist, so wenig sind es die Lebensverhältnisse seines
Autors. Zwei sorgfältige Sammler aller auffindbaren
Notizen haben das dürftige Material zusammengestellt,
um wenigstens ein annäherndes Bild des Mannes zu
geben, nämlich :
Rudolf Wolf Biographien zur Kulturgeschichte der
Schweiz. Bd. I, p. 119—132.
Job. Heinrich Graf in der Schrift: Historischer
Kalender oder der Hinkende Bot, seine Entstehung und
Geschichte; ein Beitrag zur bernischen Buchdrucker- und
Kalendergeschichte herausgegeben von der Stämpfiischen
Buchdruckerei. Bern 1896.
Obgleich ich nun die Absicht nicht habe, an diesem
Orte eine neue Biographie von Jacobus Rosius zu schreiben,
halte ich es doch für wünschenswert, einige noch nicht
bekannte Notizen, die ich aufgefunden habe, mitzuteilen
in der Meinung, dass jede neue Notiz um so wertvoller
sei, je geringer der Bestand des Bekannten.
Während R. Wolf als erste sichere Nachricht die
Verheiratung von Rosius mit Küngolt Schneider von
Biell am 13. Mai 1022 bezeichnet und beiläufig die
377
Einzeichnung des Namens in ein der öffentlichen Biblio-
thek Basels gehörendes Buch (Jacobi Rosij 1621)
erwähnt, das heute die Signatur K 0 XII. 12 trägt,
erzählt Graf, dass Jacobus Roshts am 9. Juni 1621 in
Biel als Lateinlehrer installiert worden sei; diese An-
stellung bringt er in Verbindung mit einem dreimonat-
lichen Aufenthalt des Basler Pfarrers J. J. Grasser in
Biel. Hiedurch veranlasst habe ich mich umgesehen,
ob sich nicht in Basel weitere Spuren von Rosius auf-
finden lassen. Ich fand ihn wirklich in der Universitäts-
matrikel im August 1620 unter dem Rektorate von Joh.
Rud. Rurckhardt eingeschrieben als: Jacobus Rosius
Riberaceusis Suevus', im Rechnungsbuch der theologischen
Fakultät ist der Empfang der Gebühr von 2 Schilling
6 Pf. bescheinigt.
R. Wolf schreibt: Leider gelang es mir nicht einen
noch bei Lebzeiten von Rosius erschienenen Jahrgang
(des Kalenders) aufzufinden, sondern der älteste Berner
Rosiuskalender, welchen mir Herr Hauptmann Scholl in
Biel verschaffen konnte, datiert von 1745.
Graf aber hat einen Kalender von 1650 gesehen,
„aeorucft ,311 33a|el, in oertegung ber ^enric^etrinifdjen am
tâorumartft", dabei ein Prognosticon svmptomaticum gc=
brucft ,ui >&a)d bei £>cms -Jacob ©ertatt) in Verlegung ber
.sôeruïc^etriuUcben.
Das Basler Staatsarchiv enthält zwei von Einband-
decken abgenommene Blätter, die beide dem Rosiuska-
lender von 1641 angehören: Prognosticon svmptomaticum,
bas Ut ©ine aufcfütjrlidje SöefdjreibuTtg ber oier 3ci*cn &cs
Csahrs, \o aus bem ©eftirn onb ber Planeten lauft î)erge=
nommen auf bas 3>ab,r nach, ber ©nabenreicfyen geburt on=
[eres £>(£rrn 3efu t£l)vt)ti MDCXLI, geftellt buvd) Jacobum
Rosium, ber matfyematij'djett fünften bejonbern öiebljctbern.
378
Aussei- diesen beiden Blättern von Rosiuskalendern
sind aber auf der öffentlichen Bibliothek in Ein Paket
vereinigt solche von 1649. 1653. 1654. 1655. 1658.
1661. 1662. 1666. 1669. 1674. 1678. 1702.
Die 7 ersten (1649 — 1662) gehören nach der Hand-
schrift der zahlreichen historischen, meteorologischen
u. a. Notizen einem Burckhardt an, da er 1649 schreibt:
SBoIgenben 3)onftags ben 12. hujus (Alt-April) ijt meines
SBrubets S)cms SBurtffjarbts SDÎargrettjli, meines idj in ®ottes
nahmen al)u ftatt bes Eatfjrinlins non 9Jlontbelgarbt m mir
genommen, angetreten.
Der Art der Notizen nach war der Schreiber Geist-
licher. Die folgenden Jahrgänge enthalten Notizen von
anderer Hand und da des Schreibers Schwester am 21.
Januar 1678 sich verheiratete mit dem ältesten Sohn
des Hans Rudolf Burckhardt aus dem Würtembergerhof,
so hat er selbst Krug geheissen und war ein Sohn des
Bürgermeister Krug (wahrscheinlich Hans Rudolf).
Alle diese Kalender, von denen keiner noch das
Bildnis des Jacobus Rosius enthält mit den klassischen
Versen, sind ihrem Inhalt nach sehr übereinstimmend.
Es liegt nicht in meiner Absicht, sie näher zu be-
schreiben; auf dem ersten Blatt haben alle den Basel-
stab gehalten von zwei Basilisken; bisweilen schaut der
Baselstab nach rechts, bisweilen nach links und die beiden
Basilisken schauen ebenfalls nach rechts oder nach links
oder einander entgegen. Ausser dem eigentlichen Ka-
lendarium mit Sprüchen, Bauernregeln, Aderlassmännlein,
Beschreibung der Jahreszeiten, der Finsternisse, Frucht-
barkeit, Krankheit, Krieg und Zwietracht, erscheinen
auch die Jahrmärkte, und von 1674 an Hausarztneien
und ergötzliche Geschichten. Meist schliesst ein lateini-
scher Spruch : Deo sit laus, Deo sit gloria, oinnia ad
majorem dei gloriam, Domine conserva nos.
879 —
Zur Zeit, da diese Kalender in Basel verkauft wurden,
hat Rosius auch Konkurrenten gehabt; so linde ich auf
der öffentlichen Bibliothek (ELXI. 1) einen dem Rosius-
kalender ganz ähnlichen vom Jahre 1645: iHlter onb Werner
®d)retbfalenber u. \. w. auf ein belfere art alfe bi&hero ge=
)d)el)en. Stuff bcr Statt 33afel, Obern ©Ifafc, qnb ombligenbe
Öanbfdjafft gemeine ©elegenbett geftett onb calculiert, auff
bas 3atjr onfers öerrn 3efu (Ehrifti ©eburt MDCXLV
burd) Germanum Dbermener, freier ftünften onb ber XHrtmen
Doctorem, ber Süiathematic onb Slftronomet) Professorem
,m SBafet.
©etvutft ,ui 93afcl, in oerlegung Gubtoig Königs fei. ©rben.
In diesem Titel ist ein gewisser Grad von Gering-
schätzung enthalten, obgleich dieser Kalender in keiner
Weise sich von denen von Rosius auszeichnet. Es spricht
wohl daraus das Gefühl der Überlegenheit des Professors
der Mathematik gegenüber dem Liebhaber der mathe-
matischen Künste.
Auch ein anderer nicht ganz vollständiger Kalender
der öffentlichen Bibliothek (EL XL 3) zeigt Abweichungen
vom Rosiuskalender und grosse Übereinstimmung mit
ihm in andern Punkten.
Diese beiden und die genannten 7 ersten haben,
wie früher bemerkt, derselben Person angehört.
Einen immerwährenden Kalender hat in Basel der
Pfarrer Joli. Georg Gross im Jahre 1629 herausgegeben;
er enthält im wesentlichen den Computus ecclesiasticus.
die Oster- und Festrechnung:
Smmertoäfyrenb - 3öl)vlid)er ftalenber:
auff alle onb jebe 3abr gestellt: alfe lang bte SBelt, nad)
©ottes Willen, ftet)en orirt. Ten jenufen erun"iujd)t onb bienit=
tid), toeldje altermetft auff bte füvnehmfteu onb geariffeften 3ab,r
weiten, ad)tung neben tbünb. Sonberlicb aber ui [angmirigen
SRätfen, oietjetyrtgen ^eneidinuifen, SDÎemortalen, Sdpretbtafeln,
SRedjnungen onb bergteieben fachen fehr nöttjtoenbig.
— 380 —
©ctrucft 3U SBctfel, butä) 3oï). 3acob (Senath 1629.
Es Hessen sich noch verschiedene viel frühere Ka-
lender, auch Nachdrucke nachweisen, indem in den
Akten des Staatsarchivs Reklamationen aufbewahrt sind,
von denen die eine vom Kanton Appenzell 1579:
3)en frommen füvjichtigeu ©rfamcn onb tonfcn SBurger*
meiner omtb Wath oev Stabt Sajel, imfern 3nnfonbers guten
frünbenunnb get^rütoenn lieben ßtbgnoffen (15. Oct. 1579).
Der Inhalt dieses Schreibens von Landtaman vnnd
Rath zu Appenzell ist folgendermassen resümiert:
Tic oon SIppctgcl bejehmeven fid), baß bas ©ottsljaus
2t. ©alten in einem oon ihren ïrueften ftalenbem ihrem
ÏBapen sMv, anstatt er frei) fenn Jollen ein s,Roth §alfebanb
angelegt rmb gar ,ui einer 'öärin gemalt, btes ferje aber nun
beigelegt roorben. 5nbeffen oernemmen fie, baf} SIpiattus al=
hier gleid)e SBapen onb (Xalenber truefen üefce, mit bitt bas
nötige uor.nifehren.
Andere Reklamationen, auf die ich nicht näher ein-
trete, sind aus 1602 und 1608 verzeichnet.
Wann und wo hat Rosius seinen ersten Kalender
herausgegeben ?
Wolf und Graf führen die zweifellos richtige That-
sache an :
„Nach dem Berner Ratsmanual hat Rosius am 23.
September 1625 für einen Ihro Gnaden dedicirten Ka-
lender 6 Kronen erhalten. Wir dürfen somit annehmen,
dass der bis auf gegenwärtige Zeit immer noch erschei-
nende Rosmskalender frühestens auf 1626 zum ersten
mal herausgegeben worden ist." (Graf, Historischer
Kalender u. s. w., p. 18).
In Bezug auf den Druckort bezweifelt Graf, dass
es Bern sei und hält für wahrscheinlich, dass Rosius
seinen Kalender zuerst in Basel habe drucken lassen.
— 381
Das Nachfolgende wird den ersten Punkt bestätigen,
vielleicht etwas modifizieren, den zweiten beweisen.
Die Akten eines Prozesses, in dem Rosius nicht in
rosigstem Lichte erscheint, befinden sich im Staatsarchiv
von Basel-Stadt und zwar in den Ratsprotokollen, in
dem Urteilsbuche des Schultheissengerichts der mehreren
Stadt und in einem Faszikel enthaltend Kalenderange-
legenheit.
Die Akten alle abdrucken zu lassen, böte wegen
der vielen Wiederholungen wenig Interesse, allein die
dem Rate eingegebene Klageschrift, die die wesentlichen
Punkte enthält, mag hier Platz finden:
Hans Gunrad Leopard, Buchhändler in Basel, schreibt
an den Rat (verlesen am 9. Juli 1628).
£err SBurgermeifter, ©eftreng, ©bell, ©hrenueft, <yromm,
Vornehm, gürjtdjtig, lïbrfam onb SBeifj, ©enäbig onb ge?
bietenb .sperren. SBiemolI 5tfj (£-. (Sit. nid)t gern bemülje, fo
3totngt mid) bod) bic notl), bcnfclbcn onbertf>amg clagenb ab,n=
gufügen, baf} 3dj mit §errn Jacob Rosio, roöldjer [ich nun
3ur3^it ,ut 93iell in Xienften oerhaltet, megen feinen Kaienbern
oor ettoas 3eiten*) aecorbiret, xrnb babjn oergltdjen, baß St
mir biefclben alle, bis auf bas 1629 ^ai)x inclusive, folle ju=
tommen laffen: Scfi l)ab ihn aud) berentoegen [chon attbercit
nor einem 3at)t contentirt uub befriebigt.
sJcun l)at ev gmar oor einem 3al)r mir [eine benben ßa-
lenber, nämlichen für bas 1628 uub 1629 3ahr gelüffert: ©r
ift aber in meinem abiucfen miber in meinen Gaben tommen,
unb bat ben (lalenber auff bas 1629 3aljr eigenes gemalts
miber auf) meinem 3d)retbtifd) genommen, uub fomoll ba*
mal)leu ui meiner §ausfraroen, attfs aud) t)ernad)er in bem
2Bürtst)aus mm SRaben alll)ir ui mir gejagt, Sr muffe etiuas
barin enbern, molle aber mir benïelben mit evitem miber
*) Am 2. September 162.').
382
l)iel)er fcfjicfen. ÏBolcfjes Ht abcv nidji getrjan, fonbern beren*
tocgcn mit £>errn SRubolf gäefdjen bon Jüngern geï)anbelt,
onb Stjme benfelben gügeftelt, umldjer aud) bcn bei) .sperren
Csobann 3d)vötcvn aufflegen onb bruden laffet. Dtjnangeferjen
od) benfelben 311m tvittcit mnl)l berentoegen aljngerebet, gc=
warnt tmb gefagt, bafo er fid) mit bemfelben nid)t einladen
jolie, beim ber (lalenber ftetje mir ^u, onb fyabe id) nud) £>errn
Rosium jd)i>n berfiir befrtebigt.
SBietooIl mut £>err J-äejd) mir rjierauff geantiuortet, loeilen
es mit befagtem Satenbet al)o befdjaffen, |.o molle l£r bem
felben itid)t ahunernuen, fonbern §>erm #os«o miberumb ni=
jd)irten: Sftid)ts bejto weniger, onb über bie 311m tritten mal)l
mm mir getfjane ÏBarnung, l)nt bod) §err ^äefcrj, gu meinem
großen nad)tl)eillr merd'lid)en ferjaben onb oïjngelcgcntjcit, beu
Ealenbcr angenommen, mir benjelben, onb bannit ein guten
tl)eill meiner Wahrung, £xmbels onb geoMns entzogen, onb
lajjet beu beu vhutu Schrötern truden.
2Bann aber, ©näbig gebietenbe .sperren, meber alll)ie in
einer loblid)en Statt SBafelt, nod) in anberen moUbejtelteu
SRepublicen onb ©etoerbftätten, jemal)len gugeben morben, bafs
ein §anbetsmann bem anbern bas [einige ent^ierjen, bemfelben
l)ieburd) feinen vmnbel jd)iuäd)en, onb CU)ine alfo al)it feiner
Sftaljrung ein abbrud) tl)tin folle, mie aber mir Jüngern am
gehenben Manbeljunauu onb $coax miber befdjerjene marnung,
oon y>errn gäefcrjen begegnet: 9IIlfs mill id) oerboffen, onb
^ugleid) aud) onbertrjcmigs beftes fleifecs gebettelt fyaben, (£.
©n. gerurjen, befagten §erm ^äefdjen mit allem ernjt bal)in
gnäbig otjngutoeifen, bafo (fr entroebers gebadeten llalcnber
ohn alle entgeltmufj mir miber einbäubigen onb guftellen folle,
bamit id) mid) bes Sd)abeno, möld)eu id) etlid)e ^aty l)cro
mit ,s>erru Rosii Salenbem, el)er 3d) biejelben in einen ruft
onb gang gebracht, gelitten, miber umb etroas erholen tonne:
Cber aber, ba er je biejeu Satenber behalten, onb aud) auff
bie fünfftigen 3ctï)ï .sVrrn Rosii (ialenber truden [äffen molte,
— 383
bafe er mir für meinen Sdjaben äroeifjunbert gulben in barem
gelt erlegen, onb bann alle 3at)r, fo lang er biefelben trudeu
wtrt, mir fo oiell (Satenber, onb groar umb einen ved)ten bil=
liefen preis uifommeu laffen folle, alfe och, beren bebörffen
roerbe, weilen mir biefelben auch fchon oerfprod)en getoefen,
unb mir nun bnvd) §errn ftaefchen entzogen roorben. hieran
gefcrn'erjt bas Wenige, toas ben SRectjten unb ber 93illid)teit ge*
mefj, unb roirt mir folcfjes mit meinem ol)ne bas fdhulbigen
bürgerlichen gehorfam nad) äuföerftem meinem Vermögen umb
©. ©n. trüber 311 befcfmlben ftetjen.
§icmit einer gnäbtejen roillfäfjrigen resolution mid) ge=
tröftenb, roill ©. ©n. 3d) mid) unb bie meinen 31t bel)arrlid)cn
gnabeu unb gunften onbertt)äniges gflei&es woll empfohlen
l)aben
Eurer ©naben
SBnbertfjaniger gerjorfamer SBürger
#ans (Sonrab ßeoparb,
S-Bud)l)änblev.
Nachdem vom Rate die Entgegnung des Herrn
Fäsch verlesen war, wurde beschlossen:
,,ba\] fie fiefj in ber güete ,uifamen oerfüegen uubt ucr=
glichen ober ans SRedjt geroifen fenen."
Eine Verständigung kam nicht zu stände.
Am 28. Juli 1628 erschien die Angelegenheit vor
Gericht; auch von diesem ist erkannt worden:
2)aft benbe ïheil fich aufs fürberlichft in benroefen frU>
liebenber, fchieblidber unb oerftehnbiger Urformen in bie güe=
tigfljeit oerfüegen unb fehen Jollen, ob fie jid) 3hres l)abenben
ftreits unb gefpans halber mit eiuauber Dergleichen unb oer=
tragen tonnen, uereinbaren fie Hd), es baberj befteljen, wo
nid)t, als bann ftleger, wann er bie beîlagte getoarjmet fjabc^
erroeifen unb auf ferner anrüeffen weitere, a>as red)t ferje,
ergeben jolie.
384 —
Auch diese Anordnung führte zu keiner Verstän-
digung-, die Sache kam wieder vor Gericht und nach
langen Auseinandersetzungen beider Parteien wurde am
3einftag, den 19. August 1628 folgendes Urteil gefällt:
-Dafc bie Ferren §enrtcpetrmtfcf)en Snterejfenten*), bie
beïlagten, §>errn ßeoparten, bem ftleger als evjter ifteüffcr
gebauten auf bas 3afyx 1629 geftellten Kalenbers, berfetbert
roegen einen milieu fdjaffen, befcgleidjen olnne feine erlittenen
billigen ©erià)tsïoften abtragen, unb finteimnahlen £errn
Jacobus Rosius folchen ©alenber allbereit Anno 1625
ßeoparten oerflmufft unb gtoar oermög feiner (Schreiben ab
Shnte ßeoparten, als ob berfelb 3hme ntd)t gehalten, jid)
befefttoert: aber befjroegen ben orbentlichen toeg Rechtens nid)t
gebraucht, fonbem ben Katenber 3l)m ßeoparten eigens ge=
malts mibcrnmbeu genommen, folchen ohngeacl)tet er bes ßeo=
parten, onb alfo nicht mehr fein Rosii getoefen, bennoht ben
ijerrn ÜBeflagten l)temit ,unet)mal)leu uert'aufft, aud) baburch
gröblichen oerfätjlt habe, befjroegen er Rosius folcfjes mit einer
9Jcarc! Silber oerbeffern, onb bife basfelbige abgestattet ferjn
merbe, basjenige, welches bie SBefïagten rjinber 3hnen Ijaben,
onb 3bme Rosio 3uftehnbig ferje, bemfelben nicht geoolgt
toerben: fonbem alhir oerbleiben folle.
Leopart' s Klage war also als berechtigt anerkannt;
Rosius aber zahlte nicht, so dass die Angelegenheit noch
am 18. Dezember 1638, am 27. März und am 19. Juni
1634 vor Gericht kam, wobei das ergangene Urteil be-
stätigt wurde ; ob auch durchgeführt, vermag ich nicht
zu sagen; um aber nicht ungerecht zu sein, wollen wir
es annehmen; der Rat hätte sonst kaum am 12. August
1643 beschlossen:
§erm Rosio, megen bebicirter Ealenber Jollen 15 9?tt)t.
oerehrt werben.
*) (deren Vertreter Hr. Fäsch war.
385
Da nun der Buchhändler Leopard mit Bosius im
September 1625 einen Vertrag betreffend die Lieferung
der folgenden Kalender abgeschlossen hat, und in der
Klageschrift 1628 sagt, er habe am Verkauf der Rosius-
kalender etliche Jahre lang Schaden erlitten, bis er ihn
in Ruf und Gang gebracht habe, so folgt daraus mit
Sicherheit, dass der erste Rosiuskalender nicht frü-
hestens, sondern spätestens auf das Jahr 1<>26 erschienen
sein muss, dass aber möglicherweise schon frühere Jahr-
gänge erschienen sind. Die ältesten Rosiuskalender sind
also in Basel erschienen, der Verleger war Hans Cunrad
Leopard, von 1629 an sind sie von den Henricpetrinischen
Erben verlegt, wie denn auch noch der Kalender von
1649 angiebt: getrurft ,ui SBctjel, in oerlegurtg bor ,sVmtc=
SPetrtnifcfjert am Slommarft; die folgenden Kalender geben
nur die Firma an. bei der der Kalender gedruckt worden
ist, nur der von 1678 giebt an: Basel in Verlegung
Jacob Bertsche vnd Samuel Euss.
Auch in späteren Jahren hat der Rosiuskalender
(ielegenheit zu Prozessen gegeben.
Der berechtigte Verleger, Jacob Bert sclic, klagt bei
dem Rat gegen den Buchdrucker Jacob Werenfels (1681),
dass dieser das Basler-Stadtwappen, den Baselstab und
die dazu gehörigen Basilisken auch auf dem Titel seines
Kalenders führe, so dass ihn mancher für den Kalender
von Bosius kaufe, er aber Schaden leide; der Fürsprech
des Jacob Bertsche erkläre dies „für einen llnehrbaren
griff: 3<* 9<*r mirebltd) [tucft)."
Nachdem der Beklagte viele Gründe zur Vertei-
digung angeführt, erscheint auch der folgende:
(Es tonnte auel) batjer fein, bafc fein Eatenber. in einen
abgartg Eommcn: onb hingegen meine ©alenber gefudjt werben
möchten; meilen ber meine am papier [djörter unb [onften ltcb=
lid)er in bie Slugcn fällt, and) Bosii letzte Arbeit von s?l° 1681
25
386
ahn, b\\) auff 1700, tm er in feinem alter ein Stürfh gelt ,ui
erhaben, gejtrubtet, ben ©rftert, ba er fleißiger getoefen, nid)t
gleid) 3|t. (Schreiben verlesen am 10. Aug. 1681).
In einem grössern Werke des Bosius, nämlich in
der Ephemer is perpétua, deren Vorrede im Jahre 1628.
Die S. Galli geschrieben ist, erscheint Rosiiis als Notarius
Caes. publiais.
Wie ist er zu dieser Funktion gekommen?
Es erscheint mir als wahrscheinlich, dass der ein-
gangs erwähnte Pfarrer J. J. Grasser seinen Schützling
Rosius mit diesem Titel und den damit verbundenen
Rechten versehen habe. Von Grasser berichten die
Athenae rauricae zweierlei, nämlich :
Hie autem postquam d. 14. Dec. 1607 a. D. Fer-
nando Amadi, Imperiali Commissario, singulari S. Cae-
sareae Majestatis ordinatione, Sancti Palatii et Consistera
Imperialis Comitis, Equitis aurati et civis Romani privi-
légia et dignitates solenniter aeeepisset, per Venetias
partem Germania transiit etc. etc.
Zu diesen Privilegien gehörte die Ernennung der
Notare.
Ferners :
Petiit itaque a Magistratu facultatem, si occasio
ferat, munus ecclesiasticutn una cum juribus Comitis
Palatini exercendi, quae ei haud difficulter fuit concessa,
simul vero praeeeptum, ut sese intra modestiae cancellos
contineret.
Als sich aber die Vereinigung der kirchlichen und
der pfalzgräflichen Funktionen als nicht passend erwiesen,
worauf er durch den Antistes J. J. Grynaeus aufmerksam
gemacht wurde, entschloss er sich keine andern Be-
rechtigungen eines Pfalzgrafen auszuüben, als öffentliche
Notare zu ernennen.
387 —
Endlich sei noch eine Bemerkung über das Bild
von Roskis gestattet. Bis zum Jahre 1678 enthält der
Kalender das Bild nicht; in dem Kalender von 1681,
der Herrn Prof. A. Riggenbach gehört, ist es und zwar
umschrieben Jacobus Rosius Malhematicus, obiit An.
Christi MDCLXXVH Mens. August. Aetatis An
LXXVIII. Somit fällt die Geburt des Rosius in das
Jahr 1599, nicht wie Wolf und Graf angeben in das
Jahr 1598.
Zur Geschichte der biologischen Systematik.
Von
Prof. Rud. Barokhardt.
L'empirisme peut servir à ac-
cumuler les faits, mais il ne sau-
rait jamais édifier la science. Cl.
Bernard, de la phys. gén. 1872.
1. Der gegenwärtige Stand der zoologischen Ge-
schichtsschreibung.
Alle wissenschaftlich en Darstellungen der Zoologie-
geschichte schildern in erster Linie die Entwicklung der
zoologischen Klassifikation als der eigentlichen Quint-
essenz unserer Wissenschaft. Daneben findet wohl auch
die Geschichte zoologischer Beobachtung, der Tierbeschaf-
fung und Tierzergliederung, nebensächliche Behandlung,
aber beispielsweise schon für die Illustration in der
Zoologie besitzen wir kein Seitenstück zu Choiilants
(14) Geschichte der anatomischen Abbildung. In
neuerer Zeit ist auch die Geschichte des Darwinismus,
meist in erweiterter Form als Geschichte der Entwick-
lungslehre zu einem Gegenstande der Bearbeitung ge-
macht worden, insbesondere sind hier die historischen
Einleitungen der Haeckehchen Werke (26) und einer
ausgedehnten, von ihm abhängigen Litteratur zu nennen.
Doch verfolgt diese Richtung apologetische Zwecke und
kommt daher als wissenschaftliche Geschichte nicht in
Betracht. Im allgemeinen ist zu konstatieren, dass der
389
gegenwärtige Betrieb der Zoologie ein eminent unge-
schichtlicher ist und was gemeinhin das Prädikat his-
torisch trägt, ist einfach Chronologie der Entdeckung
oder Bearbeitung des Materials. Es ist in hohem Grade
ehararakteristisch, class seit der 1872 erschienenen Ge-
schichte der Zoologie von J. V. Carus (13) keine ähnliche
Allgemeindarstellung erschienen ist, obschon sich vom
Standpunkt der Kenntnisse, welche in den letzten dreissig
Jahren errungen worden sind, das Bild der Geschichte
unserer Wissenschaft vielfach erweitern und verschieben
würde. Schon die Geschichtsbetrachtung der Zoologie
selbst würde sich in dieser Periode wesentlich haben
verändern müssen, denn noch bei Carus steht sie im
Banne der zoologischen Systematik, bricht ab an der
Schwelle der neuen Zeit, der entwicklungstheoretischen
Periode, und auch der Abschnitt, welchen Carus der
„historischen Zoologie" widmet, beschränkt sich darauf,
zoologiegeschichtliche Litteratur antiquarischen und exe-
getischen Charakters aufzuführen, während doch die
Entwicklung der zoologischen Geschichtsschreibung viel
mehr gesagt hätte.
Von dieser haben wir auch jetzt auszugehen, wenn
wir uns ein Urteil über die Zoologiegeschichte bilden
und unser nachfolgendes Beginnen begründen wollen.
Die Geschichtsschreibung der Zoologie nimmt ihren
Anfang mit A. v. Haller (27), in dessen Bibliotheca
anatomica 1774 das sechste Buch mit dem Titel Ani-
malium incisiones auf 340 Seiten eine Chronologie der
zootomischen Bestrebungen von Asclli bis auf Valentin
und Stahl enthält, nachdem schon bei Besprechung der
antiken Naturforscher auch deren zoologischer Bestre-
bungen gedacht worden ist. Als zweiter Zoologiehisto-
riker begegnet uns Jo/t. SplX (48). Er war angeregt
von Schelling, „welcher wie Goethe die Poesie neu er-
— 390
schuf, die Philosophie den sophistischen Witzeleien und
Schwärmereien unseres Jahrhunderts entriss und der
Natur wieder anheim gab und welcher mir gleich im
Anfang meiner medizinischen Laufbahn den unvergess-
lichen Rat erteilte: mich nicht sowohl an die Worte
und gedruckten Schriften, als im Geiste eines Suam-
merdam an das offene Buch der Natur selbst zu halten
und so in allem die Erfahrung selbst zu meiner Ge-
fährtin zu machen." Ausgehend von der Idee, dass
alles organische Leben sich aus gemeinsamer Wurzel
entwickelt habe, fasste Spix auch die Geschichte seiner
Wissenschaft als etwas organisch gewordenes auf. Von
diesem Gesichtspunkt aus schildert er in grossen Zügen
und mit philosophischer Kritik die Entwicklungsge-
schichte der zoologischen Systematik von Aristoteles (2)
bis auf seine Zeit und ist damit auch unübertroffen ge-
blieben. Dass Olivier (15) mit seiner Histoire des
sciences naturelles (1841 — 45) die Geschichte der Zoo-
logie und überhaupt der Naturwissenschaften einem gross-
artigen Rahmen einspannte und ein grundlegendes Ge-
schichtswerk umfassender Art schuf, überrascht wohl
nicht, wenn man weiss, welch erstaunliches Wissen
ihm allezeit zu Gebote stand. An Cuvier lehnt Js. Geof-
froy St. Hilaire (25) an, weniger mit der Absicht, eine
Geschichte der Zoologie zu schreiben, als mit der, seine
ausgedehnten historischen Kenntnisse einer im Sinne
Aug. Comtes geschriebenen allgemeinen Naturgeschichte
zur Verfügung zu stellen.
Mit diesen fünf Hauptwerken aber ist die allgemeine
zoologiegeschichtliche Litteratur erschöpft und es ergiebt
sich hieraus, dass die Mühe, die bisher auf die geistige
Verarbeitung unserer Wissenschaft in dieser Richtung
verwendet wurde, beinahe verschwindet, verglichen mit
den Bemühungen um minutiöse Exaktität in zahllosen
391 —
Kleinigkeiten, verglichen auch mit der sorgfältigen Pflege
historischer Studien über die Entwicklung anderer
Wissenschaften, wie Physik oder Chemie. Aus der
Entwicklung der zoologischen Geschichtsschreibung er-
klärt sich nun aber auch, warum für sie die zoologische
Systematik so sehr im Vordergründe stand. Denn
zur Zeit des Entstehens der Zoologiegeschichte herrschte
die Speciezoologie. Sie sah ihre logische x^ufgabe
in erster Linie in der Gruppierung der Individuen,
Varietäten und Arten zu höheren systematischen Ein-
heiten. Die Stoffmassen der Lebewelt drängten sich in
Gestalt ganzer Wesen auf, die zivilamtlich geordnet sein
wollten. Die Teile der Tiere kamen nur insofern in
Betracht, als sie zu dieser Aufgabe herangezogen werden
konnten. So wirkt denn Linné auch noch im heutigen
Sprachgebrauch bei den Zoologen nach. Unter „Syste-
matik" wird immer noch nur die Ordnung der aus In-
dividuen gebildeten höheren Gruppen verstanden.
Auf dieser Basis nun aber stand als erster Zoolo-
giehistoriker Hauer, für den die Pole, um die sich die
Achse zoologischer Forschungen drehte, einerseits die
Linné'sche Systematik war, anderseits die menschliche
Anatomie und Physiologie und durch seinen Standpunkt
war naturgemäss auch seine Geschichtsforschung be-
dingt. Wie sehr aber Haller damit massgebend blieb,
geht daraus hervor, dass trotz allen Errungenschaften
der Zootomie in den nachfolgenden sechs Dezennien
Cuvier ihn beibehielt, ja noch verstärkte. Für ihn ist
„die Zoologie gewissermassen nur ein Ausfluss der
menschlichen Anatomie; denn das Studium der Tiere
ist nur eine Wiederholung der Erforschung des mensch-
lichen Körpers." Dreissig Jahre vor ihm stand der
Nat.urphilosoph Spix mit seiner oben gekennzeichneten
wissenschaftlichen Absicht bereits auf vicd höherer Warte.
— 392
Carus lehnte sich bei Betonung des Standpunktes, den
Clll'ier eingenommen hatte, die Zoologiegeschichte der
allgemeinen Kulturgeschichte einzugliedern, im Einzelnen
stark an Spix an und schildert vorzugsweise die Ge-
schichte des zoologischen Systems. Hierüber wesentlich
hinauszugehen, hinderte ihn schon die bestimmte Absicht,
die Periode der Entwicklungslehre nicht mehr anzu-
schneiden.
Somit hat die Geschichtsschreibung der Zoologie,
ganz abgesehen von ihrer augenblicklichen Rückständig-
keit, sich im allgemeinen wenig über den Standpunkt
erhoben, der zur Zeit ihres Entstehens giltig war. Vol-
lends heute ist sie und die empirische Zoologie ausein-
andergefallen und so verlohnt es sich ganz besonders,
die Zoologiegeschichte nach denjenigen Erkenntnisge-
bieten hin zu erweitern, nach denen die Zoologie selbst
ausgewachsen ist.
2. Die Erweiterung der Zoologie zur Biologie.
Die Zoologie hat sich nie ausschliesslich mit dem
Stadium der ganzen AYesen allein begnügt. Schon in
ihren Anfängen bei Aristoteles (1.2) tritt uns eine solche
Fülle zootomischer Beobachtungen im Dienst der Er-
gründung von Verwandtschaftsbeziehungen entgegen, dass
wir eigentlich annehmen müssen, eine wissenschaftliche
Zoologie habe überhaupt erst mit der Tierzergliederung
gedämmert. Schon dort wurde der Organismus in seine
„ungleichartigen" und „gleichartigen Teile", die Organe
und Gewebe zerlegt und die Eigentümlichkeiten der
letzteren auf die Grundstoffe zurückgeführt. Der voll-
ständige Ausbau der Zootomie gehört aber der Neuzeit
an und konnte erst mit dem ganzen Apparat moderner
Technik zu der ihn gegenwärtig bezeichnenden Vollkom-
menheit gedeihen. Ihr letztes Stadium war durch die
— 393
Zellenlehre gegeben und dass wir es noch nicht über-
wunden haben, beweist die Herrschaft, welche der Be-
griff der Zelle heute noch ausübt und der sich nur der
des Speciesbegriffs im ausgehenden achtzehnten Jahr-
hunderts vergleichen lässt. Gewiss wird man noch zahl-
reiche und bedeutungsvolle Analogien im Leben der
Zelle und dem der höheren Individualitätsstufen auf-
finden. Alter man wird auch einsehen, dass gewisse
komplizierte Organisationsverhältnisse und Funktionen
höherer Organismen nicht aus dem Leben der Zelle
heraus interpretiert werden dürfen, wie heute vielfach
angenommen wird. Denn die höheren Organismen sind
nicht nur Konglomerate einer grössern Zellzahl; sie
enthalten vielmehr wesentlich neues, das schon durch
das Zustandekommen des Organismus aus Teilen von
den Elementarorganismen verschieden ist und daher
nicht aus unsern Beobachtungen an der Zelle konstruiert
werden kann. Die Auffassung Ehrenbergs (18), der dem
Infusor alle Organe höheren "Wesens in nuce zuschrieb,
hat ihre berechtigte Korrektur erfahren. Ebenso aber
wird es auch denjenigen Ansichten ergehn, welche aus
einer der Ehrenberg' sehen entgegengesetzten Missdeutung
entspringen und welche auf der falschen Généralisation
zellulärer Erscheinungen berubn.
Es ist nun aber einzusehn, dass da auf dem Wege
der Zootomie tausende und aber tausende von Einzel-
beobachtungen gemacht worden sind, auch die Systema-
tisierung, die Ordnung dieser Thatsachen, nach denselben
Prinzipien, wie bei den ganzen Individuen erfolgen muss.
Nicht nur den Individuen kommt eine Klassifikation zu,
auch ihren Teilen. Diese können wohl mit Rücksicht
auf das zerlegte Individuum betrachtet werden, aber
schon hiezu bedarf es bei komplizierteren Organismen
einer Ordnung. Vollends, wenn wir die Teile, die sich
— H94 —
bei verschiedenen Organismen entsprechen, mit einander
vergleichen wollen. Auch hier ist der bestehende Sprach-
gebrauch bezeichnend: Wenn wir von „Organsystemen"
reden, so verstehen wir darunter Organverbände, denen
eine gemeinsame Funktion oder Entstehung zu Grunde
liegt. Logischer Weise sollte man aber meinen, es
handle sich bei diesem Ausdruck um die Systeme, wo-
nach die Organe zu verschiedenen Malen betrachtet
worden sind. Man ersieht schon hieraus, dass das in-
nere Bedürfnis, die Teile des Organismus nach denselben
Prinzipien zu behandeln, noch hinter dem nach Syste-
matik der ganzen Individuen zurücksteht.
Lehrreich hiefür ist auch die Thatsache, dass wir
neben hunderten von Museen, die sich die Pflege der
zoologischen Systematik angelegen sein lassen, fast nur ein
einziges besitzen, in dem die Pflege der „vergleichenden
Anatomie" nicht nur typentheoretischen und didak-
tischen Zwecken huldigt, nämlich die Sammlung am Royal
College of Surgeons in London. Dort allein wird für
die Teile der Tiere dieselbe Vollständigkeit angestrebt,
wie in so vielen Museen für die ganzen Organismen.
Wonach soll nun die Ordnung des zootomischen
oder allgemein anatomischen Stoffes vollzogen werden?
Zerlegung allein genügt nicht dem wissenschaftlichen
Bedürfnis und abgesehen davon, dass die Zootomie in
den Dienst der „zoologischen Systematik" gestellt und
auf die Gesamtwesen orientiert wurde, hat sie unter
zwei andern Gesichtspunkten einen systematischen Auf-
bau erfahren, unter dem der Funktion als allgemeine
Physiologie und unter dem der Entwicklung als „ver-
gleichende Anatomie" bezeichnet, in Wirklichkeit eine
Phylogenie der Teile des Individuums bildend und als
Ergänzung zu der über die Schranke des Individuums
hinaufreichenden Phylogenie der einzelnen Lebewesen.
— 895
Daraus ergibt sich für uns die Aufgabe, die Zoologie-
geschichte zunächst nach derjenigen Seite zu vervoll-
ständigen, nach der sich auf Grund der Zootomie die
Physiologie und „vergleichende Anatomie" herausgebildet
haben. Zuvor jedoch haben wir erstens die logischen
Beziehungen zwischen der Zootomie (allgemeine Ana-
tomie) einerseits und diesen beiden Disziplinen anderseits
zu erörtern und zweitens das Verhältnis von Physiologie
und Phylogenie unter sich.
3. Die Logik der Biologie.
a) Die herrschende Systematik der biologischen Disziplinen.
Versuche zu neuer Klassifikation der biologischen
Disziplinen haben bisher unverdient geringe Beachtung
gefunden. Es ist auch unser Plan nicht, eine neue
Klassifikation zu entwerfen; vielmehr nur in der nach-
folgenden Tabelle darzustellen, wie sich die hauptsäch-
lichsten und gebräuchlichsten Abteilungen der Biologie,
wie sie heute nun einmal vorliegen und bezeichnet
werden, logisch zu einander verhalten. Die Bezeich-
nungen der Disziplinen richten sich zunächst nach Ma-
terial und Methode, sodann auch nach der"geschichtlichen
Tradition und es versteht sich von selbst, dass in einer
vorwiegend empirischen Forschungsperiode die Bezeichnun-
gen häufiger gebraucht werden, welche auf der Gliederung
des Materials und auf Überlieferung beruhen. Auch
haben sich zwischen den durch eine bestimmte Methode
umschriebenen Disziplinen und den durch ein bestimm-
tes Material umschriebenen vielfach mehr oder weniger
innige Beziehungen ergeben, die sogar zur Bildung
„neuer" Wissenschaften geführt haben, so ist z. B. die
„Entwicklungsmechanik" weiter nichts als die Anwen-
dung der Physiologie auf die Embryologie zunächst,
— 396 —
dann aber auch in erweitertem Sinne auf organisches
Wachstum überhaupt. Aber auch Scheidungen haben
sich vollzogen. So hat die zoologische Systematik von
jeher zwei Richtungen des Forschens in sich enthalten,
entsprechend ihrem Prinzip: „genus proximum, diffe-
rentia specifica", nämlich eine analytische, aufFeststel-
lund der Art abzielende, und eine synthetische, die
Klassifikation bezweckende. Wir lassen hier und in den
nachfolgenden Ausführungen Botanik und Pathologie aus
dem Kreis unserer Betrachtungen.
Übersicht der zoologischen Disziplinen.
A. Nach der Methode:
i. Analyse: a) in Anwendung auf die ganzen Organismen:
Zoologische Systematik zum Teil.
b) in Anwendung auf die Teile der Organismen :
Zootomie oder allgemeine Anatomie.
2. Synthese: a) nach dem Gesichtspunkt der Funktion-.
Physiologie.
b) nach dem Gesichtspunkt der Herkunft:
Phylogenie: angewandt 1. auf die über
dem Individuum stehenden Einheiten :
Zoologische Systematik zum Teil. 2. auf
die unter dem Individuum stehenden Ein-
heiten: Vergleichende Anatomie zum Teil.
B. Nach dem Material:
/. Nach der durch Synthese gewonnenen zoologisch-syste-
matischen Klassifikation: (Prolozoenkunde bis Mam-
ma log ie).
2. Nach den zeitlichen und räumlichen Umständen der
Urkunden:
307
a) erwachsene Lebewesen der Gegenwart: verglei-
chende Anatomie zum Teil.
b) erwachsene Lebewesen der Vergangenheit: Pa-
laeoniologie.
je) in Entwicklung befindliche Wesen: Embryologie.
d) nach der räumlichen Verbreitung: Tiergeographie.
b. Die allgemeine Anatomie.
Die Anatomie ist die auf die konkrete Lebewelt
angewandte analytische Methode (,, Analysis situs" Leibniz).
Die heute anwendbaren Hilfsmittel haben es uns
leicht gemacht, in der Lösung dieser Aufgabe einen
relativ hohen Grad zu erreichen. Eine vollständige
anatomische Beschreibung, durchgeführt mit der zu
späterer Verwendung im Dienste der Vergleichung nö-
tigen Sorgfalt ist ein grosses Stück Arbeit, leider aber
heute etwas in Misskredit gekommen, in Vergleich zu so
vielen fragmentären Darstellungen, die nur das für eine
bestimmte Frage nötigste erraffen. Würde man be-
denken, wie viele Organismen auf Jahre hinaus nicht
mehr gesammelt werden, wie viele auch für immer ver-
schwinden, man würde wohl der rein deskriptiven Zpo-
tomie eine höhere Bedeutung zuschreiben, als dies
gegenwärtig geschieht.
c. Physiologie und Phylogenie.
. An und für sich hat keine durch Zergliederung
gewonnene Thatsache ihre Bedeutung. Sie erhält sie
erst dadurch, dass wir sie orientieren. Wie wir sie dem
natürlichen Zusammenhang entheben und einzeln hin-
stellen, so haben wir sie wiederum in natürliche Ver-
bindungen zu bringen. Entweder wir bringen sie, wie
das mit Organen meist geschieht, in Verbindung mit der
Klassifikation der Gesamtorganismen, oder wir reihen sie
— 398 —
den Systemen der Physiologie oder der Phylogenie des
einzelnen Teils ein. Auf alle Fälle hat dem durch
Analyse geschaffenen Thatbestande eine Synthese zu
folgen und zwar kann und muss jedes anatomische Faktum,
abgesehen von seiner rein praktischen Verwendung im
Dienste der Klassifikation der Gesamtorganismen, unter
zweierlei in unsern Denkformen begründete Fragen ge-
nommen werden.
Die eine dieser beiden Fragen ist die nach der
Funktion. Die Deutung, welche wir so einer Form geben,
bleibt indess so lange eine Hypothese, als nicht durch
Experiment oder Beobachtung eine Verifikation stattfindet.
Jedenfalls ist das Endziel dieser Deutung, das Verhältnis
zwischen Aussenwelt und Innenwelt des Organismus,
zwischen Reiz und Reaktion festzustellen. Darin stimmen
alle Physiologen bei sonst verschiedener Richtung überein.
Es gibt keinen Thatbestand in der organischen Natur —
und das gilt nun auch über die Teile des Individuums
hinaus, für die grossen Organismenverbände und ihre
Prozesse allgemeinster Art, — der sich nicht, wenn er
überhaupt deutbar ist, physiologisch deuten liesse, auch
wo die Kontrolle durch Experiment ausgeschlossen ist.
Die andere Frage ist die nach der Herkunft, nach der
Geschichte eines durch Anatomie gewonnenen Organi-
sationsverhältnisses, nach seiner Genese und zwar können
wir uns nicht mehr vergegenwärtigen, dass irgend ein
Organismus oder einer seiner Teile vorhanden sei, ohne
eine lange Geschichte hinter sich zu haben. Ja es giebt
auch keine Funktion, die sich nicht diesem Gesichts-
punkt unterstellen Hesse. Am lebhaftesten hat Preyer
diesem Gedanken Ausdruck verliehen. Diese Betrach-
tungsweise bezeichnen wir bekanntlich als genetische
oder nach ihrem Symbol des Stammbaums, die Phylogenie.
Für sie existiert zur Anwendung des Experimentes keine
— 39ü —
Möglichkeit. Doch wird ihr anscheinend weniger günstiges
Verhältnis zur Realität der Natur durch etwas anderes
ausgeglichen Die Physiologie kann experimentell nur
mit der existierenden Lebewelt verfahren, also mit einein
verschwindend kleinen Teil der Organismenwelt, die
wirklich existiert hat und die wir teilweise kennen.
Auch reisst der Faden unseres Einblicks in den Zu-
sammenhang der Erscheinungen ab, sowie wir konstatiert
haben, was für einen Reiz irgend eine Reaktion bei
irgend einem Organismus entspricht. Die Ursache aber
des Verhältnisses zwischen Reiz und Reaktion ist bisher
nicht ergründet worden und wird niemals ergründet
werden. Die Phylogenie anderseits hat mit der Orga-
nismenwelt, wenn auch nur in Bruchstücken, immerhin
über eine bedeutendere Breite ihrer gegenwärtigen und
ehemaligen Existenz an der Erdoberfläche zu thun. Dem
Gedanken von der mechanischen Einheit der Aussenwelt,
diesem Grundbegriff der Physiologie, setzt die Phylogenie
die Thatsache der Vererbung, also die genetische Ein-
heit mit gleicher logischer Berechtigung entgegen. Des-
halb ist die Ansicht, dass die Physiologie wegen der
experimentellen Methode logisch wertvoller, exakter,
wissenschaftlicher sei, als die Phylogenie, eine Über-
schätzung, die nur geschichtlich zu begreifen ist.
Bei der Verschiedenheit, womit die organische Natur
ihre Quellen der Forschung eröffnet, werden wir auch
für die Anwendung der einen oder andern dieser Syn-
thesen verschiedene Gelegenheit finden. Die niederen
Organisationsstufen, also die unvollkommen differen-
zierten Lebewesen und die Zellen und Gewebe der hö-
heren, besitzen eine grössere Anpassungsfähigkeit, sind
folglich auch geeigneter, experimentelle Eingriffe zu er-
tragen, versprechen für physiologische Betrachtungsweise
mehr Erfolg.
— 400 —
Die höheren Organisationsstufen, die Organe, Indi-
viduen und natürlichen Verwandtschaftskreise, besitzen
eine geringere Anpassungsfähigkeit; ihre Reaktionen zer-
legen sich ausserdem in kompliziertere Teilerscheinungen.
Die Möglichkeit der mit ihnen in ihrer Gesamtheit an-
zustellenen Experimente ist gering im Vergleich zu den
Möglichkeiten hei niedern Organisationsstufen. Schon
die Lebensdauer der höheren Organisation erschwert den
Versuch mit ihr. Die Physiologie hat sich daher auch
immer mehr nach der Untersuchung der niederen Or-
ganisationsstufen gewandt und wird auch voraussicht-
lich diesen Kurs noch beibehalten, der ihrer natürlichen
Entwicklung entspricht.
Die Phylogenie anderseits findet bei den niederen
Organisationsstufen zwar leicht Gelegenheit zum Anein-
anderreihen von Formen und sie hat hievon in ihrer
Kinderzeit auch reichlich Gebrauch gemacht, bis man
die Beliebigkeit dieser Zusammenstellungen einsah. Denn
es existiert nicht die geringste Aussicht auf eine solche
Vervollkommnung der erdgeschichtlichen Urkunden, dass
wir jemals über den wirklichen Ablauf der Differen-
zierung niederer Pflanzen und Tiere oder deren Teile
Auskunft erhalten werden. Dagegen hat sich die Zahl
der Dokumente, welche den Ablauf der Stammesge-
schichte bei den höheren Tieren darthun, dergestalt ver-
mehrt, dass die Palaeontologie wohl reichlich die Hälfte
der Argumente zur speziellen Stammesgeschichte der
Wirbeltiere und ihrer Organe gegenwärtig liefert. Aber
wie vom Standpunkt der Funktion aus jede höhere Or-
ganisationseinheit betrachtet werden kann, so kann auch
jede Funktion auf ihre Entstehung hin untersucht werden.
Es giebt zwar keinen Tierstamm, dessen Enstehung wir
nicht durch natürliche Funktionen zu erklären hätten;
ebensowenig aber gibt es eine Funktion, die nicht ent-
— 401
standen und von dem Entstehen ihres Substrates ab-
hängig wäre. Nur fehlen uns dazu die Dokumente und
wenn wir von den heute lebenden niederen Wesen ans
argumentieren, arbeiten wir mit Hypothesen, die umso
gewagter sind, je weiter die Entstehung einer Funktion
zurückliegt und je geringer die Möglichkeit ist, dass wir
jemals die Hypothese durch Auffindung realer Objekte
verifizieren werden. Die Phylogenie hat sich daher na-
turgemäss nach der Seite der höheren Lebenseinheiten
hin ausgebildet und wird ebenso wahrscheinlich, wie die
Physiologie in entgegengesetzter Richtung, diesen Kurs
vorläufig beibehalten.
Immerhin ist die Art, wie in zahlreichen theoretisch-
biologischen Werken gegenwärtig die Phylogenie gering
eingeschätzt wird, nicht in einer logischen Minderwertig-
keit der Phylogenie selbst zu suchen, wie man solchen
Urteilen zufolge, die übrigens nie geschichtlich begründet
auftreten, meinen sollte. Sie hat vielmehr ihren Grund
darin, dass die Physiologen die höheren Organismen
wenig kennen und ohne weiteres nur noch die simpeln
Mechanismen aus ihnen herauslesen, die so leicht an den
niederen Stufen der Organisation festzustellen sind.
(Vergl. pag. 898). Somit bringt es die natürliche Ent-
wicklung der Biologie mit sich, dass beide Arten der
Synthese auf verschiedenen Gebieten der Lebewelt ver-
schiedene Anwendung finden, die Physiologie besonders
auf die niedern, die Phylogenie vorwiegend auf die hö-
heren Organisationen. Ausserdem kommen aber der
Physiologie noch weitere Instanzen zu gute, die ihrer
ganzen Entwicklung sowohl, als auch ihrem gegenwärtigen
wissenschaftlichen Zustande für die Betrachtung der all-
gemeinen Anatomie ein Übergewicht über die PhylogemV
verschaffen.
26
402
Einmal ist schon die Anzahl anatomischer That-
sachen, die sich mit Hinblick auf ihre Funktion
deuten lassen, gross im Vergleich zu den phylogenetisch
deutbaren. Die Frage nach der Funktion findet auch
im naiven Empfinden des Menschen mehr Teilnahme,
als die nach der Herkunft, schon um des praktischen
Wertes willen, den wir an sie knüpfen. Der stärkste
rein wissenschaftliche Grund aber für die Praevalenz
der Physiologie ist ihr Anschluss an die exakten Natur-
wissenschaften, deren Durchführung auf dem organischen
Gebiete sie mit Recht zu sein beansprucht. Alle diese
Gründe sind zusammengekommen, ihr ein höheres Alter,
tiefere Durchbildung und zahlreichere Arbeitskräfte zu
sichern. Dies sind Umstände, die vom Standpunkt der
reinen Logik aus nicht in Betracht kommen, wohl aber
für den Einblick in die geschichtliche Bedingtheit der
gegenwärtigen Konstellation.
Nehmen wir nun einmal an, es baue sowohl die
Physiologie als auch die Phylogenie ihre Systeme aus,
so fragt es sich weiter, wie beide Systeme sich zu
einander verhalten werden. Die Palaeontologie hat uns
gezeigt, dass aus den Landtieren, von den Reptilien
bis zu den Säugetieren, wiederholt Wasserbewohner
geworden sind. Neben Ichthyosaurus, dem klassischen
Beispiel hiefür, sind eine ganze Reihe von Wasser-
Reptilien bekannt, die wir auf landbewohnende Rep-
tilien zurückzuführen haben, so die Plesiosaurier,
Simaedosaurus, Anguisaurus, die Thalattosuchier und
die Pythonomorphen. Innerhalb der Säuger sind es
die Robben, die Meerkühe und die beiden Gruppen
der Waltiere. An allen machen sich Organisationsver-
änderungen bemerkbar, die auf die Einwirkung des
Mediumwechsels zurückzuführen sind, also auf einen
direkten mechanischen Grund. Es kommen zum Teil
— 403 —
so weitgehende Ähnlichkeiten zustande, dass man ja
bis vor kurzem auf sie die Verwandtschaft zwischen
Ichthyosauriern und Walen begründen wollte. Der Nach-
weis der funktionellen Einheit, nämlich der Einwirkung
des Wasserlebens auf ein Landtier und alle daraus
folgenden Konsequenzen hat der stammesgeschichtlichen
Betrachtung des Phänomens nicht Eintrag gethan, son-
dern vielmehr erst die Bahn gewiesen. Die alte Auf-
fassung, dass, wie die Fische den höheren Wirbeltieren
vorangehen, wohl überhaupt Wassertiere den Landtieren
vorangegangen seien, war in ganz unzulässiger Weise
auf die Klassen der Wirbeltiere übertragen worden und
so hatte man auch die Cetaceen an den Anfang der
Säugetiere gestellt. Jetzt ist diese Auffassung als irrig
erkannt und die Wasserreptilien und Wassersäugetiere
werden als terminale, als Endformen aufgefasst, die auf
mehr oder weniger bekannte Stämme von Landtieren
zu beziehen und durch vielfach nachweisbare Zwischen-
glieder mit ihnen verbunden sind. Aus diesem Beispiel
erhellt wohl zur Genüge, dass Phylogenie und Physio-
logie sich nicht nur nicht stören, sondern gegenseitig
in ihren Zwecken fördern. Es kann diese Förderung
sogar so weit gehen, dass in Fällen, wo die stammes-
geschichtlichen Zwischenglieder fehlen, die physiologische
Analogie sie zu ersetzen imstande ist. Als Beispiel
hiefür seien die Riesenvögel der südlichen Hemisphäre
angeführt. Nur für eine Vogelfamilie, die Rallen, kön-
nen wir den Zusammenhang aberranter, flugloser End-
formen mit ihren flugfähigen Stammformen nachweisen.
Und doch können wir per analogiam für die sogenannten
Ratiten oder Laufvögel nur annehmen, dass sie in gleicher
Weise wie die fluglosen Riesenrallen aus flugfähigen
Vogelfamilien entstanden seien. Anderseits ist die Zahl
von Fällen übergross, wo physiologisch verbundene That-
sachen erst durch die Phylogenie ihre Erklärung finden.
— 404 —
Noch einen Schritt weiter und wir verstehen nun
auch, dass, da das reale Objekt eines und dasselbe ist,
ob wir es nach phylogenetischer oder physiologischer
Richtung deuten, es nebensächlich wird, ob wir den einen
oder den andern Weg der Deutung zuerst beschreiten
und es ist somit nur von der Beschaffenheit der be-
gleitenden Umstände einer Untersuchung abhängig, ob
wir zweckmässiger die eine oder die andere Synthese
zuerst vollziehen, ob wir von unserer Kenntnis der
Aussen weit und ihres Einflusses auf den Organismus
ausgehn, oder ob von der Thatsache der Einheit aller
Lebenserscheinungen auf Grund ihrer Entwickelung. In
manchen Fällen werden wir nur die eine oder andere
Deutung geben können ; selten beide.
Üblich ist allerdings noch die Nebeneinander-
stellung: Anatomie und Physiologie. Sie beruht auf
der Antithese: Form und Funktion, einem der tiefst
eingewurzelten und schon vom frühesten Unterricht an
missbrauchtesten Scholasticismen. Die Form ist die
Vorstellung der räumlichen Wirklichkeit. Auf ihr
beruht die Möglichkeit einer doppelten Schlussfolgerung:
Anfang — Ende, Geschichte — Funktion, Ursache
— Zweck, Phylogenie — Physiologie. So wenig als
irgend ein Naturforscher daran zweifelt, dass wir den
Zweck irgend einer Organisation verstelm werden, es
sei denn durch mechanistisch betrachtende Physiologie
ebenso wenig ist daran zu zweifeln, dass uns je eine
andere Ursache der Organisation zugänglich sein wird,
als die Entstehung der gesamten Lebewelt.
Nach dieser Feststellung der logischen Grundlagen der
biologischen Systematik, wird es klar sein, dass die Sys-
tematik der Teile des Individuums eine der der gesamten
Individuen durchaus ebenbürtige Aufgabe für unsere
Wissenschaft ist. Auch dies würde man beim Studium
— 405 —
theoretisch -biologischer Werke nicht glauben, die in
dieser Hinsicht gewöhnlich, bestenfalls an Bichat (5) an-
schliessen, wenn sie überhaupt darauf Wert legen, di<;
obersten Kategorien der biologischen Logik darzustellen
und gegen einander abzuwägen, was in der neueren Lit-
teratur meist ganz unterbleibt. Woher dieser logische
Sprung? Die „zoologische Systematik" hat sich soeben
zu mächtiger Höhe erhoben, indem sie sich aus einer
rein logischen in eine genealogische umbildete, Natur-
geschichte in des Wortes eigentlicher Bedeutung wurde,
Stammesgeschichte und Verbreitungsgeschichte. Sie legt
den höchsten Wert auf die grossen Kategorien des „Sys-
tems" und auf die Einteilungsprinzipien. Nur ihrer
Systembildung thut sie die Ehre geschichtlicher Dar-
stellung und Begründung an. Und die Kehrseite : Trotz
der Auflösung des Organismus in seine Teile und
Teilchen, der Erschliessung einer noch grösseren Mannig-
faltigkeit von Thatsachen, als sie die Individuen und
ihre Verbände darboten, vernachlässigt die Zoologie die
systematische Gruppierung dieser Thatsachen, unter-
schätzt das System, sobald es unter der Schwelle des
Individuums seine Anwendung finden sollte, vergisst ihre
Geschichte und ihre Werte.
Demnach erweitern wir die Zoologiegeschichte nach
der Richtung der Physiologie und „vergleichenden Ana-
tomie" nichtnur, um sie selbst dadurch zu ergänzen, sondern
es bedarf dieser Erweiterung auch im Dienste des logischen
Ausbaues der biologischen Systematik. Denn zur Kritik
der obersten Begriffe einer Wissenschaft gehört die his-
torische Begründung und dem Naturforscher sollte die
Analogie zwischen diesen obersten Begriffen und den
elementarsten Teilen des Organismus am allerwenigsten
fremd und eine blosse Metapher sein. Von einer durch
Spezialforschung zu erzielenden Weiterbildung der bio-
- 406 —
logischen Systematik erwarte man in dieser Hinsicht
nichts; denn sonst würden wir nicht immer wieder das
Schauspiel erleben, dass mit der Notwendigkeit eines
Naturereignisses spezialistisch und philosophisch ge-
richtete Perioden sich ablösen.
Wir bemerken von vorneherein, dass wir uns in
dem engen Rahmen, in den uns die Gelegenheit zwingt,
nicht eine ausführliche Darstellung der hier entwickelten
Absichten gestatten dürfen. Wir werden nur die Grund-
linien in der geschichtlichen Entwicklung der physiolo-
gischen und „vergleichend - anatomischen" Systematik
skizzieren, ihre gemeinsame Basis und ihre späteren
gegenseitigen Beziehungen. Die Anwendung der dabei
erworbenen Erfahrung auf die biologische Systematik
der Gegenwart mag späteren Ausführungen vorbehalten
bleiben.
Worauf wir den Hauptaccent verlegt wissen möchten,
das ist der Zusammenhang der Systeme bei den hauptsäch-
lichsten Autoren, insbesondere der grossen Kategorien
und ihrer Einteilungsprinzipien. Ferner die Auffassung
der Autoren vom Wert der Systeme im allgemeinen und
endlich die auf die Autoren einwirkenden Einflüsse der
materiellen und accidentiellen Umstände.
-1. Das Verhältnis der Medizin geschiente zur
Biologiegeschichte.
Wer sich gar nie mit Geschichte der Wissenschaften
beschäftigt hat. wäre geneigt zu glauben, dass hier ein
wohlgepflegtes Gebiet wissenschaftlicher Geschichtsfor-
schung existiere, aus dem sich eine solche Geschichte eines
einzelnen Problems leicht herausschälen lasse. Nur aus
Verzweiflung, so sollte man glauben, sei das Spezialisten-
tum darauf angewiesen, Flügelgeäder von Insekten und
— 407
Kieselpanzer von Diatomeen zu beschreiben, Achsen-
cylinderquerschnitte zu zählen, endlose Darstellungen
von Experimentreihen zu geben ; man sollte meinen, es
sei dies nun einmal das düstere Erbteil von uns Epi-
gonen, da in den grossen Angelegenheiten „nichts mehr
zu machen" sei. Ein solcher Standpunkt verrät nur,
dass das immense Gebiet der Wissenschaftsgeschichte
nicht nur unbekannt ist, sowohl seinem gegenwärtigen
Zustande, als auch seinen Zielen und Aufgaben nach,
sondern, dass das Spezialistentum geradezu noch ver-
hindert, dass wir von seinen Vertretern das philosophisch
Interessante aus ihren Gebieten erfahren. Von der Ge-
schichte der anorganischen Wissenschaften, der wir ober-
flächlicher Kenntnis nach eine sorgfältigere Durch-
arbeitung zutrauen, sei hier nicht die Rede, wohl aber
von der Geschichte der Biologie, speziell der zoolo-
gischen. Ihren Zustand haben wir einleitungsweise cha-
rakterisiert ; jetzt aber müssen wir anknüpfend an das
dort Gesagte noch einen naheliegenden Einwurf erledigen,
den man uns nach näherer Präzisierung der Fassung,
die wir den Teilen unserer Wissenschaft gegeben haben,
machen könnte. Mau wird uns nämlich belehren, dass die
Geschichte der Biologie und insbesondere der allgemeinen
Anatomie und der auf ihr aufbauenden Physiologie und
„vergleichenden Anatomie" nach dem berühmten Muster
Hallers auch bei spätem Medizinhistorikern berücksichtigt
sei. ^Wenn dies auch für gewisse Gebiete aus der Ge-
schichte der Biologie gilt, so ist aber einmal damit nicht
gesagt, dass den Mediziner diejenigen Facta interessieren,
die auch den philosophischen Biologen angehen, und
zweitens, kann dasselbe Factum eine ganz verschiedene
Deutung erfahren, je nachdem wir es medizin-historisch
oder biologie-historisch deuten und verbinden. Es wäre
undankbar und ungerecht, wollten wir nicht anerkennen,
408
dass die Medizingeschichte dem Biologen auch in ihrer
heutigen Form über die Geschichte seiner Wissenschaft
viel Interessantes bietet. Aber man übersehe nicht die
natürliche Trennung zwischen der Geschichte der medi-
zinischen Praxis und der Geschichte der in mehr oder
weniger engern Anschluss an medizinische Praxis ent-
standenen selbständigen Biologie. Dass es zweierlei sei,
die Natur um der Praxis willen und sie um der „Weis-
heit" willen zu studieren, dafür war bereits unter den
Hippokratikern das Bewusstsein lebendig und wir sollten
uns heute bei der Geschichtsbetrachtung der Einsicht
in diese Scheidung verschliessen? So besitzen wir denn
also erst Geschichte der Medizinpraxis und dem ent-
spricht auch der Zustand der Geschichte der Anatomie :
Sie ist vorwiegend antiquarisch betriebene Sammlung
menschlich-anatomischer Beobachtungen, ferner etwas
Geschichte des anatomischen Unterrichts und der Kunst-
anatoinie. Sie lässt uns im Stich für die Entwicklung
der Ideengänge der allgemeinen Anatomie und deren
Beziehungen zu denjenigen der Philosophie.
Die Nichtexistenz einer Physiologiegeschichte hat
schon Preijer (42) ausdrücklich beklagt. So vortrefflich
sein eigener Versuch war, diesem Übelstande durch eine
frisch geschriebene Skizze abzuhelfen, so lässt sich doch
ermessen, dass in ihr die wichtigsten Entdeckungen schon
den meisten Raum einnahmen und dass bei ihrer Aus-
dehnung auf nur 37 kleine Seiten die Geschichte der
physiologischen Systematik kurz wegkam.
5. Die Entwicklung der physiologischen Systematik.
• iemäss unsern Ausführungen über die Prävalenz
der Physiologie (pag. 402) schicken wir die Entwicklung
der Grundzüge des physiologischen Systems voraus.
Hiebei ist zu beachten, dass im Anfangszustande der
— 409
Wissenschaft Physiologie und „vergleichende Anatomie"
sich inniger berührten, da ja die Thatsachen für beide
Gedankenreihen näher beisammen und an Zahl relativ
gering waren, da ferner für die Physiologie das Experi-
ment nur in seinen einfachsten Formen vorhanden und
der Anschluss an die medizinische Praxis in weit höherem
Maasse gegeben war, als bei der spätem Entwicklung
unserer Wissenschaften. Ferner existierte Systematik in
Umfang und Inhalt des heutigen Begriffs noch nicht.
Sie ist erst eine Schöpfung der Schola, der auch die
freiesten Denker neuerer Zeit ihren Tribut entrichteten.
Hat doch kein geringerer als Hœckel, insbesondere in
seiner generellen Morphologie und seiner systematischen
Phylogenie, durch virtuose Anwendung dieses logischen
Instrumentes seine dauerndsten Erfolge erzielt.
Bei Aristoteles (1,2) durchdringen sich drei biolo-
gische Systeme, welche auch in der Konfiguration der
heutigen biologischen Systematik sich erhalten haben.
Einmal die x4.bstufung der gesamten Lebewesen, welche
die Grundlage unserer heutigen Klassifikation bildet.
Hierüber haben wir uns im Einzelnen nicht zu ver-
breiten, da diese Beziehungen ausser Diskussion und
in den Geschichtswerken der Zoologie genügend gewürdigt
sind. Aristoteles war nicht der erste Zootoni, denn seine
Einteilung der Teile der Tiere in gleichartige und un-
gleichartige hat er von Anaragoras übernommen. Aber
bei ihm tritt uns zuerst die doppelte Orientierung der
„vergleichenden Anatomie" entgegen. Einmal benutzt er
sie zur Herstellung seiner yévq /.téyiata, der grössten Tier-
gruppen, also genau so, wie sie heute noch dient. Ausser
dem aristotelischen Tiersystem kommt aber auch ein
anatomisches System zum Ausdruck, das dem System
der Individualstufen Hœckels seinem Prinzip nach wenig-
stens gleicht: Der Organismus baut sich auf aus Ele-
410
menten, Geweben, Organen. Zwischen die Lehre von
den letzteren und die Schilderung des Gesamtorganis-
nius schiebt sich — bezeichnend genug für das ästhetisch
betrachtende Auge des Griechen — eine Proportions-
lehre ein.
Dann aber, und hierin zeigen sich die Anfänge
einer wissenschaftlichen Synthese der zootomischen That-
sachen in physiologischer Richtung, konstatiert Aristoteles
die Übereinstimmung gewisser Funktionen auf Grund
ähnlicher Organisation. Er umschreibt die Aufgabe, die
allen Lebewesen oder einem Teil derselben gemein-
samen Zustände festzustellen und kommt dadurch zu
seinen biologischen Allgemeinbegriffen: Gemeinsam sind
Pflanzen und Tieren die Funktion der Ernährung, den
Tieren allein kommen zu Bewegung und Empfindung,
dem Menschen endlich die Vernunft. Sein Prinzip „den
Anfang damit zu machen, dass man zuerst die Erscheinuni)
erfasse, dann aber erst ihre Ursachen angebe und über
ihre Entstehung rede", enthält die Grundlage aller bio-
logischen Systematik, eine Grundlage, die unsern Be-
griffen Anatomie, Physiologie und Phvlogenie entspricht.
Das unumwunden anzuerkennen, sollten uns nicht die
spätem Umdeutungen hindern, welche darin bestehen,
dass die „Ursache" auf Grund der modernen Mechanik
in die Aussenwelt verlegt wurde und der Begriff der
Entstehung auf Grund der Entwicklungslehre eine ge-
waltige Erweiterung erfuhr. Dass Aristoteles weit über
alle seine speziellen physiologischen und anatomischen
Kenntnisse hinaus diese Systematik begründete, ist ein
seiner Begründung der zoologischen Systematik min-
destens ebenbürtiges Verdienst.
Noch im Altertum trat dieser rein philosophisch
gedachten und nur in der Tiergeschichte didaktischen
Zwecken angepassten allgemeinen Anatomie eine solche
— 411 —
an die Seite, die den Ursprung der Praxis anatomischen
Unterrichts an der Stirn trägt, diejenige Galens (2.1).
Sie hat sich auch mit wenigen Modifikationen nicht nur
innerhalb ihrer Sphäre erhalten, wo sie schwerlich durch
hesseres zu ersetzen sein dürfte, sondern durch selt-
samen Zufall ist es ihr auch jetzt noch möglich, die
Grenzen ihrer Domäne zu überschreiten. In den Büchern
de anatomicis administrationibus schuf Galen die Reihen-
folge: Knochen, Bänder, Muskeln, Nerven, Gefässe, Ein-
geweide, Herz, Lungen, Gehirn, immerhin weit entfernt
davon, dass er sie in klarer Aufeinanderfolge darböte.
Diese Systematik hat die Folgezeit beherrscht und ragt
noch tief in die Neuzeit hinein. Sie beruht darauf, dass
das Skelett gewissermassen als das Unvergängliche,
Starre nun einmal für den Unterricht die Grundlage
bilden musste und dass zuerst die mit ihm in direkter
Verbindung befindlichen Teile abgehandelt wurden. Erst
dann folgten die Eingeweide im weiteren Sinne desWortes.
Schon hier aber war von jenem Gedanken, den Men-
schen unter denselben Gesichtspunkten zu betrachten,
wie die übrige Welt, nichts mehr zu verspüren und wir
würden schon oft Wiederholtes aussprechen, wollten wir
nachweisen, wie stark diese praktische Auffassung mensch-
licher Anatomie Galen für das christliche Mittelaltei
prädestinierte. Auch in Bezug auf seine physiologische
Systematik blieb er (20) weit hinter Aristoteles zurück
und völlig im Banne der Praxis. Seine Unterscheidung
der Hauptfunktionen in animalische, vitale und naturale
und deren weitere Gliederung bezeichnet lediglich einen
Rückschritt und ein Hindernis, das sich auch noch zu
Beginn der Neuzeit dem aristotelischen System und
seiner weiteren Entwicklung in den Weg stellte. Später
hörte, wie bei Ricardus Ang/icus (43) überhaupt jede
Ordnung in der anatomischen Darstellung auf.
4lL>
Es erscheint heute nicht leicht, den Restauratoren
der Anatomie gerecht zu werden, wenn wir ihre Systeme
mit dem Galeri'schen vergleichen. Von den vorvesalischen
Anatomen der Neuzeit ordnete noch Guido (45) seinen
Text der Anatomie so: Kopf, Hals, Rücken, Arm,
Brust, Bauch, Bein, also nach den äusserlich sichtbaren
Regionen. Mundinus begann mit den Ventres : Bauch
höhle, Brusthöhle, Schädelhöhle und deren Inhalt und
gieng alsdann zu den Extrema über, die er nach ihren
Muskeln, Gefässen, Nerven und Knochen beschrieb.
Dieselbe Systematik behält ßerengar (11) bei. Sie trägt
doch wenigstens den Stempel einer Ordnung, wenn auch
einer rein praktischen, nämlich der Reihenfolge, in der
die Leichenzergliederung vor sich ging.
Man wird auch dieser Systematik der vorvesalschen
Anatomen nicht seine Anerkennung versagen wollen,
wenn man in Rücksicht zieht, dass sie gewissermassen
nur ein Begleitwort zur Sektion selbst bildete und falls
sie nichts anderes zu sein beansprucht. Den Grund-
gedanken der Biologie wird natürlich mit ihr keineswegs
entsprochen und deshalb durfte sie auch keine Anwen-
dung finden auf nicht der Sektionspraxis dienende Ana-
tomie. Deshalb mutet es uns sonderbar genug an, wo
wir diesem System in Werken mit wissenschaftlichen
Prätensionen später noch begegnen. So handelt Th. Lautli
(34) in seiner Geschichte der Anatomie, dem umfang-
reichsten Werk dieser Art, das Gehirn bei den Ein-
geweiden ab und die Geschichte der Hirnforschung in
der Geschichte der Splanchnologie, ein deutlicher Beweis,
wie eine solche Schablone noch über Jahrhunderte hin-
aus fortwirkt !
Dem gegenüber kehrt Vesal (54) zu Galen zurück.
Die Bücher seiner Fabrica tragen folgende Überschriften:
I. Knochen, II. Ligamente und Muskeln, III. Nerven
— 413 —
und Arterien, IV. Nerven, V. Ernährungsorgane und
Genitalien, VI. Herz und Lunge, VIT. Zentralnerven-
system und Sinnesorgane.
Man hat wohl die vielen Unterschiede, welche Vesal
von Galen trennen, mit Recht genügend hervorgehoben.
Aber auch abgesehen von der Rückkehr zu Galens
Systematik, hat Vesal an vielen und wesentlichen
Punkten seinen Nachfolgern den Fortschritt von Galen
und dem nächsten Augenschein zu neuen Verallgemeine-
rungen überlassen und, wenn auch seine Verdienste um
die menschliche Anatomie kaum hoch genug anzuschlagen
sind, so war es Severino, der die vergleichende Anatomie
umgestaltete, Enstachiiis, Aldrovandi und Coüer, die die
Embryologie begründeten, Varolius der die Sektions-
technik des Gehirns von Galen befreite und die Kennt-
nis dieses Organs um vieles mehr bereicherte als Vesal.
Während wir die Physiologie noch völlig im Dienste
der Medizin auf Grund Galens und damaliger Schulen
verankert finden und anderseits das praktische System
Vesals die Schulanatomie beherrschte, bildete sich, schein-
bar ganz spontan, bei C. Varolius (52) ein System der
Anatomie aus, das geschichtlich überaus interessant ist.
In der methodischen Einleitung zu seinen vier Büchern
Anatomie, die etwa um 1570 entstanden sein mögen, ver-
weist er für die Kenntnis der Knochen, Membranen, Bän-
der, Knorpel, Gefässe und „solcher Art Teile, die nur
der „Fachmann'- zu kennen braucht", auf andere Werke.
Ihm liegt vielmehr daran, das hervorzuheben, was den
Seelenkräften als Werkzeug dient und den „Edelmann
und Philosophen" interessieren kann. Aus dem Prinzip
des obersten Organs heraus soll die Notwendigkeit der
andern schrittweise verständlich gemacht werden. Er
handelt seine Anatomie nach folgenden Kategorien ab :
I.Buch: Nervensystem, Sinnesorgane, Bewegungsapparat.
— 414 —
II. Buch: Lebenswärme und Herz. Respiration und Lunge.
III. Buch: Digestion und Excrétion. IV. Buch: Zeugung
und Entwicklung.
Hiebei haben wir nicht seine einzelnen Kapitel-
überschriften wiedergegeben, sondern uns begnüg!, den
Inhalt unter grössere beute geläufige Rubriken zu sub-
summieren.
Dieses System konnte nur von einem aus der ari-
stotelischen Schule hervorgebenden Anatomen, konzipiert
werden ; denn es gibt den Grundgedanken der aristote-
lischen Systematik, wenn auch in der durch das Mittel-
alter umgekehrten Reihenfolge wieder. Varolius will auch
Philosoph sein, ja er ist als der erste Begründer einer
bewussten „Anatomie philosophique" der Neuzeit zu
bezeichnen. So verlegt er denn den Hauptaecent auf
den Menschen und deduziert von ilim aus alle die
Funktionen allgemeinster Art, die das ausgehende Alter-
tum als Frucht seiner Beobachtungen in ihn hinein-
verlegt hatte. Der einzige wesentliche Unterschied im
Vergleich zu Aristoteles ist der, dass Varolius im An-
schluss an Galen und die alexandrinische Schule und in
Übereinstimmung mit seinem Zeitgenossen Realdus Co-
lumbus im Hirn und nicht im Herzen das Seelenorgan
erblickt. Mit dieser Systematik der Anatomie trifft aber
Varolius nicht allein den Menschen. Ebenso zutreffend
hätte seine Einteilung an niederen Tieren abgeleitet
werden können. Eben darum ist sie auch eine allgemein
anatomische. Darin auch liegt der tiefgreifende Unter-
schied im Vergleich zu dem didaktischen Anatomiesystem
von Galen und zu dem sektionstechnischen der Restau-
ratoren. Varolius starb früh, seine wenigen ausgezeich-
neten Schriften wurden erst 1591 publiziert. Die folgen-
den Anatomen aber lehnten sich in ihren Systemen
entweder an das der Restauratoren oder an das Galens
415 —
an. Severino's |4(J) Schritten, welche ebenfalls aristote-
lische Grundlage verrieten, konnten, da sie erst 1645
zur Publikation gelangten, keinen Einfluss auf die
Weiterbildung der anatomischen Systematik ausüben.
Einen solchen können wir erst da konstatieren, wo
der Cartesianismus die Erbschaft von Aristoteles über-
nahm und auf ein erweitertes anatomisches Substrat fiel.
In derselben Zeit da Severinos Zootomia Democritsea
erschien, regte sich allerorts die Zootomie. Es ist die
Periode der Akademiegründuugen und der Tiergärten,
voran stand Paris mit dem Jardin du Roy und den
Anatomien der Tiere im Schosse der französischen Aka-
demie, über die uns noch heute der später erschienene
stattliche Band informiert (37). Die Seele der zootomischen
Bestrebungen in Paris ist Ckmde Perrault (41), der
Lionardo Frankreichs. Seine breiten Spezialkenntnisse
in der Tierzergliederung fanden in der cartesianischen
Philosophie ordnende Prinzipien. Unter allen mensch-
lichen Kenntnissen ist die der Lebewesen die schönste.
Die Punktionen, welche den Inhalt dieser Kenntnisse
bilden, werden durch die Organe hervorgebracht. In
diese erlangen wir durch Vergleichung mit Mechanismen
einen Einblick. So empfindet Perrault und stellt sich
daher die Aufgabe, die Prinzipien der Mechanik nicht
nur durch die anorganische, sondern auch durch die
organische Natur hindurchzudenken. Dabei gibt er für
eine Menge von Einrichtungen des Tierkörpers die Er-
klärung ihrer Funktion in dem Umfange des heutigen
Elementarunterrichtes in Zoologie. Als Einteilungs-
prinzip für die organische Mechanik verwendet er die
Funktionen allgemeinster Art und kommt dabei, ob
bewusst oder unhewusst ist nicht anzugeben, aber von
andern Gesichtspunkten aus auf ähnlich grösste Kate-
gorien wie Aristoteles. Gemeinsame Grundfunktion für
416 —
Pflanze und Tier ist der Stoffwechsel; den Tieren allein
kommt zu Bewegung und Empfindung, also Kraftwechsel.
Zeugung und Entwicklung lässt er als keinem Mechanis-
mus vergleichbar noch aus dem Spiel. Sowohl die Wert-
schätzung Perraults, der die Kenntnis der Funktionen
als den wesentlichen Inhalt der Naturkenntnis, wie auch
die Meinung, dass die Organe nur um der Funktion
willen da seien, folglich die Anatomie um der Physio-
logie willen, sind bis auf den heutigen Tag nachwirkende
Cartesianismen, die sich durch die Jatromechanik bis
in die gegenwärtige Physiologie hinein als Dogmen er-
halten haben. Man würde also Perrault nach heutigem
Sprachgebrauch als Schöpfer der „vergleichenden Phy-
siologie" bezeichnen.
Sein wissenschaftliches Postulat würde lauten : Er-
klärung des Organismus, seiner Funktionen und Formen
durch die Aussenwelt ; damit entspricht es vollauf den
Prinzipien der physiologischen Synthesenbildung. Nun
dachten aber seine Nachfolger aus dem Lager des fran-
zösischen Materialismus diesen Gedanken weiter ins
Molekularmechanische. Ganz besonders eigneten sich
auch die Gebiete der Zeugung und Entwicklung, die
Perrault aus dem Spiele gelassen hatte, hiefür. Ja noch bei
liiijjon (8), wo zum zweiten Male ein mächtiger Zu-
wachs an Tierkenntnis geschah, und durch ihn auf alle
weitere Zukunft, kommen dieselben Gedankengänge zum
Vorschein, die sich von 1640 an ausgebildet hatten.
Wie uns Bichat selbst sagt, war es Grimaud, der Phy-
siologe in Montpellier, welcher die Einteilung der
Funktionen von Aristoteles und Buffon übernahm und
Aveiterbildete, bevor Biohat mit der seinigen aultrat.
Doch geht aus alledem nur hervor, dass die Auffassung
der physiologischen Prinzipien Claude Perraults Gemein-
gut des französischen Cartesiani-mus, der aus ihm her-
417
vorgegangenen Schule von Montpellier und der Pariser
Zoologie von Buffern bis Bichat wurde. Auch Vicq d'Azyr
(53), der ein unausgebautes System der Funktionen
hinterlassen hat, lehnt sich vorwiegend hier an, wenn
auch bei ihm ein weiterer Faktor, dessen später zu ge-
denken sein wird, ins Spiel kommt. Schon war das
aristotelische Funktionssystem gefährdet durch den Aus-
bau der Zoologie und der vergleichenden Anatomie in
Paris, als auf Grund neuer, dem gesunden und kranken
Menschen entnommener Erfahrungsthatsachen ein gewal-
tiges systematisches Talent, Bichat (5) es stützte und
erweiterte. Bichats Einteilung der Funktionen und der
Organe nach ihnen ist bekannt. Schon die Bezeichnungen
vegetativ und animalisch gehn auf die aristotelische De-
finition der Pflanzen und Tiere nachweisbar zurück, auch
wenn Bichat die vegetativen Funktionen als organische
bezeichnet. Seine Einteilung der Verrichtungen lautet :
I. Verrichtungen, welche sich auf das Individuum beziehen :
1. Verrichtimg en des tierischen Lebens:
A. Sensationen.
B. Hirnverrichtungen.
C. Bewegungen.
D. Stimme etc.
E. Fortpflanzung durch Nerven.
2. Verrichtungen des organischen Lebens:
A. Verdauung.
B. Atmung.
C. Kreislauf.
D. Aushauchung.
E. Einsaugung.
F. Absonderung.
G. Ernährung.
H. Wärmeerzeugung.
27
418
II. Verrichtungen, welche sich auf die Gattung beziehen:
Zeugung etc.
Hiebei ist bereits ein Faktor im Spiel, den wir
rückgreifend noch zur Sprache bringen müssen. Das
ganze Jahrhundert hindurch hatte die Expérimental-
physiologie, namentlich seit ihrem Ausbau durch Haller
(28) mit steigender Macht sich zur Geltung gebracht. Sie
musste auch in die Systeme einbrechen und wäre es nur
gewesen, weil die zahlreichen Experimente erwähnt wer-
den wollten und Kapitelüberschriften erforderten. So
schon bei Vicq d'Azyr, so auch hier wiederum bei Bichat.
Das System wurde dadurch entwertet, dass es unter den
Einfluss der litterarischen Stoffverteilung geriet und zur
Kapiteleinteilung herabsank. Etwas ähnliches liesse sich
schon bei Varolius konstatieren. Von Haller an war es
selbstverständlich. So sind denn auch bei Bichat Stimme
und Nervenleitung den Sensationen, Hirnverrichtungen
und Bewegungen coordiniert, statt in sie eingereiht zu
werden. Noch stärker lockert sich das System der
organischen Funktionen. Hier wie auch in andern Fragen
der elementaren Auffassung der Biologie z. B. in der
Verlegung des Schwergewichts von der Organologie in
die Histologie brachte dieser impulsive, aber unaus-
gereifte Genius Verschiebungen zustande, die seither
unbesehen hingenommen wurden. „La vie est l'ensemble
des fonctions qui résistent à la mort," lautet seine be-
kannte Definition ; aber so sehr er bemüht war, dieses
Ensemble zu betonen durch ein System der Funktionen,
so hat er doch sich nicht ganz von dem äusseren Ap-
parat zur Ergründung der Einzelheiten losgerungen.
Auch ein anderer Einfluss von aussen wirkte auf
die physiologischen Systeme dieser und der nachfolgen-
den Zeit mächtig ein, das Erwachen der Chemie, welches
— 419
insofern zur Rückkehr auf Aristoteles verführte, als man
nun begann den Gedanken, dass die Gewebe aus Ele-
menten zusammengesetzt seien, im Sinne der modernen
Chemie zu interpretieren. Man suchte nach einer biolo-
gischen Einheit, da die H aller' sehe Faser versagt hatte
und fand sie nun im Stoff, lange bevor es dazu kam,
dass man sie in der Zelle erkannte. So kam die Syste-
matik von Dumas (17) zustande und auch Joli. Müller
(39) ist von dem Eindruck der chemischen Entdeckungen
so überwältigt, dass er seine Physiologie mit dem stoff-
lichen Substrat beginnt; auch folgt ihm Wundt (57) unter
Einbeziehung der Zellenlehre.
Das Gleichgewicht der physiologischen Systematik
stellten erst ßichats Nachfolger wieder her: Magendie
(35), Richerand (44) und H. M Une- Edwards (38).
Magendie möge hier selbst zu Worte kommen :
„Ohne uns hier bei einer Aufzählung der verschiedenen
zu verschiedenen Zeiten der Wissenschaft angenommenen
Einteilungen aufzuhalten, wollen wir bemerken, dass man
die Funktionen unterscheiden kann in solche, deren
Zweck ist, uns in Verbindung mit den umgebenden
Gegenständen zu setzen, in solche, welche die Ernährung
und in solche, welche die Wiedererzeugung der Gattung
bezwecken.
Wir werden die ersteren Beziehungsfunktionen
(fonctions de relation), die zweiten Ernährungsfunktionen
(fonctions nutritives) und die letzten Zeugungsfunktionen
(fonctions génératrices) nennen."
Richerand hatte das Verdienst, Hallers Gewebe-
physiologie nachdrücklich bekämpft zu haben, insbesondere
die Lehre von der tierischen Faser, welche für den
Physiologen dieselbe Bedeutung haben sollte, wie die
Linie für den Geometer. Er opponiert auch gegen Vicq
d'Azgrs Systematik, worin unter H aller schein Einfluss
— 420 —
Irritabilität und Sensibilität als besondere Funktionen
aufrückten. Nach einer Kritik der Bichat'&ch&n Bezeich-
nungen organisch und animalisch, nimmt er die Magen-
die'schen Bezeichnungen an und diskutiert den Wert
weiterer Gliederungen der Funktionen in geradezu klas-
sischer Klarheit, wenn auch mit beinahe totaler Blind-
heit für die Genese der organischen Natur, für die Ent-
wicklungsphilosophie, die damals in Deutschland bereits
aus dem Stadium nüchterner Fruchtbarkeit heraus-
getreten und in eine Orgie ausgeartet war.
An Magendie und Richerand schloss sich direkt
des ersteren Mitarbeiter und Schüler H. Milns-Edwards
an. Ihm war allerdings A. Dugès (16) mit der Durch-
führung einer vergleichenden Physiologie, worin er die
Ideen von Richat, Geoffroy (24), Cuvier und der Meta-
merentheoretiker von Montpellier eklektisch verarbeitete,
vorgeeilt. Mi Ine- Edwards nun gestützt auf die umfassend-
sten Kenntnisse der Zootomie, die wohl je in einer Person
sich vereinigten, ausgerüstet mit allen Hilfsmitteln und
die gesamte Litteratur bis auf seine Zeit kritisch über-
blickend, schuf das grundlegende Werk der vergleichen-
den Physiologie und Anatomie, dem kein späteres an
Breite des Erfahrungsmaterials und Sorgfalt der Aus-
wahl und Darstellung an die Seite zu stellen ist. Auch
darin gliederte er den Stoff nach den Prinzipien der
physiologischen Systematik seiner Lehrer und Vorgänger,
deren vorwiegend menschliche Physiologie er zu einer
allgemeinen Physiologie erweiterte. Er bildet damit das
Endglied in der langen Reihe physiologischer Systema-
tiker, die wir bisher durchgangen haben. Einen Versuch
in derselben Richtung, aber hinter Mi Ine- Edward s weit
zurückstehend, besitzt auch die deutsche Litteratur in
dem Werke von Bergmann und Leuckart (58). Aber nicht
Mi Ine- E<l war ds ist für die nachfolgende Physiologie
421
grundlegend geworden, sondern ein anderer Schüler
Magendies, Claude Bernard (3. 4). Seine Anschauungen
über allgemeine Physiologie sind von doppeltem Wert :
einmal vermitteln sie uns, wie kein anderes Dokument,
den Übergang von Magendie und der allgemeinen Phy-
siologie zur modernen Experimentalphysiologie. Sie leiten
hinüber zu den heute noch herrschenden Ansichten und
schon darum sind sie typisch und der Beleuchtung wert.
Sein allgemeinster von Magendie übernommener Grund-
begriff der allgemeinen Physiologie hat noch eine doppelte
Basis: Sie beruht darauf, im Organismus die vitale
Eigenart und die mechanischen Eigentümlichkeiten der
Aussenwelt, des Milieu zu studieren, unter deren Ein-
fluss die Vitalität der Gewebe sich äussert. Noch in
dieser Fassung ist herauszulesen, dass Bernard noch
dem Organismus „vitale Eigenart" zuerkennt. Ein mo-
derner Physiologe, der gleichzeitig auf dem Boden der
Descendenztheorie steht, würde sagen, damit sei mehr
ahnungsvoll als bestimmt die Anerkennung des im Or-
ganismus rein genetisch Gegebenen, der mechanischen
Analyse unzugänglichen ausgedrückt, (koordiniert damit
stellt er die physikalisch-chemische Eigenart der Aussen-
welt hin. unter deren Einfluss die Vitalität sich äussert.
(Der Zusatz: „der Gewebe" ist eine belanglose Kon-
zession an Bichat). Er gibt noch zu, dass für eine Ge-
schichte der Physiologie das Studium der ganzen mensch-
lichen und tierischen Funktionen nötig wäre; er aner-
kennt die Thätigkeit anderer, namentlich von Milnc-
Edwards auf diesem Gebiete. Er beschränkt sich selbst
auf Experimentalphysiologie, deren Einführung in Frank-
reich er als Hauptverdienst seines Lehrers Magendie
preist. Man beachte die prinzipielle Anerkennung einer
Biologie, die die „Vitalität", an deren Stelle wir die
phylogenetische Bedingtheit setzen, zugibt, die ferner
422
eine allgemeine Physiologie, also mechanistische Deutung
der Lebenserscheinungen einräumt, und nur als Teil
derselben, die Experimentalphysiologie. Die Beschrän-
kung auf letztere geschieht im vollen Bewusstsein der
Einseitigkeit, da diese im Interesse der Sicherheit liege.
Aus dieser eingestandenen Not ßernards haben erst
seine Nachtreter eine Tugend gemacht. Die vergleichende
Physiologie, zunächst in Milne- Edwards akademisiert,
wurde zurückgeschoben und schliesslich unbedeutend
erfunden, die andere Hälfte der Biologie überhaupt
eskamotiert. Das Endresultat ist die moderne Experi-
mentalphysiologie. welche alle biologische Systematik
zersetzte und für die der Organismus nur aus einer
Summe von Reaktionsmechanismen besteht, ohne alle
phylogenetische Bedingtheit, ohne Über- und Unterord-
nung der Funktionen. Damit war der Standpunkt er-
reicht, den die Lehrbücher von Johannes Müller (39) bis zur
Gegenwart auch in Deutschland einnehmen. Der be-
rühmte Berliner Physiologe selbst bezeichnet noch einen
Durchgangspunkt, ähnlich wie Claude Bernard. Sein
Erfahrungskreis war zu weit, als dass er die vergleichende
Physiologie ignoriert hätte. Auch legt er dem Handbuch
noch die BichcWsche Formulierung des Systems zu
Grunde. Er diskutiert noch die Einteilung (pag. 46) in
die Grundfunktionen, aber nur. um sie als Ausfluss einer
einzigen Vis essentialis zu erklären. Man ersieht daraus,
dass in diesem Punkte der Vernachlässigung des Systems
beide Richtungen, die experimentelle, der Mechanismus,
und die spekulative, der Vitalismus einer Ansicht ge-
worden sind. Eine neue Systematik ist in der Folgezeit nicht
mehr zur allgemeiner Geltung gekommen. In demselben
Umfange, wie etwa bei Joh. Müller lebte die alte fort, meist
mit Modifikationen, die auf den Ausbau dieses oder jenes
Gebietes in dereinen und andern Schule zurückzuführen
— 42H —
waren oder mit solchen, die von der Technik der Ab-
fassung eines jeden Buches bedingt waren. (Ludwig,
Wagner, ßudge, Hermann, Vierordt, Wandt, Bunge,
Tigerstedt, Morat et Dogon, Schenk und Gürber, Steiner
etc.) Dabei ist bemerkenswert, dass zur Zeit der stärkst
entwickelten Experimentalphysiologie die Physiologie der
Zeugung und Entwicklung verkümmerte, um erst von
Seiten der Botaniker und Zoologen mit grossem Erfolge
gepflegt, wieder als Entwicklungsmechanik in der Phy-
siologie selbst Eingang zu erhalten.
Die grossen Impulse, die Hœckel der biologischen
Systematik gab, fanden eine intensive Resonanz in den
Bestrebungen W. Pregers (42), welcher durch den Ent-
wicklungsgedanken die in den vorangegangenen Dezen-
nien einseitig experimentell ausgebildete Physiologie neu
zu beleben suchte. Nach ihm hatte die Verdrängung des
Vitalismus „eine starke Vernachlässigung allgemeiner
historischer und zusammenfassender Untersuchungen im
Gebiet der Physiologie zur Folge." Er empfand die da-
mals herrschende Vernachlässigung der Zeugungs- und
Entwicklungsphysiologie und suchte dem Bedürfnis nach
einer menschlichen Psychogenese zu entsprechen. Eine
mächtig anregende Wirkung ging von ihm aus, der Phy-
siologie noch unbenutzte Hilfsquellen, wie die marine und
die tropische Lebewelt dienstbar zu machen. Nach den
französischen Physiologen vom Anfang des Jahrhunderts
sprach er zuerst sich wieder in philosophischem Sinne
über den Zusammenhang seines Faches mit andern aus,
skizzierte auch Methode und Geschichte der Physiologie
in leider nie mehr erweiterten Umrissen. So hat denn
er auch sich zuerst wieder über die Grundfunktionen
des Organismus Rechenschaft gegeben und ein System
derselben entworfen, das eine glückliche Neuprägung
des bisher befolgten vorstellt. Im Gegensatz zu Bichat
— 424 —
nämlich stellt Preyer die Zeugungsfunktion nicht ausser-
halb derjenigen des Individuums und hebt das für die
grossen Funktionskategorien typische logische Element
hervor. Er bezeichnet die nutritiven Funktionen als
Stoffwechsel, die relativen als Kraftwechsel und die
generativen als Formwechsel und führt hiemit die Grund-
funktionen auch auf Grundformen des menschlichen
Denkens zurück. Für die speziellen Ausführungen sei
auf das kleine Buch Preyers selbst hingewiesen, das
eine Fülle von Ansätzen zur weiteren Gestaltung der
physiologischen Systematik enthält.
In ausführlicherer Form und Ausdehnung bringt
Preyers Anschauungen zur Geltung die Allgemeine Phy-
siologie von M. Verworn (58). Während Preyer die Phy-
siologie richtig definierte, greift Verworn wie Burdach
(10) und Dumas über das Gebiet der Funktionslehre
hinaus und will mit der Physiologie die gesamte Bio-
logie umspannen.
0. Die „vergleichend-anatomischen" Systeme.
Wenn wir nun entsprechend der Entwicklung der
physiologischen Systeme auch die „vergleichend-anato-
mischen" durchgehn; so ist zuerst an die Restriktion zu
erinnern, die wir uns von vornherein auferlegt haben.
Die grosse und handgreifliche Entwicklung der Phylo-
genie der Individuen und der höheren Kategorien, und
ihre Herausbildung aus der zoologischen Systematik
setzen wir als bekannt voraus, da sie ja den Hauptinhalt
der Zoologiegeschich.te ausmacht. Nur fragmentai' da-
gegen ist die Geschichte der „vergleichenden Anatomie"
der Organe und Gewebe bekannt. Ein einziger Ver-
such einer Geschichte der vergleichenden Anatomie, in
seiner methodischen Signatur am meisten an Spix erin-
nernd, existiert aus der Feder Oscar Schmidts (47) und
— 425 —
dieser ist auch bei zahlreichen Fehlern im Einzelnen,
was Kritik und Verarbeitung betrifft, ein so glücklicher
AVurf, dass wir das Unterbleiben des beabsichtigten
weiteren Ausbaues nur lebhaft bedauern müssen. „Von
den Universitätsjahren her, so sagt das Vorwort, hatte
ich in Ciwier den eigentlichen Schöpfer der vergleichenden
Anatomie verehrt, zwar in mancherlei Lehr- und Hand-
büchern von den früheren Anfängen dieser Wissenschaft
gelesen, ohne irgendwo zu linden, wie denn diese An-
fänge beschaffen gewesen seien, und mit welchem Rechte
man das wahre Leben der vergleichenden Anatomie als
ein so junges betrachtet. Als ich nun vor einigen Jahren
(loethes naturwissenschaftliche Arbeiten verfolgte, und
von ihm auch auf P. Camper und andere Zeitgenossen
geführt worden war, gab es sich von selbst, dass ich weiter
und weiter rückwärts tastete und mir aus der Lektüre
der Originalwerke die Geschichte der vergleichenden
Anatomie zurecht legte," . . . „wird meine Arbeit der
Erinnerung fähig, ja bedürftig sein. Es soll mich freuen,
wenn ich zu künftigen gründlicheren und umfangreicheren
Untersuchungen in diesem Gebiete den Anstoss und
die Grundlage gegeben habe." So sprach ein hochver-
ehrter Lehrer der uns vorangehenden Generation im
Jahre 1855, ein Forscher, dem niemand bestreiten wird,
dass er auf der Höhe der Empirie seiner Zeit gestanden
habe und der ausserdem in der bekannten Auseinander-
setzung mit Eduard von Hartmanns (29) Wahrheit und
Irrtum im Darwinismus als typischer Materialist das
kritische Sprachrohr der deutschen Physiologie gewesen
war. Und doch, was ist bezeichnender: dass er noch
Musse und Lust hatte, Curier zu lesen und von ihm
rückwärts zu schauen bis zum Beginn zur Neuzeit und
dadurch seiner wissenschaftlichen Person das Recht einer
historisch fundierten Kritik zu sichern oder: dass seine
426
berechtigte Zuversicht, grundlegend und anregend zu
wirken, einer nachfolgenden Generation keinen Eindruck
machte oder trotz dem geschätzten Namen ihres Urhebers
überhaupt entging?
Oscar Schmidts Darstellung fehlt vor allem das eine,
nämlich die Beziehung auf Aristoteles und folglich auch
der Einblick in den Zusammenhang der verschiedenen
biologischen Systeme. Weniger hoch würden wir an-
schlagen, dass die ganze von ihm entworfene »Skizze
nicht der philosophischen und medizinischen Bedingtheit
der vergleichenden Anatomie ganz gerecht wird. Ihn
ehrt vor allem die Gesinnung aus der sie entsprang.
Unsern Faden selbst wieder aufnehmend, müssen
wir konstatieren, dass die „vergleichende Anatomie" aus
verschiedenen Binnsalen zusammenfloss. Die erste und
hauptsächliche Richtung ist durch den Anschluss an die
zoologische Systematik gegeben. Die äussern Merkmale
genügten nicht mehr zur Unterscheidung der Arten, da-
her suchte man nach innern. Zweitens wäre diejenige
praktische Richtung zu nennen, welche einfach im An-
schluss an den Menschen sich ausbildete, wobei für die
rein wissenschaftliche Betrachtung gleichgültig ist, oh
wie bei Galen Affen und Haustiere zur Feststellung
anatomischer Befunde verwertet wurden, oder ob dies
geschah, weil die Tiere leichter experimentell zugänglich
waren, wie für die Physiologen. Beides führte zur
Feststellung von Übereinstimmung und Verschiedenheit,
jedenfalls zur Kenntnis des Baues, auch wo sie sich
nicht in den Dienst des zoologischen Systems stellte;
beides auch in erster Linie zur Erforschung von Organen
und Geweben. Im allgemeinen lässt sich wenigstens
das sagen, dass je tiefer die Stufen der Individualität
waren, auf die man hinabstieg, umso weniger günstig
für die ..vergleichende Anatomie," die vollends seit der
427
Zellenlehre und der Erweiterung der Verkehrsbe-
dingungen immer mehr zur Hilfswissenschaft der Phy-
siologie einerseits und der zoologischen Systematik
und Tiergeographie anderseits wurde. Ebenso wenig-
förderlich wirkte auf sie das Emporkommen der Embryo-
logie ein, die vielfach geradezu als Surrogat und nament-
lich für Unterrichtszwecke herhalten musste. So ist
denn das geschichtliche Bild der vergleichenden Ana-
tomie und späteren Phylogenie der Organe ein zerrissenes,
abhängiges und wechselvolles. Schon um einen sicheren
Anhaltspunkt für eine historische Beurteilung dieses
Faches zu gewinnen und um wenigstens das konstanteste
an der „vergleichenden Anatomie" hervorzuheben, müssen
wir daher nach der obersten Systematik der verschie-
denen Autoren fragen.
Severino muss noch das Unterfangen der Zootomie
mit sehr praktischen Rücksichten decken. Seine oberste
Einteilung richtet sich nach den Tiergruppen und
steigt von den Säugetieren abwärts, nach Aristoteles.
Ebenso auch bei allen älteren Zootomen, unter denen
namentlich G. ßlasius (6) und Valentin (51) zu ver-
zeichnen sind, später Buffon und Daubenton. Geradezu
chaotisch ist die vergleichende Anatomie von Blumen-
bach (7) angeordnet. Einer der ersten, der bei ge-
waltiger Ausbreitung anatomischer Kenntnis zum
System von Aristoteles und Perrault griff, war John
Hunter (31), der Begründer der klassischen vergleichend-
anatomischen Sammlung in London. Er legte der
Klassifikation der Organsysteme die Funktionen zu
Grunde und teilte sie in solche zur Erhaltung des
Individuums und solcher zur Erhaltung der Art ein;
die ersteren wiederum in die Assimilations- und Re-
lationssysteme. Es ist gewiss sonderbar, dass nicht
einmal seine Nachfolger am Royal College of Surgeons,
— 428 —
Owen (40) und Flower (19) dieses Verdienst zu würdigen
wussten. Durch Adoption des mechanistischen franzö-
sischen Systems berührte sich Hunter völlig mit dem
bedeutend jüngeren Bichat. Der Durchbruch einer ent-
wicklungsgesckichtlichen Auffassung der zoologischen
Systematik, der sich in Deutschland von Herder (30)
durch Goethe bis in die Naturphilosophie hinein immer
bewusster vollzog, die Umwandlung der logischen in die
genealogische Betrachtung der Tiergruppen konnte nicht
ohne Rückwirkung auf die Phylogenie der Organsysteme
bleiben, aber noch immer blieb die Phylogenie der
Organsysteme der der Individuen untergeordnet. Und
noch nicht einmal heute wird die Selbständigkeit dieser
Aufgabe allgemein verstanden und zugegeben.
Verfolgen wir zunächst den weitern Verlauf der
vergleichenden Anatomie in Frankreich. Durch Perrault
und Buffon (8) war sie in den Dienst der Physiologie und
der Kosmologie gestellt. Das allein macht verständ-
lich, warum Lamark (33) so revolutionär erschien, wa-
rum Etienne Geoffroy St. Hilaire (24) mit seiner phylo-
genetischen Auffassung des Skeletts und Galt (22) mit
seiner ebenfalls neuen genetischen Darstellung des
Nervensystems auf den heftigsten Widerstand stiessen.
Sie fielen bereits in die Zeit der durch Bichat hervor-
gerufenen Verschiebung der allgemeinen Anatomie nach
der Seite der Physiologie einerseits und der Herrschaft
Ouviers anderseits. Das Verhältnis Cuviers (60) aber
zu der Systematik der vergleichenden Anatomie wird
nur verständlich-, wenn wir in seine Bedingungen hinein-
blicken. Cuvier mit seiner deutschen Schulung war nicht
im Glauben der französischen Aufklärung aufgewachsen.
Die materialistische Auffassung Buffons von der Organi-
sation lag ihm fern. Bei der gewaltigen Arbeit, die er
in der Reformation der zoologischen Systematik vor sich
— 429 —
sab, hatte ihm die Zootomie nichts anderes zu bieten
als Hilfsmittel für das zoologische System. Als oberstes
betrachtete er bekanntlich, bereits von den Vorboten der
deutschen Naturphilosophie angehaucht , das Nerven-
system und dessen Lage im Körper. Dazu kommt als
weitere Instanz für seine allgemeinen Anschauungen in
Betracht, dass er in den „Ossemens fossiles" den Grund
zur vergleichenden Anatomie der ausgestorbenen Tiere
legte. Wie nebelhaft mussten ihm die Spekulationen
Geoffroys erscheinen, angesichts dem Zuwachs an wirk-
lichen Objekten, den er der vergleichenden Osteologie
beizufügen hatte! Und die vergleichende Osteologie,
also bereichert, wurde durch ihn geradezu zur ver-
gleichenden Anatomie par excellence; denn die damaligen
zusammenhanglosen und bestenfalls im Dienste der phy-
siologischen Betrachtung errafften Kenntnisse über die
vergleichende Anatomie der Weichteile schrumpften an
wissenschaftlichem Wert neben dieser Erweiterung der
Osteologie erbärmlich zusammen. Die Folgen dieser
Bedingungen liegen denn auch auf der Hand: Cuvier
acceptierte nicht das mechanistische französische System
der Funktionen und folglich auch der ihnen dienenden
Organe, sondern er ordnete seine Erfahrungen dem zoo-
logischen System ein, dasselbe damit neu gestaltend, und
griff für die vergleichende Anatomie auf das Galen-
VesaFsche System zurück. Hatten jene, weil das Skelett
das zweckmässigste und leichtest konservierbare Studiums-
und Unterrichtsmittel war, es an die Spitze gestellt, so
empfahl sich diese Einteilung umso mehr infolge der
Umgestaltung der vergleichenden Osteologie durch die
Paläontologie. Nach dem von Cuvier und zwar aus
seinen spätem Jahren stammenden Ausspruch, den wir
p. 391 zitiert haben, wird man einsehn, dass ihm dieses
Vorgehn keine Skrupel bereiten konnte. Es charakteri-
480
siert seinen exklusiven Teleologismus, dass er der bio-
logischen Mechanistik seiner zweiten Heimat so wenig-
Wert beizulegen imstande war und an ihrer Stelle ruhig
das weniger wissenschaftliche Galen'sche System adop-
tierte. Und nun geschah das Sonderbare , dass
nach Cuviers Tode auch sein vergleichend-anatomisches
System in Frankreich von der Bildfläche verschwand und
dem nicht an praktische Rücksichten geknüpften System
der Physiologen Platz machte, die die Organanatomie
vollständig in ihren Bannkreis zwangen, sofern sie nicht
anderseits in den Dienst der zoologischen Systematik
gezogen wurde. Dadurch wurde auch die Phylogenie
der Organe als selbständige Aufgabe in Frankreich voll-
ständig unterdrückt und es bedurfte später gerade noch
der Infektion der Naturforscher durch den Positivismus,
um jedes Sensorium für sie im Keime zu ersticken. In
//. Milne-Edwards mündeten gleichzeitig mit der Physio-
logie die wenigen Ansätze zur Phylogenie. Weit mäch-
tiger war die Einwirkung der Cuvier'1 sehen. Systematik
ausserhalb Frankreichs. In England wurde sie von
Owen (40) anstatt der Hunter' sehen, übernommen und
auch sein Antipode Huxley (32) entzog sich ihr nicht,
obwohl er ein aus ihr und der zoologischen Systematik
gemischtes System anwandte. Stärker wirkte Cuvier
auch auf sein eigentliches Vaterland zurück. Hier
schloss sich in dem grundlegenden Sammelwerk für ver-
gleichende Anatomie J. F. Meckel (86) ihm an, später
ohne alle nähere Begründung und zweifellos nur unter
dem Eindruck einer festen Tradition //. Slannius (49)
und in neuerer Zeit C. Gegenbau r (23) und R. Wieders-
heim (56). Joh. Müller hat uns keine vergleichende
Anatomie hinterlassen. Aber die Anlage der Myxi-
noiden-Monographie lässt vermuten, dass diese Fest-
setzung des Cuvier'1 sehen Systems in Deutschland von
— 431 —
ihm herrührt. Es würde wohl auch nicht schwer halten,
aus Kollegienheften seiner Schüler nachzuweisen, dass
er für die „vergleichende Anatomie" dem Galen-
Guvier'schen System folgte. Bei ihm kann dies auf
zwei Wurzeln zurückgehn. Entweder er that es aus
Hochachtung vor der empirischen Basis Cuviers, oder
aber im Anschluss an die Schule, aus der er selbst her-
vorgegangen war, an die Naturphilosophie. In ihr finden
wir neben Einwirkungen der französischen Physiologie
andere Gesichtspunkte die Systematik beherrschen.
Goethe und Oken schrieben in Zusammenhang mit der
Wirbeltheorie des Schädels, der Osteologie eine ganz
besonders geheimnisvolle Bedeutung zu, als dem obersten
und dem Seelen- und Vernunftorgan zunächst stehenden
Teil des Skeletts. Andere wiederum stellten das Gehirn
an die Spitze ihrer Betrachtungen und der Ausspruch
Burdachs (19): „Die Physiologie des Hauptes ist das
Haupt der Physiologie" führt uns mitten in diesen Vor-
stellungskreis, dem auch in Verbindung mit der Bichat' sehen
Systematik die Systematik von C. G. Carus (12) ent-
sprang.
Wir haben dieser Reihe der „vergleichend-anato-
mischen" Systeme nur noch ein kurzes Wort beizufügen,
das dem Einfiuss der Entwicklungstheorie und der Em-
bryologie gilt. Die Entwicklungstheorie ist ohne alle
Wirkung auf die grossen Abteilungen der „vergleichend-
anatomischen" Systematik geblieben. Einmal, weil die
„vergleichend-anatomische" Untersuchung in den Dienst
der Stammesgeschichte der Individuen trat und ihre Orien-
tierung folglich von der Phylo-genie der ganzen Lebewesen
erhielt. Zweitens weil ein grosser Teil des Interesses, das
früher der „vergleichenden Anatomie" zu teil geworden
war, sich andern Gebieten zuwandte, ganz besonders auch
der Embryologie. Nun hätte man erwartet, dass gerade
— 432 —
durch die Entwicklungsgeschichte der Organe und durch
die Keimblattlehre ein gemischtes System der Teile des
Organismus geschaffen werde. Aber noch ehe die Keim-
blätter zu einer solchen Systematik verwendet werden
konnten, kam die Einsicht in die Relativität ihres Wertes
empor, ganz abgesehen davon, dass eine auf sie be-
gründete Systematik ja nur für Metazoen hätte gelten
können. So wird denn als System für die Embryologie
in der Regel ein ecklektisches gewählt, worin der Ablauf
der ersten Entwicklungsvorgänge chronologisch geordnet
wird, während die Entwicklung der Organsysteme mit
Rücksicht auf ihren erwachsenen Zustand behandelt
wird. Damit ist auch dem schwachen Punkte der „ver-
gleichenden Anatomie" Rechnung getragen, den wir zum
Schluss dieses Abschnittes noch einmal hervorheben
müssen. Für die genetische Betrachtungsweise empfehlen
sich ihrem Erhaltungszustande nach, in erster Linie die
ganzen Organismen und zwar vorwiegend die höheren ;
von den Teilen derselben die Hartgebilde und alsdann
erst die Organe selbst, die sie ausgeschieden haben.
Eine Stammesgeschichte der übrigen Organe aber hat
nur Aussicht weiter zu kommen, wenn sie mit voller
Kenntnis der besser bekannten Teile des Gesamgebietes
der Phylogenie betrieben wird und wenn sie anderseits
zur Physiologie ein richtiges Verhältnis gewinnt. Worin
dies besteht, das soll im folgenden Abschnitt dargelegt
werden.
7. Das geschichtliche Verhältnis zwischen physio-
logischer und phylogenetischer Systematik.
Blicken wir nochmals zurück auf die beiden Ent-
wicklungsreihen der biologischen Systeme. Die obersten
Kategorien des physiologischen sind bei Ari.s/nfeles rein
wissenschaftlichen Absichten entsprungen. Wie ein roter
— 433 —
Faden durchziehn sie die Physiologie der Neuzeit bis
auf die Gegenwart. Traten bei Aristoteles die Ein-
teilungsprinzipien für die Funktionen zurück hinter denen
für die Gliederung des Organismus, so erhielten jene
erst eine spezifisch neue Begründung durch den Carte-
sianismus. Von Perrault wurde das Prinzip ihrer Er-
klärung in die Aussenwelt verlegt und damit einem
System der Funktionen, das analog den verschiedenen
Energieformen aufgebaut wird, vor dem auf den Aufbau
des Organismus aus seinen Teilen der Vorzug gegeben.
An dieses System haben sich alle Erweiterer und Mehrer
der Physiologie gebunden und es hat seinen vollendeten
Ausdruck bei dem letzten, auf Systematik den Haupt-
wert legenden Physiologen, H. Milne- Edwards gefunden.
Auch die neueste, mit Prei/er anfangende Systembildung
in der Physiologie bedient sich seiner. Abweichungen
von ihm fanden wir bedingt durch praktische Rück-
sichten des Unterrichts (Galen, Vesal), der menschlichen
Anatomie (Restauratoren), der experimentellen Methode
(Haller, Cl. Bernard).
Gleichzeitig wie die physiologische Systematik tritt
bei Aristoteles eine genetisch gedachte für die Teile des
Organismus hervor, aber ohne realen Erklärungsgrund.
Bei ihrem Wiedererscheinen in der Neuzeit lehnt sich
die „vergleichende Anatomie" zunächst an die mensch-
liche Anatomie an, ordnet sich später der zoologischen
oder der physiologischen Systematik unter. Entscheidend
wirkte die Bereicherung der Osteologie durch die Palä-
ontologie bei Cuvier, dessen Anschluss an die mensch-
lich-anatomische Systematik für die deutsche und eng-
lische Wissenschaft massgebend wurde, während in Frank-
reich mit H. Milne-Edwards die physiologische Syste-
matik ihre herrschende Stellung gegenüber der „ver-
gleichenden Anatomie" behielt. Dass unterdessen die
28
— 434 —
Entwicklungslehre durchbrach , vermochte weder die
modernen Entwicklungstheoretiker vom Cuiier- Vesal-
Galeri'schen System, das eine dem Wesen der „Ver-
gleichenden Anatomie" vollständig fremde Begriffswelt
auf sie übertrug, abzubringen, noch auch dem physio-
logischen System ein ebenso naturgemässes an die Seite
zu stellen.
Hieraus geht hervor, dass entsprechend der Ge-
meinsamkeit der Basis, worauf beide Disziplinen sich er-
hoben, die Physiologie sowohl als die „vergleichende
Anatomie," auch die Systembildung innerhalb des einen
Gebietes auf die innerhalb des andern zurückwirken
musste, wofern sie sich nicht an rein praktische Zwecke
band. Dabei ist es aber stets die Physiologie gewesen,
welche dominierte und die „vergleichende Anatomie"
ordnete sich ihr unter. AVeder der intensivere Betrieb
der Physiologie noch logische Superiorität würde sich
dafür ins Feld führen lassen, dass sie für die allgemeine
Biologie mehr zu bedeuten habe, als die Phylogenie.
Ihr Vorrecht erwächst lediglich aus solideren histo-
rischen Traditionen ihrer wissenschaftlichen Systematik
und aus dem Anschluss ihrer Grundlagen an die an-
organischen Naturwissenschaften.
Wenn wir die Fortschritte der zeitgenössischen
Phylogenie der Organe betrachten, so macht sich eine
Richtung geltend, die vom Einzelnen ausgehend Olivier
entgegengesetzt ist. Es ist der Übergang von der typen-
theoretischen Anschauungsweise zu einer auf individuelle
Variation begründeten. Die individuelle Variation eines
Organisationsverhältnisses muss allerdings festgestellt
werden können, ehe man die spezifische, generische
u. s. w. beurteilen will. Unter dem Einfluss des Ein-
blicks in die Bedeutung der Variation ganzer Organismen,
begann man, entgegen früherem Usus, die Variationen
— 435
von Skeletteilen, Muskeln, Gefässen und Nerven festzu-
stellen und in Zusammenhang mit dem Studium von
Missbildungen womöglich auf die Lebensbedingungen des
Organismus zurückzuführen. Was ist dies anderes als
Einführung eines physiologischen Gesichtspunktes in die
„vergleichende Anatomie"? Fernerhin wurden nach und
nach viele Organisationsähnlichkeiten bei solchen Orga-
nismen, die man früher als verwandt betrachtete, auf
Konvergenzanalogie zurückgeführt und damit frühere
systematische Verbände und vermeintliche Verwandt-
schaften aufgelöst z. B. die Wasserreptilien und Wasser-
säugetiere, die Laufvögel, die llochen. Von der Funk-
tion ausgehend hat Cope seine mechanisch-physiologische
Begründung der Phylogenie des Säugergel »isses unter-
nommen entgegen der typentheoretisch gedachten Tri-
tuberkulartheorie. Wir brauchen keine weitern Beispiele
dafür zu häufen, dass die wesentlichsten Fortschritte
der „vergleichenden Anatomie" in neuerer Zeit durch
„vergleichend-physiologische" Betrachtung zustande ge-
kommen sind, dadurch, dass man von den sichern End-
formen, deren mechanische Bedingungen durchsichtig
waren, ausging und nicht von hypothetischen Grund-
formen, welche dem ins Genetische umgedeuteten Typus
Ciwiers entsprachen. So bringt es denn auch die innere
Entwicklung der „vergleichenden Anatomie" mit sich,
dass sie nicht mehr bei der Galen-Cuvier' 'sehen Syste-
matik wird stehen bleiben dürfen, sondern zu der physio-
logischen wird übergehen müssen, da sie keine ebenso
wohl fundierte ihr an die Seite zu stellen hat. Noch
sind zwei Einwände zu erledigen, die man hiegegen vor-
bringen könnte. Der eine wäre der, es komme über-
haupt wenig auf die obersten Kategorien und auf die
ihnen zu Grunde liegenden Einteilungsprinzipien an.
Ihre Geschichte habe denn auch keinen weiteren Wert.
— 436 —
Es würde eine solche Auffassung in flagrantem Wider-
spruch stehn, mit dem, was jeder Zoologe für recht und
billig hält, wofern es sich um die ganzen Organismen
handelt, mit dem auch, was wie wir dargelegt haben,
einen Hauptbestandteil der Zoologiegeschichte ausmacht.
Was aus ihr allein in die Kompendien hinübergenommen
wird, sind, wie schon gesagt, die grossen Kategorien des
Tiersystems und da sollten nun dieselben logischen Be-
standteile innerhalb des Systems der Teile der Tiere
wertlos sein? Und ferner vergegenwärtige man sich die
Bedeutung der obersten Kategorien eines Systems für
die Auffassung seiner Einzelheiten. Die mittelalterliche
Unterscheidung: Gott, Mensch, Welt, was für Irrtümer
hat sie zur Folge gehabt, welche Hemmungen einer
natürlichen Auffassung erzeugt! Aber innerhalb der
Sphäre der „vergleichenden Anatomie" Hessen sich zahl-
reiche falsche Induktionen darauf zurückführen, dass
das G a len-Ciwier' sehe System der Organsysteme sich mit
grösster Zähigkeit festgesetzt hat, dass infolge desselben
die Hartgebilde für das logisch Avichtigste genommen
wurden, gleichsam als Urtypus des Wesens. Man ver-
gleiche nur das Schicksal der meisten osteologischen
und odontologischen Theorien. Zweitens wird man das
Aufstellen von Systemen überhaupt als veraltete wissen-
schaftliche Bemühung beurteilen. Dem ist entgegenzu-
halten, dass Systembildung weiter nichts ist, als Ord-
nung nach einheitlichen Prinzipien. Einer der grössten
Fortschritte der zeitgenössischen Biologie beruhte darauf,
dass in umfassendster Weise von Hœckel, im Einzelnen
von zahlreichen verdienten Forschern neu systematisiert
wurde. Vorwiegend allerdings mit Orientierung auf die
ganzen Organismen, während die Systematisierung der
anatomischen Teilgebiete zurückblieb. Die Ordnung der
organischen Welt nach den Gesichtspunkten der Physio-
487 —
logie und Phylogenie, oder um mit Hœckel zu reden,
nach Anpassung und Vererbung ist innerhalb der Ana-
tomie noch nicht in gleicher Weise vollzogen. Noch in
höherem Grade, als innerhalb der Tiergruppen bedarf
es hier des Ausgehens von den Anpassungserscheinungen,
von der Physiologie.
Wir brechen hier den Gang unserer Darstellung ab.
Die Aufgabe, die wir uns stellten, den Entwicklungsgang
der physiologischen und „vergleichend -anatomischen"
Systematik zu skizzieren, haben wir in ihren Grundlinien
durchgeführt. Für die Biologiegeschichte dürfte es sich
lohnen, den Faden aufzunehmen und weiterzuspinnen,
damit wir nach und nach in ebenso gründlicher Weise,
wie über die medizinische Praxis und die zoologische
Systematik, in die Entwicklungsgänge anderer Gebiete
der Biologie hineinblicken.
Naturgemäss würde sich fernerhin aus unseren
Studien ergeben, dass wir auf Grund dieses Entwicke-
lungsganges der biologischen Systematik, die Umgestal-
tung der „vergleichenden Anatomie" durch die Physio-
logie auch in diesem Punkte weiterführten. In Ver-
bindung mit dem heutigen Tatbestand wäre das mecha-
nistische System der Funktionen des Organismus auf
die Teile desselben zu übertragen, an Stelle der nun
historisch erläuterten künstlichen Gliederung eine den
natürlichen Beziehungen der Organsysteme zur Aussen-
vvelt und unter sich zu entsprechende zu setzen. Das
mag bei anderer Gelegenheit geschehn. Vorläufig genügt,
wenn das hier dargelegte, historisch und logisch begründete
Problem anerkannt wird.
438
Litteratur.
1. Aristoteles. Vier Bücher über die Teile der Tiere. Griechisch
und Deutsch von A. von Frantzius. Leipzig 1853.
2. Aristoteles, Tierkunde. Übers, v. Aubert u. Wünmer. Leipzig
1868.
3. CI. Bernard, Leçons de Physiologie expérimentale. Paris 1855.
4. CI. Bernard, Le la physiologie générale. Paris 1872.
5. X. Bichat, Allgemeine Anatomie, angewandt auf die Physiologie
und Arzneywissenschaft. Uebersetzt von C. H. Pfaff. Leipzig'
1802.
I). G. Blasii Anatome auimalium. Amstelodami 1681.
7. J. F. Blumenbach. Handbuch der vergleichenden Anatomie. III.
Aufl. Göttingen 1824.
8 G. L. Button. Histoire naturelle generale et particulière. Paris
1750-78.
9. C. F. Burdach, Vom Bau und Leben des Gehirns. Leipzig
1819.
10. C. F. Burdach , Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft.
Leipzig 1835.
11. B. Carpi Isagogce brèves, 1523. (Zweite Ausgabe.)
12. C. G. Carus, Lehrbuch der vergleichenden Zootomie. 1834.
13. J, V. Carus, Geschichte der Zoologie. 1872.
14. L. Choulant, Geschichte und Bibliographie der anatomischen
Abbildung. Leipzig 1852.
15. G. Cuvier, Histoire des Sciences naturelles. Paris 1841 — 1845.
16. A. Dugès. Traité de physiologie comparée. Montpellier und Paris
1838.
17. C. L. Dumas, Principes de physiologie. 2. Aufl. 1806.
18. Ehrenberg, Organisation der Infusionstierchen. Berlin 1830.
IM. W. Flower, Essays on Museums and other subjects connected
with natural history. London 1898.
20. CI. Galeni Pergameni De usu partium corporis humani libri
XVII. Nicoiao Regio Calabro interpr. Basileae 1553.
21. CI. Galeni Pergameni De anatomicis administrationibus libri novem.
Luffduni 1551.
— 439 —
22. J. Gall und Spurzheim, Anatomie [et physiologie du système
nerveux en général et du cerveau en particulier. Paris
1810.
23. C. Gegenbaur, Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere. 1898
und 1901.
24. E. Geoffroy St. Hilaire, Anatomie philosophique. Paris 1818.
25. E. Geoffroy St. Hilaire, Histoire naturelle générale. Paris 1854-
20. E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. Berlin
1866.
27. A. von Haller, Bibliotheca anatomica. Tiguri 1774
28. A. von Haller, Elementa physiologbe. 1757.
29. Ed. von Hartmann , Philosophie des Unbewussten. X. Aufl.
1889.
30. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch-
heit. Riga und Leipzig 1784.
31. E. Home, Lectures ou comparative anatomy. London 1814 — 28.
32. Th. H. Huxley, Handbuch der Anatomie der Wirbeltiere. Übers.
v. Ratzel. Breslau 1873.
33. J. Lamarck, Philosophie zoologique. 1809.
34. Th. Lauth, Histoire de l'anatomie. Strasbourg 1815.
35. F. Magendie, Précis élémentaire de Physiologie 1810 — 17. Paris.
■36. J. F. Meckel , System der vergleichenden Anatomie. Halle
1821.
37. Mémoires de l'Académie Royale des Sciences. La Haye 1731.
38. H. Milne -Edwards, Leçons sur la physiologie et d'anatomie
comparée. Paris 1837—80.
39. Joh. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen. 1844.
41». R. Owen, Lectures on the comparative anatomy and physiology
of the Vertebrate animais. London 1846.
41. Cl. Perrault, Essais de physique. Paris 1653.
42. W. Preyer, Elemente der Allgemeinen Physiologie. Leipzig
1883.
43. Ricardi Anglici Anatome éd. Tœply. 1900.
44. Richerand, Nouveaux élémens de physiologie. Paris 1833.
45. M. Roth, Andreas Vesalius Bruxellensis. Berlin 1892.
46. M. Aurelii Severini Zootomia Democritaea. Nürnberg 1645.
47. 0. Schmidt, Die Entwickelung der vergleichenden Anatomie.
Jena 1855.
48. J. Spix, Geschichte und Beurteilung aller Systeme in der Zoo-
logie. Nürnberg 1811.
440
49. H. Stannius, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbel-
tiere. Rostock 1846.
50. G. R. Treviranus, Biologie oder Philosophie der leitenden Natur.
Göttingen 1802—1822.
51. Valentini? Amphiteatrum zootomicum. Francofurti ad Mcenum
1720.
52. C. Varolii Anatomife libri IUI. Frankfurt 1591.
58. M. Verworn, Allgemeine Physiologie. III. Aufl. 1901.
54. A. Vesalii Bruxellensis De humani corporis fabrica. Basileœ
1543.
55. F. Vicq d'Azyr, Traité d'anatomie. Paris.
56. R. Wiedersheim, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der
"Wirbeltiere. Jena 1880.
57. W. Wunclt. Lehrbuch der Physiologie des Menschen, Frlangeu
18(15.
58. Bergmann und Leuckart, Anatomisch-physiologische Übersicht des
Tierreichs, Leipzig 1852.
59. 6. Cuvier, Vorlesungen über vergleichende Anatomie. Übers.
v. Fischer. 1802.
60. M. Foster, Lectures on the history of Physiology Cambridge
l!)U3. Kam mir erst nach Abschluss des Manuskripts zu
Gesichte, gibt mir aber keinerlei Veranlassung zu besondern
Bemerkungen.
Über Gewichtsänderung bei chemischen und
physikalischen Umsetzungen in geschlossenem Rohr
und über Hrn. Heydweillers Entdeckung.
Eine Einleitung
von
Georg W. A. Kahlbaum.
In Nr. 2 ihres vierten Jahrganges, vom 15. Oktober
1902, machte die „Physikalische Zeitschrift" Mitteilung
von einer grundlegenden Entdeckung, die, wenn sie sich
bewahrheitet, zu den schönsten und bedeutsamsten der
neuerdings so überaus erfolgreichen physikalischen For-
schung gehört.
Hr. Prof. Adolf Heydweiller in Münster berichtet
in der gedachten Zeitschrift folgendes:
,5 In Verfolgung der Untersuchungen über Gewichts-
änderungen bei chemischer und physikalischer Um-
setzung1), wurde die Gewichtskonstanz radioaktiver Sub-
stanzen geprüft, um festzustellen, ob die beobachteten
Gewichtsänderungen etwa in einem Zusammenhange mit
den Erscheinungen der Radioaktivität stehen könnten.
5 g radioaktiver Substanz von de Hcen in List-
Hannover'1) mit der Bezeichnung „konzentriert" und
sehr erheblicher Aktivität wurden in ein Röhrchen aus
V) Physikal. Zeitschr. Bd. 1. 1900. S. 527 und Drude. Annal.
Bd. 5. 1901. S. 394.
-i Vergl. /■'. Ciesel, Wiedemanu Annal, lid. 69. 1899. S. 91.
— 442
alkalifreiem Jenenser Glase 477 Il[ von 0,7 cm lichter
Weite und 13 cm Länge eingeschlossen und ihr Gewicht
mit einem gleichen Röhrchen voll Glasstücken von nahe
demselben Gewicht und Volumen mehrere Wochen hin-
durch verglichen.
Das Ergebnis war ein überraschendes. Es zeigte
sich ein kontinuierlich wachsender Gewichtsunterschied,
einer Gewichtsabnahme der radioaktiven »Substanz um etwa
0,02 mg in 24 Stunden entsprechend. Über die Einzel-
heiten der Untersuchung, die noch mehrfach Interes-
santes bietet, wird an anderer Stelle ausführlich be-
richtet werden. Die gesamte bisher beobachtete Ge-
wichtsäuderung beträgt bereits nahe 7> mg-"
Soweit das Tatsächliche in der Mitteilung Prof.
Heydweillers. Wie man sieht, handelt es sich bei dieser
kurzen Notiz zunächst um die sehr gerechtfertigte Wah-
rung der Priorität für diese wichtige Entdeckung. Je-
doch ist Hr. Prof. Heydweiller ein so ernster und sub-
tiler Forscher, dass auch einer so kurzen Mitteilung von
ihm grosse Bedeutung zukommt.
Es ist also festgestellt worden, dass eine Gewichts-
änderung in geschlossenem Glasgefäss statthat, -d. h.
dass wägbare Substanz Glas zu durchdringen vermag.
Welcher Art diese Materie sei, das bleibe zunächst
gänzlich aus dem Spiel.
Die Frage, ob Gewichtsänderung in geschlossenem
Glasgefäss möglich, ist des öftern aufgeworfen worden;
in letzter Zeit bekanntlich besonders von Hrn. Lan doit
in Berlin, der derselben mit ausserordentlicher Sorgfalt
und Mühwaltung nachgegangen ist und noch nachgeht.
Es ist bekannt, dass die auf Wasserstoff = 1 be-
zogenen Atomgewichte in einer Mehrzahl von Fällen
von einer ganzen Zahl nur um recht geringe Wrerte
44:î
abweichen, und dass diese ganz geringen Abweichungen
zwar nicht völlig verschwinden, aber auch, trotz der Ver-
feinerung unserer analytischen Methoden, nicht nennens-
wert wachsen. Es ist weiter bekannt, dass, auf diese
Tatsache hin, der englische Arzt William Prout in einer
1815 erschienenen Arbeit behauptet hat, dass die Atomge-
wichte einfache, geradzahlige Multipla des Wasserstoffs
= 1 seien, woraus sich ableiten liesse, dass die ver-
schiedenen Elemente nichts anderes als verschiedene Ver-
dichtungsphasen einer Urmaterie, zunächst einmal des
AVasserstoffes, seien. —
Begreiflicherweise erregte diese sogenannte Prout'sche
Hl/pol hese ein ungeheueres Aufsehen, und das um so
mehr, als die uns heut geläuligen Zahlen, auf H = 1
bezogen, damals nicht gebräuchlich waren, wenn auch
Poggendorffs1) Bemerkung, Prout habe überhaupt als
erster den Wasserstoff zu Grunde gelegt, falsch ist; das
tat schon Da/ton -).
Zwar niemals in unbestrittener Geltung stehend, er-
hielt diese Hypothese doch wieder einen gewaltigen
Stimulus, als Dumas und Stas, 1840, fanden, dass das
Atomgewicht des Kohlenstoffes mit 12,0008 im Gegen-
satz zu des Berzelius wiederholter Festlegung mit 12,23,
ebenfalls der Regel Prouts zu folgen schien. War doch
Stas selbst, offenbar durch den Erfolg der Bestimmung
des Kohlenstoffs, zu Prouts Anschauungen bekehrt, und
begann er seine mit unerreichter Sorgfalt durchgeführten
Arbeiten, die zu dem unumstösslichen Satz führten, dass
die Atomgewichte nicht durch ganze Zahlen ausgedrückt
') Handwörterbuch lid. 2. Spalte 539.
'-) Die Entstehung der Dallonschen Atomtheorie. Deutseh von
Kahlbaum. Monographien aus der Geschichte der Chemie, Heft 2.
1898. S. 27 u. Tafel 3.
444
werden dürfen'), ursprünglich, um das Gegenteil zu be-
weisen.
Fest steht also, dass die ermittelten Werte zwar mit
Dezimalen behaftet sind, immerhin in ihrer Mehrzahl
von ganzen Zahlen nur sehr wenig abweichen.
Es darf also die Frage aufgeworfen werden: Sind
nicht etwa besondere, andere Gründe und Ursachen da-
für haftbar zu machen?
Das ist, 50 Jahre nach Prout, 1865 durch Marignac
bereits geschehen.
Wir wissen, dass die beiden grossen Gasgesetze,
welche die Änderung des Volumens aller Gase bei Druck-
und Temperaturwechsel regeln, keine absolute Gültigkeit
haben ; und ebenso ist es bekannt, dass das gleiche von
dem Gesetze der konstanten Atomwärmen gilt.
Mit Bezug auf die beobachteten Abweichungen bei
den beiden ersten Gesetzen, meint nun Marignac'2)'. Man
könne die Hypothese Prouts neben die Gesetze von Boglc
(Marignac nennt es 1865 natürlich noch nach Mariotte)
und Gay-Lussac stellen, und eine wesentliche Ursache
annehmen, aus der die Einfachheit, die Geradzahligkeit
der Verhältnisse der Atomgewichte abzuleiten sei, dazu
aber noch sekundäre Ursachen, denen die geringfügigen
Abweichungen von der absoluten Gültigkeit des Gesetzes
zuzuschreiben seien.
Es wird sich nun weiter fragen, welcherlei x4.rt
können denn diese sekundären Ursachen sein, die eine
solche störende Einwirkung auszuüben imstande sind?
J) Untersuchungen über die Gesetze der chemischen Propor-
tionen, über die Atomgewichte und ihre gegenseitigen Verhältnisse.
Leipzig, Quandt und Händel 1867. Begonnen wurden diese Arbeiten
Stils' bereits 1860.
-') Liebig, Annal. Supplbd. +. 1865-66. S. 206.
— 445 —
Marignac selbst hat sich darüber nicht ausgelassen,
dagegen hat Lothar Meyer ausdrückliche Antwort darauf
erteilt.
In seinen „Modernen Theorien" sagt er darüber:
„Es ist wohl denkbar, dass die Atome aller oder
vieler Elemente doch der Hauptsache nach aus kleineren
Elementartheilchen einer einzigen Urmaterie, vielleicht des
Wasserstoffes, bestehen, dass aber ihre Gewichte darum
nicht als rationale Vielfache von einander erscheinen,
weil ausser den Theilchen dieser Urmaterie, etwa noch
grössere oder geringere Mengen der vielleicht nicht ganz
gewichtlosen, den AVeltraum erfüllenden Materie, welche
wir als Lichtäther zu bezeichnen pflegen, in die Zu-
sammensetzung der Atome eingehen.
Es ist das eine Hypothese, die nicht unzulässig er-
scheint und, obwohl sie zur Zeit weder erwiesen noch
widerlegt werden kann, doch in weiterer Ausführung
vielleicht zukünftig lohnende Früchte zu tragen vermag,
wenn sich auch für den Augenblick die Gewinnung solcher
noch nicht erwarten lässt1)."
So wie der Ausspruch Mariannes als Erwiderung
auf den Satz von Sias : ,.Ich betrachte somit die
Prouhche Hypothese als eine reine Täuschung, und die
für unzersetzbar geltenden Körper als voneinander ver-
schiedene Wesen, welchen keine einfache Beziehung der
Gewichte untereinander zukommt" 2), anzusehen ist, so ist
hinwiederum Lothar Meyers Betrachtung direkt durch
Marignacs Überlegung gezeitigt worden. Sie erscheint
denn auch erst, in direkter Verbindung mit dem
Namen des Genfer Forschers, in der 2. Auflage der
„Modernen Theorien" 1872, während die erste Ausgabe
1864 nichts davon enthält. Seiner Ansicht ist Lothar
') Lotkar Mener, Moderne Theorien 1872. 2. Ann. S. 293.
2) Liebig, Annal. Supplbd. 4. 1865-1866. S. 170.
446
Meyer dann aber treu geblieben, denn das am Morgen
seines Todestages, 11. April 1895, an die Verlagshandlung
»osandte Manuskript der 6. Auflage bringt dieselbe nocb
wörtlich wieder.
Der Welt- oder Lichtäther, der Träger der Fern-
wirkung, wird heut im allgemeinen nicht für absolut
schwerelos angesehen. Seine Schwere ist z. B. von
Qrmtz1) zu angenähert 10— 17 von der des Wassers be-
rechnet worden. Wenn das Boyle'sche Gesetz strenge
Gültigkeit hätte, und die Temperatur konstant bliebe,
würde danach die Dichte der Luft bereits 33 Meilen
über der Erdoberfläche die gleiche wie diese des Äthers
sein2).
Man sieht also, dass auch Materie, im gewöhnlichen
Sinne des Wortes, von der Dichte des Äthers keines-
wegs undenkbar ist.
Wenn also der Äther auch nicht völlig schwerelos
ist, so ist er immerhin so leicht, — der in einer Säule
atmosphärischer Luft von einem Quadratmeter Quer-
schnitt und 30 Meilen3) Höhe enthaltene Äther würde
0,0022 mg wiegen4), — dass er sich, in der Form, in
welcher er in der Atmosphäre enthalten ist, der Wägung
mit unsern heutigen Mitteln entzieht.
Nun ist aber eine wohl als allgemein gültig anzu-
sehende Regel die, dass alle Körper an ihrer Oberfläche
Luft verdichten. Wie so viele andere, habe auch ich.
bei meinen vielfachen Arbeiten im Vakuum, unzählige
dahingehende Beobachtungen gemacht, so dass ich zu
der Annahme geführt wurde, dass alle Oberflächen mit
einem dicken Polster verdichteter Luft überzogen sind.
!) L. Grutz. Wiedemann Amial. Bd. 25. 1685. S. 171.
2) L. Grœlz-, a. a. 0. S. 172.
3) Mittlere Erdatmosphärenhöhe.
4) L. Grœtz, a. a. 0. S. 171.
— 447
Diese Ansicht - - von der an den Oberflächen ver-
dichteten Luft — hat der Botaniker Karl Wilhelm Nägeli
in München 1H84 auf den Äther übertragen, der dadurch
in einen Zustand überginge, in dem er auch für unsere
heutigen Mittel wägbar sein könnte. Nach ihm sollen
die, die Atome zusammensetzenden, „Ameren" von einer
solchen Hülle wägbaren oder Schweräthers umgeben
sein.
Ich gehe hier auf Nägelis Theorie der Ameren nicht
näher ein, sondern verweise auf die Einleitung zu Hrn.
Landolts: „Untersuchung über etwaige Änderung des
Gesamtgewichtes chemisch sich umsetzender Körper1),"
die ich mir, wie hier, auch sonst bei meinen einleitenden
Sätzen, natürlich zu nutze gemacht habe.
An die Besprechung der Ameren-Theorie schliesst
Hr. Landoll folgende Sätze an: „Macht man auf Grund
dieser Nägeli'' sehen Anschauungen die zulässige Annahme,
dass die Schwer älhcr hüllen der verschiedenen chemischen
Atome ungleich dicht sein werden, so muss, wenn in dem
Molekül einer Verbindung ein Element sich durch ein
anderes ersetzt, an der eintretenden Gewichtsänderung
auch die veränderte Menge des wägbaren Äthers Anteil
haben." — Dieser Satz ist zweifellos richtig und die
Annahme sicher gestattet. Nun heisst es aber weiter:
„Somit könnte der Fall eintreten, dass bei sehr genauer
Wägung das Gesamtgewicht zweier Körper vor und nach
ihrer chemischen Umsetzung nicht völlig gleich gefunden
wird, indem eine gewisse Menge ponderablen Äthers
aus- oder eingetreten ist. Das gleiche wäre möglich,
wenn der Äther von den Atomen chemisch aufgenommen
wird."
1) H. Landolt, Mathematische und naturwissenschaftliche Mit-
teilungen aus den Sitzungsber. d. K. Akad. der "Wissenschaft, zu
Kerlin. Jahrg. 1893. S. 187.
448
So wie es hier gesagt wird, berechtigt die Prämisse
nicht zu dem daraus gezogenen Schluss.
Es sei A das Gewicht eines Atomes und a das Ge-
wicht der dazugehörigen Schwerätherhülle, die gleiche
Bedeutung mögen haben B und b, C und c, D und d.
Es möge sich nun umsetzen:
(A + a) (B + b) und (C + c) (D + d)
zu
(A + a) (D + d) und (C + c) (B + b).
Dabei würde niemals eine Änderung des Gesamtgewichtes
zu konstatieren sein können. Eine solche würde erst
dann möglich sein, wenn die weitere Prämisse zuträfe,
dass mit einem, sagen wir kurz, Wechsel der Affinität,
in allen oder einzelnen Fällen eine Änderung der Masse
der Schwerätherhülle einträte, also wenn, — es seien
die geänderten Massen der Atherhüllen durch griechische
Buchstaben angedeutet, — im günstigsten Falle, aus
(A + a) (B + b) und (C + c) (D + d)
würde
(A + a) (D + Ô) und (C + y) (B + ß).
Ob eine solche Annahme gemacht werden darf, ist aller-
dings fraglich; mir erscheint sie zulässig.
Ohne auf weitgehende Spekulationen einzutreten
und unter Zugrundlegung rein mechanischer An-
schauungen, von denen jedoch noch ausdrücklich betont
werden sollte, dass:
„dies alles nur sind Schemen
zum Gebrauche für's Katheder",
könnte etwa folgendes ausgeführt werden. Das Auftreten
der chemischen Verwandtschaft zweier Stoffe kommt zu-
— 449 —
nächst zum Ausdruck in der Sprengung bestehender und
der Bildung neuer Molekular verbände. Innerhalb eines
solchen wird sie sich etwa betätigen können durch eine,
gegeneinander zu und voneinander ab gerichtete .
schwingende Bewegung der Atome. Grössere Verwandt-
schaft könnte sich dann z. B. durch kleinere Amplituden
und kürzere Schwingungsintervalle geltend machen. Es
wird kaum anzunehmen sein, dass Atome von Stoffen
entfernterer (!) Verwandtschaft in engeren und häufigeren
Beziehungen zueinander stehen werden, wie solche von
grösserer Verwandtschaft.
Lassen wir diese Annahme gelten, so würde es nicht
gezwungen erscheinen, vorauszusetzen, dass bei diesem
Wechsel im Rhythmus der Atombewegung auch die
Ätherhüllen in Mitleidenschaft gezogen werden; ob im
Sinne einer Lockerung oder Verdichtung, bleibe zunächst
aus dem Spiel. Jedenfalls aber würde, da unter allen
Bedingungen eine Umlagerung nur im Sinne einer Be-
I 'ii h (jung engerer Verwandtschaft zueinander stattfinden
kann, anzunehmen sein, dass diese Änderung auch stets
nur in einem Sinne verlaufen kann, zum mindesten für
endotherme Reaktionen einer- und exotherme Reaktionen
andererseits.
Meiner Auffassung nach, sollten alle freiwilligen Uni-
on! nungen stets mit einer Abnahme der umhüllenden
Athermasse Hand in Hand gehen; denn je dichter die
indifferente Hülle ist, um so weniger wird sich die ver-
schiedene chemische Natur der Atome, aus der ja der
grössere oder geringere Grad der Verwandtschaft der
Stoffe zu einander resultiert, geltend machen können.
Handelt es sich dagegen um eine Umlagerung im
Sinne einer Änderung der physikalischen Konstanten,
also z. B. Polymerisation, so lässt sich die Frage, ob
eine Zu- oder Abnahme eintreten wird, aphoristisch
2'.»
— 450
nicht entscheiden, dagegen müsste die Änderung unter
allen Bedingungen nach den beiden Richtungen entgegen-
gesetzt verlaufen.
Der Schlusssatz in Hrn. Landolls Erwägung: „Das
gleiche wäre möglich, wenn der Äther von den Atomen
chemisch aufgenommen wird," bleibt natürlich zu Recht
bestehen, und jetzt, aber auch jetzt erst, dürfen wir den
Vordersatz gelten lassen: ., Somit könnte der Fall ein-
treten, dass bei sehr genauer Wägung das Gesamtge-
wicht zweier Körper vor und nach ihrer chemischen
Umsetzung nicht völlig gleich gefunden wird." Dabei
müsste nach den oben entwickelten Anschauungen in
allen Fällen eine Abnahme des Gewichtes stattfinden.
Als eine andere Fehlerquelle bei der Bestimmung
des exakten Gewichtes chemischer Verbindungen vor
und nach dem Umsatz wäre noch denkbar, dass die
Schwere nicht auf alle Substanzen mit völlig gleicher
Intensität wirke. Dass dieselbe aber praktisch nicht in
Betracht kommt, darauf hat Hr. Landoll v) bereits hin-
gewiesen, ich brauche also hier nicht damit zu rechnen.
Dagegen ist man über die Masse des um die Atome oder
mit denselben verdichteten Äthers völlig im unklaren.
Nach unserer Auffassung ist das All mit Äther er-
füllt, derselbe durchdringt alles und bewregt sich überall
frei hin-, für ihn gibt es kein Hindernis.
Nehme ich nun in einem geschlossenen Rohr eine
chemische Umsetzung vor, und konstatiere dabei eine
Gewichtsänderung des Gesamtsystems, so wäre — sub-
tilste Beachtung aller möglichen Fehlerquellen selbst-
verständlich vorausgesetzt — eine solche allein aus einer
Änderung des Athergehaltes im Glasrohr erklärlich.
Daraus aber würde einmal x\ufschluss gewonnen
darüber, in Avelcher Grössenordnung der Schweräther an
]j Luudoll, a. gl. 0. S. 189.
451 —
dem Gesamtgewicht der Stoffe etwa beteiligt ist, und
weiter, darüber, ob ein Wechsel in der Masse des Äthers
die analytischen Befunde soweit fälschen könnte, dass
darin die Abweichung von der strengen Gültigkeit der
Prout'achen Hypothese ihre Erklärung fände. —
Solche Versuche sind in geringerem Umfange im
Jahre 1891 in Berlin vonKreichgauer1), und, in viel aus-
gedehnterem Maasse und mit stupendester Sorgfalt durch-
geführt, 1892 von Landolt, in der mehrfach genannten
Arbeit, veröffentlicht worden.
Die Umsetzungen, die Hr. Landolt vornahm, waren:
1. Silbersulfat und Ferrosulfat in Silber und Ferri-
sulfat
Ag2 SO* + 2 Fe SÛ4 = 2 Ag + Fe2 (SO^s.
2. Jodsäure und Jodwasserstoff in Jod und Wasser
HJO3 + 5 H2 SO* + 5 KJ = 6 J 1 5 KHSO4
+ 3 H2 O.
3. Überführung von Jod in Jodwasserstoff mit Hülfe
von Natriumsulfit
2 J + 2 Na2 SOa = 2 Na J + Na,- S2 Og und
2 J + Na2 SOs + H2 O = 2 HJ + Na2 SO*.
4. Umsetzung von Chloralhydrat und Ätzkali in
Chloroform und Kaliumformiat
CCI3 - CH(OH> + KOH = CCla H
+ CHK02 -1 H2 O.
Welche besondern Gründe zur Wahl gerade dieser
Reaktionen geführt haben, wird nicht ausdrücklich be-
tont, vielleicht gibt aber die folgende Überlegung, die
der Hr. Verfasser anstellt, darüber Aufschluss:
*) I). Kreichgauer, Einige Versuche über die Schwere. Verh.
d. physik. Gesellschaft zu Berlin. Jahrg. 10. 1891. S. 13.
452
„Hält man an der Vorstellung des wägbaren Äthers
fest, so muss, wenn bei diesen Reaktionen eine Zu- oder
Abnahme des Gewichtes eintritt, diese davon herrühren,
dass die zwei neu gebildeten Substanzen einen andern
Athergehalt besitzen als die beiden ursprünglichen.
Bleibt das Gewicht unverändert, so könnte dies aller-
dings davon herrühren, dass bei dem chemischen Umsatz
nur eine andere Verteilung des Äthers stattfindet, und
die Summe desselben in den vor und nach der Reaktion
vorhandenen Körpern die gleiche bleibt. Bei der grossen
Verschiedenheit der betreffenden Substanzen ist jedoch
dieser Fall wenig wahrscheinlich."
Nach dem weiter oben gesagten wird uns das je-
doch kaum Ausschlag gebend erscheinen.
Das Endresultat seiner Untersuchung fasst Hr.
Lundolt in folgende Worte zusammen: „dass bei keiner
der angewandten Reaktionen sich eine Gewichtsänderung
mit Bestimmtheit hat konstatieren lassen. Wenn solche
dennoch bestehen sollten, so sind sie, wie die Versuche
über die Abscheidung von Silber und von Jod gezeigt
haben, von einer derartigen Kleinheit, dass dadurch die
stöchiometrischen Rechnungen in keiner Weise beein-
flusst werden. Demzufolge ist auch die der ganzen
Arbeit zu Grunde gelegte Frage, ob die Abweichungen
der Atomgewichte von ganzen Zahlen etwa davon her-
rühren, dass bei den chemischen Umsetzungen der Körper
eine gewisse Menge wägbaren Äthers aus- oder eintritt,
im verneinenden Sinne entschieden
In physikalischer Hinsicht dürfte es dagegen wohl
Interesse bieten, die nicht genügend aufgeklärten Ge-
wichtsabnahmen, welche sich bei der Reduktion von
Silber und Jod stets gezeigt haben, durch eine Reihe
weiterer Versuche auf ihr wirkliches Bestehen zu prüfen.
4:):;
denn es herrscht immerhin keine vollständige Sicherheit
darüber, dass dieselben sämtlich auf Beobachtungsfehlern
beruhen1)."
Dies der Schluss von Landolts klassischer Arbeit
den man ohne Zweifel wird ganz und voll unterschreiben
können. Seither hat der ausgezeichnete Forscher diese
Untersuchungen fortgesetzt, seine Resultate jedoch nur
mündlich der kgl. Akademie der Wissenschaften mitge-
teilt. Nach einem Bericht in der Naturw. Rundschau,
die mir leider im Original nicht vorgelegen hat, hat er
bei diesen Studien, sowohl bei der Auflösung von Chlor-
ammonium in Wasser als bei der Einwirkung von Jod-
säure auf Jodwasserstoff, merkliche Gewichtsverminde-
rungen beobachtet -).
Die Versuche Landolts sind von Hrn. Heydweiller
zu dem Zweck aufgenommen worden „einmal die That-
sache durch weitere Beobachtung auch bei andern Re-
aktionen sicherzustellen, sodann den Versuch zur Auf-
rindung von Gesetzmässigkeiten und Beziehungen zu
andern mit der Umwandlung verbundenen Änderungen
physikalischer Eigenschaften zu machen3)."
Da uns hier allein die Frage nach einer möglichen
Grewi'chtsänderung in geschlossenen Glasgefässen be-
schäftigt, so können wir von einer Betrachtung des
zweiten Teiles von Heydiceillers Aufgabe absehen, und
wollen wir uns nur an den ersten halten.
Heydweiller hat sowohl chemische wie physikalische
Phänomene studiert: Umsetzung von Eisen und Kupfer-
l) Landoll, a. a. 0. S. 219.
-) Naturw. Rundschau. Bd. 17. 1902. S. 118. Vergl. auch Heyd-
weiller, Physik. Zeitschrift. Bd. 3. 1902. S. 425.
:; Heydweiller, Über (rewiehtsänderung bei chemischer und
physikalischer Umsetzung. Physikal. Zeitschrift. I!d. 1. 1900.
s. ;»27.
— 454 —
sulfat; Kaliumhydroxyd mit Kupfersulfat; von Chlor-
baryum mit Schwefelsäure ; Lösung von Kupfersulfat in
sauren und neutralen Medien u. s. w.; u. s. w.
Aus seinen äusserst sorgfältigen Beobachtungen
leitet Hr. Heydiveiller folgendes Resultat ab: „Als
sicher festgestellt kann man also die Gewichtsänderung
betrachten: bei der Wirkung von Eisen auf Kupfersulfat
in saurer oder basischer Lösung, bei der Auflösung von
saurem Kupfersulfat und bei der Wirkung von Kalium-
hydroxyd auf Kupfersulfat1)."
Hinzuzufügen ist noch, worauf Heydiveiller hin-
Aveist, dass die Frage, ob die Gewichtsänderungen den
Reaktionsmengen proportial sind, sich nach den vor-
liegenden Versuchen nicht entscheiden lässt.
Dagegen sind alle — die jüngsten Landolt' sehen
Versuche mit hineinbezogen — mit Sicherheit beobachteten
Gewichtsänderungen in der Tat Abnahmen.
Der Wert dieser Abnahmen ist allerdings ein ausser-
ordentlich geringer, er übersteigt nur in 4 von 23 bei
Heydiveiller-) aufgezählten Fällen 0,1 mg. Im Mittel
betragen die Gewichtsänderungen 0,05 mg, sinken aber
in einzelnen Fällen bis auf 0,001 mg herab. In der-
selben Grössenordnung etwa bewegen sich die Beobach-
tungen Landolts. Auf 100 g Reaktionsmasse trifft bei
ihm eine Gewichtsänderung von im Mittel 0,05 mg gegen
einen wahrscheinlichen Wägungsfehler von im Mittel
0,012 mg3). Bei Hrn. Heydiveiller verhält sich das Ge-
wicht der Reaktionsmasse zum Gesamtgewicht etwa wie
2 zu 3, bei Hrn. Landolt schwankt das Verhältnis zwischen
1 zu 9 und 4 zu 7.
i) Het/diceiUer, Drude Annal. I'.d. 5. 1900. S. 418.
-i Eeydweiller, Physikal. Zeitschrift. I'.d. 1. 1900. S. 528.
3) Landolt, a. a. 0. S. 217.
— 455 —
Man siebt, dass die Versuchsbedingungen in Anbe-
tracht der sehr geringen Gewichtsänderungen nicht gerade
besonders günstige genannt werden können.
Weiter leiden die Untersuchungen, wenn man sie
von dem Standpunkte des Versuches : festzustellen, mit
welcher Masse etwa der Schweräther am Gewicht der
Substanz beteiligt ist, betrachtet, auch an dem Mangel,
dass sie immer nur nach einer Richtung verlaufen, dass
keiner von ihnen umkehrbar ist. Denn weder die Lö-
sungsversuche Heydweülers, wie er das auch selbst be-
tont1), können ohne weiteres umgekehrt werden, noch
braueben, wie das oben gezeigt wurde, die Versuche
Landolts, bei deren einem Jod ausgeschieden wird, wäh-
rend es bei dem andern in eine Verbindung eingeht, im
entgegengesetzten Sinne zu verlaufen.
Dieser Mangel an Umkehrbarkeit wirkt um so stö-
render, als, wie gezeigt, bisher nur Abnahmen sicher be-
obachtet sind, und alle jene Fehler, die aus dem doch
einmal nicht ganz vermeidlichen Abputzen der Apparate
resultieren, nach derselben Richtung wirken müssen, und
werden die hierdurch möglichen Fehler mit der Oberfläche
des Apparates, und damit auch mehr oder minder mit der
Menge des angewandten Reaktionsgemisches, wachsen
müssen. Auch die bei den chemischen Reaktionen auf-
tretende Wärme kann, selbst wenn das ganze System auf
niederer Temperatur gehalten wird, da wo die Umsetzung,
von Molekel zu Molekel wirkend, etwa hart an der Glas-
wandung vor sich geht, im gleichem Sinne störend wirken.
Nach alldem was gesagt ist, würden die günstigsten
Umstände zur Erreichung des oben präzisierten Zweckes
— Bestimmung der Grössenordnung der Menge, mit
welcher der Äther an dem Gewicht eines Stoffes beteiligt
ist, — etwa die folgenden sein:
i) Heydicviller, Physika!. Zeitschrift. Bd. 3. 1902. S. 425.
456
Ausführung eines umkehrbaren Prozesses, der sieh,
nach beiden Richtungen innerhalb enger, von der mittleren
nicht weit abweichenden Temperaturgrenzen abspielt, und,
ohne besondere äussere Reizmittel vor sich gehend, einen
weitgehenden Umbau der Molekel zur Folge hat, dabei
selbstverständlich die Glaswandungen nicht angreift
und, das Verhältnis der Reaktionsmasse zum Gesamt-
gewicht möglichst zu Gunsten der er st er en zu ver-
schieben, wie überhaupt die Verwendung von Massen,
die allein von der Tragfähigkeit der Wage abhängig
sind, erlaubt.
Ein Stoff, der allen diesen Anforderungen entspricht,
ist z. B. das Zinn in seinen beiden Modifikationen, dem
weissen und dem grauen Zinn. Über diese beiden Zinn-
modifikationen ist in jüngster Zeit eingehend von Dr.
Karl Schaum in Marburg und besonders auch von Prof.
Ernst Cohen in Amsterdam gearbeitet worden. Nach
der Auffassung des letzteren befindet sich „unsere ganze
Zinnwelt stets in metastabilem Gleichgewicht1)"
und das in dem Sinne, dass sich an kälteren Tagen eine
langsame Umwandlung in die graue, an wärmeren eine
solche in die weisse Modifikation vollzieht; der Umwand-
lungspunkt liegt bei + 20° C.
Ich kann, auf die schon genannten, interessanten
Arbeiten verweisend"2), hier über die, sich auf die Um-
wandlungs-Temperatur und Zeit beziehenden, eingehenden
Studien hinweggeben, und will nur mitteilen, was ich, über
die günstigsten Bedingungen zur Umwandlung von weissem
1) Cohen. E. und van Eijk, Zeitschrift f. physikal. Chemie.
Bd. 30. 1899. S. 621.
-) Schaum, K., Liehig Annal. Bd. 308. 1899. S. 29; Cohen, E.
und Éijk, C. von. a. a. 0. S. 601; Cohen, E.. Zeitschrift f. physikal.
Chemie. Bd. 33. 1900. S. 57; Bd. 35. 1900. S. 588; Bd. 36. 1901.
8. 513.
457
in graues Zinn, einer freundlichen brieflichen Mitteilung
des Hrn. Prof. Cohen, vom 24. Hornung 1901, ver-
danke.
Hr. Prof. Colteil schreibt: „Ich selbst arbeitete in
der letzten Zeit meistens bei — 3° C, erhielt jedoch auch
bei 0° C. gute Resultate. Bringen Sie einen Teil der
Probe: alkoholische Pinksalzlösung mit gewöhnlichem
Zinnfeilicht, in Ihren Eisschrank und ich zweifle nicht,
dass Sie in 6 Wochen eine deutliche Umwandlung her-
vorrufen werden. Die Darstellung von 100%. grauem
Zinn nimmt sehr lange Zeit in Anspruch." — Schaum
gibt einen Fall an, in dem er stengliges Zinn, das er
in geschlossenen Glasröhren 5 Monate hindurch in die
Kälteflüssigkeit einer Linde' sehen Eismaschine hing, ganz
in die graue Modifikation übergeführt hat ').
Schaum hat mit Animpfen von grauem Zinn keine
günstigen Resultate erzielt, -) wogegen Cohen und van Eijk
das Gegenteil behaupten. 3) Die Wahrscheinlichkeit spricht
für die letztere Annahme.
Schaum hat gewöhnliches Zinn weder bei Behand-
lung in Kohlensäure-Ather noch in nüssiger Luft um-
wandeln können,4) und Cohen und van Eijk haben fest-
gestellt, dass die günstigsten Bedingungen in der Tat
bei erheblich niederem Temperaturen geboten werden.5) —
Aus diesen Mitteilungen waren die Arbeitsbedin-
gungen zu entnehmen, und so habe ich mich denn, nach-
dem ich mich früher schon überzeugt hatte, dass, wie
das auch Schaum betont, mit Tieftemperaturen so ohne
weiteres befriedigende Resultate nicht erzielt werden,
') Schaum, a. a. 0. S. 32.
2) Schaum a. a. 0. S. 33.
B) Cohen und van Eijk, a. a. 0. S. 620.
1 1 Schaum am gleichen Ort.
"') Cohen und van Eijk, a. a. 0. S. 621.
— 458
seit dein Herbst 19Û1 mit ümwandlungsversuchen ab-
gegeben, die jedocli erst zu einigermassen befriedigenden
Resultaten führten, seit ich im Jänner und Hornung
1902 durch die Güte der beiden Herren, Schaum sowohl
wie Collen, in Besitz von grauem Zinn gelangt war, das
ich mit Erfolg zum Animpfen benutzen konnte.
Die orientierenden Versuche, sowohl Umwandlungs-
wie Wägungsversuöhe, übergehe ich ganz und wende
mich direkt denjenigen Vorversuchen zu, — denn allein
über solche habe ich hier zu berichten, — die angestellt
wurden, festzulegen, ob es möglich sei, mit den mir zu
Gebote stehenden Mitteln, der Frage nach einer etwaigen
Beteiligung des Schweräthers am Gesamtgewicht, mit
Aussicht auf erfolgreiche Beantwortung, näher zu treten.
Weisses Zinn hat das spezifische Gewicht 7.3, graues
Zinn ein solches von 5.8; es findet also bei völliger Um-
wandlung eine Zu- resp. Abnahme desselben um 1.5 statt;
dem würde eine Änderung des Volums um im Mittel
rund 22 ° ,„ und das ohne Zustandsänderung. entsprechen,
ein in der Tat ausserordentlich hoher Betrag, der wohl
„einen weitgehenden Umbau der Molekel" und damit
einen entsprechenden Wechsel an etwaigem Schweräther-
gehalt, vorauszusetzen gestattet.
Lan doit hat, wie wir sahen, die Gewichtsabnahme
für 100 g Reaktionsmasse zu 0,05 mg im Mittel be-
stimmt; welchen Betrag die entsprechende Änderung bei
der Umwandlung des Zinnes erreichen würde, Hess sich
nicht voraussehen. Für meine Mittel wäre eine solche
gleicher Grössenordnung, wie sie Landolt angibt, nicht
mehr nachweisbar gewesen, sie konnte aber auch grösser
sein und niusste, wie oben gezeigt, je nach der Um-
wandlung im einen oder im entgegengesetzten Sinne ver-
laufen, wodurch etwaige beobachtete Änderungen erheb-
lich an Beweiskraft gewinnen mussten.
459 —
Frühere Versuche hatten gezeigt, ') dass die Be-
lastung der, auch zu diesen Bestimmungen benutzten,
Wage Bunge1 scher Provenienz, mit Kollimator- Ablesung,
unter 100 g auf jeder Schale bleiben muss; danach
waren also auch die abzuwägenden Massen zu begrenzen.
Aus einem etwa 7 mm im Lichten weiten Rohr aus
Jenenser G-las wurden 5 etwa 15 cm lange Stücke ab-
geschnitten und einseitig zugeschmolzen, von denen 3 :
Sm, S112. Sny mit grob, — etwa 2 mm, — ■ körnigem Zinnfei-
licht, 2: Gli und GI2 mit Glasstücken beschickt und je
unter sich auf möglichst gleiches Gewicht wie Volumen
gebracht und vor der Lan^e geschlossen wurden. . Die
Volumina betrugen,2) nach Anbringung aller Korrek-
tionen, für:
Sm Sn-2 Sm
21,539 cm:! 20,736 cm8 21,006 cm3
Sm - Sn2 = 0,803 cm3
Sm - Sn3 = 0,533 „
Sns - S112 = 0,270 „
und für die beiden mit Glas gefüllten Rohre
Gh GI2
16,683 cm3 15,832 cm3
Gh - GI2 - 0.851 cm3
Sni und S112 waren mit aus Berlin bezogenem Zinn
„Kahlbaum", das mit etwa 20% des von den Herren
Schaum und Cohen gütigst überlassenen Feilichts ange-
impft war, gefüllt; Sm enthielt dieselbe Mischung.
x) Kahlbaum, Roth und Siedler: Über Metalldestillation und
über destillierte Metalle. Zeitschrift für anorgan. Chemie. Ed. 29.
1902. S. 210.
2) Da die Wagungen in Wasser bei mir etwas unbequem aus-
zuführen gewesen wären, hatte Hr. Dr. Chappuis die grosse Güte,
die Bestimmung der Volumina in seinem Laboratorium vorzuneh-
men und auch alle Reduktionen auf das Vakuum durchzuführen.
460
Nach sorgfältigster Bestimmung der Gewichte aller
fünf Specimina wurden Sm, S112 und Gli, in Watte ver-
packt, zunächst in etwas weitere Glasröhre eingeschmol-
zen, diese, einzeln in Sägemehl gebettet, in Blechfutterale
eingelötet, zu dritt gemeinsam, in Holzwolle verstaut, in
ein oben und unten verschraubtes eisernes Gasrohr unter-
gebracht und dieses 150 Tage hindurch, vom 8. Juli bis
zum 5. Dezember 1902, in die Kälteflüssigkeit der Eis-
maschine der Basler Eisfabrik eingehängt, deren Be-
nutzung der Besitzer, Hr. Ingenieur Emil Bürgin, mit
grösster Zuvorkommenheit gestattete, wofür ihm auch an
dieser Stelle bestens gedankt sei.
Die Temperatur des Kältebades hält sich beständig
zwischen— 5° und — 7°C; da zudem, unter Tags wenigstens,
eine so gut wie dauernde Erschütterung des Bades statt-
hat, so dürften die Umstände und die Zeitdauer als der
Umwandlung durchaus günstig1) bezeichnet werden. Den,
als Bcschleunigungsmittel, empfohlenen Zusatz alkoho-
lischer Lösung von Pinksalz (Sn CU -j- 2 N H4 C1)2J
habe ich, um den Vorgang durch nichts zu komplizieren,
vermieden. Während der ganzen Zeit waren Sm und
GI2, in Watte gebettet, in einem verschlossenen Glas-
kasten im Wagezimmer aufbewahrt. Nach Ablauf der
150 Tage wurde das Gasrohr geöffnet, der Inhalt war
völlig intakt, nicht einmal die Holzwolle war feucht ge-
worden. Die Blechfutterale wurden aufgeschnitten, die
äusseren, zugeschmolzenen Glasröhren gesprengt.
Das Zinn in Sm und Sn-2 zeigte sich deutlich ver-
ändert. Erheblich dunkler von Farbe, war es in kleinere
Aggregate zerfallen. (3b es völlig in die graue Modifi-
1) Cohen, E. Physikalisch-chemische Studien am Zinn. III.
Zeitschrift f. physikal. Chemie Bd. 35. 1900. S. 592.
2) Vergl. weiter oben und auch Cohen an der eben angeführten
Stelle, Seite 594.
— 461 —
kation übergegangen war, konnte nicht bestimmt werden,
denn leider war es versäumt worden, eine für diesen
Zweck zu verwendende Probe besonders mit einzu-
schliessen.
Nun wurden Sm, S112, Sna, wie Gli und GI2 ge-
wogen. Dabei wurde das Wagezimmer beständig kalt,
auf etwa -f- (3° C, gehalten, die Gefässe befanden sich
stets im Wagezimmer und stundenlang vorher im Wage-
kasten selbst in den Platinkörben, in denen sie gewogen
wurden, aufgehängt.
Nach der Ausführung aller Wägungen wurden
sämtliche Röhren 6 Tage hindurch einer Temperatur
von etwa 50 bis 60° C, — bei 40° C. schon geht die
Rückbildung des grauen in weisses Zinn so schnell vor
sich, dass man sie mit dem Dilatometer nicht mehr
verfolgen kann, *) — ausgesetzt und dann nach l^-tägigem
Stehen im kalten Zimmer von neuem gewogen, eine
Operation, die dann noch einmal im warmen Zimmer
— ■ um unter den gleichen Bedingungen wie im Sommer
zu wiegen — wiederholt wurde. Bei allen Wägungen
wurden Temperatur und Luftdruck, um die für die Re-
duktion auf das Vakuum nötigen Faktoren zu haben,
aufgezeichnet.
In welcher Weise die Wägungen selbst ausgeführt
werden, ist schon früher -) eingehend beschrieben wor-
den. Die weiter unten mitgeteilten Zahlen geben stets
das Mittel aus HX3, also in Summa aus 9 Einzel-
wägungen, bei deren jeder der Nullpunkt vorher und
nachher kontrolliert wurde. Dadurch, dass die Apparate
stets hängend gewogen wurden, und die Gewichte stets
möglichst gleichmässig aufgesetzt waren, wurde ungleiche
T) Cohen, Physikalisch-chemische Studien am Zinn. II. Zeit-
schrift i'. physikal. Chemie Bd. 33. 1900. S. 61.
-) Vergl. Kahlbaum, Rollt und Siedler a. a. O. S. 20:5.
— 462
Belastung der Wagschalén, soweit tunlieb, vermieden.
Erschütterungen der Wage war dadurch vorgebeugt,
dass dieselbe auf einem an der Decke befestigten Ge-
rüst, dessen Schwingungen durch gegeneinander reibende,
verstellbare Bürsten gedämpft wurden, aufgestellt war.
Solche waren übrigens verhältnismässig, — verhältnis-
mässig für ein Laboratorium, das im 2. und 3. Stock-
werk eines alten Hauses, in dessen untern Teilen eine,
in erfreulicher Blüte befindliche Bäckerei betrieben wird,
— wenig bemerkbar.
Nicht vermieden konnten werden : die aus ungleicher
Temperatur der Wagebalken und der Veränderlichkeit
der am Glase niedergeschlagenen Wasserscbicht resul-
tierenden Fehler. Über die Grösse des ersteren bin ich,
da ich die eventuelle Differenz der Temperatur nicht
kenne, im unklaren, über die zweite gibt eine Tabelle
von lhmori1) einigen Aufschluss. Nach seinen Angaben
schwankt bei mittlerer Zimmertemperatur (15,3-19,1° C.)
das Gewicht des auf einen cm2, vorher mit siedendem
Wasser behandelten Jenenser Glases, niedergeschlagenen
Wassermantels zwischen 0,000(54 und 0,00035 mg und
nimmt für nicht so behandeltes Glas einen höcbsten
Wert von 0,004 mg an. Es würde demnach das Ge-
wicht für unsere Apparate, die mit siedendem Wasser
behandelt worden waren, mit einer Oberfläche von noch
nicht 40 cm- , kaum in Betracht zu ziehen sein.
Unter den Verhältnissen, unter denen ich arbeite,
war ich nicht in der Lage, Wage und Gewichte,
wie das für solche Arbeiten durcbaus wünschenswert
gewesen wäre, für diesen einen Zweck allein zu reser-
vieren. Es wurde während der fünf Monate vom Juli bis
Dezember eine Fülle anderer — allerdings ausschliess-
!) lhmori, AYiedemaun Annal. Bd. 31. 1887. S. 1014.
463
lieh Präzisions Wägungen damit ausgeführt. Um uun
Wage und Gewichte überhaupt zu kontrollieren, wurden
vorher und nachher die Gewichte möglichst unveränder-
licher Körper bestimmt.
Dazu wurden gewählt: 1. ein polierter Quarzcylin-
der von 5,5 mm Durchmesser und 46 mm Länge, 2. ein
ebensolcher Cylinder aus Jenenser Bleiglas, 3. und 4.
zwei mit Gold gelötete Körbe aus Platindraht, in denen
sonst die Glasröhren gewogen wurden. Die Wägungen
ergaben :
Quarz
Bleiglas
Juli
2,930 245
4,771 639
Dezember
2,930 190
4,771 635
- 0,000 055 -)
- 0,000 004
Pt Korbi
Pt Korb»
Juli
4,175 831
3,949 359
Dezember
4,175 825
- 0,000 006
3,! »49 373
+ 0,000 014
Diese Zahlen beweisen, dass sich die Wage und
die Gewichte, soweit solche bei diesen Wägungen zur
Verwendung kamen, nicht verändert hatten. Diese,
sowie alle übrigen hier in Betracht kommenden Wä-
gungen wurden nach meiner Anweisung mit ausser-
ordentlicher »Sorgfalt durch meinen Assistenten, Herrn
Dr. phil. Th. Umbach, zu meiner vollsten Zufriedenheit
ausgeführt.
Mögen nun die Resultate folgen. Es gibt A die
Wägungen im Juli vor der Abkühlung (weisses Zinn);
-) Da auch das Quarzstäbehen nicht ruhig liegen gelassen
werden konnte, so ist wohl möglich, dass sich diese eine Abnahme
aus einem kleinen Riss, oder aus dem Abspringen eines mikrosko-
pischen Splitters erklärt.
— 464
B, C und D diejenigen im Dezember nach der Umwand-
lung; und zwar B nach der 1. Umwandlung im kalten
Zimmer gewogen (graues Zinn); C nach der Rückbil-
dung im kalten Zimmer gewogen (weisses Zinn); D nach
der Rückbildung im warmen Zimmer gewogen (weisses
Zinn) an. Abgekühlt wurden Sni, Sn» und Gh, unge-
ändert blieben Sm und GI2.
Natürlich sind sämtliche Wägungen reduziert und
auf das Vakuum bezogen.
Sni Sn2 Sns
A. 61,555 13 A 61,349 71 A 61,385 77 A
+ 0,000 65 - 0,000 43 - 0,000 44
B. 61,555 78 61,349 28 61,385 33
+ 0,000 39 - 0,000 06 - 0,000 13
C. 61,556 17 61,349 22 61,385 20
- 0,000 34 - (),0()0 11 - 0,000 62
D. 61,555 83 61,349 11 61,384 58
Gh Gl2
A. 43,773 53 A 41,185 43 A
+ 0,000 45 - 0,000 06
B. 43,773 98 41,185 37
- 0,000 18 - 0,000 26
C. 43,773 80 41,185 11
- 0,000 04 + 0,000 01
I). 43,773 76 41,185 12
Nehmen wir an, und das sollte nach den Studien
von Schautn und von Cohen gestattet sein, dass die Um-
wandlung nach beiden Richtungen ausreichend stattge-
funden hat, so ergeben die vorstehenden Zahlen nur
das eine Resultat, nämlich : dass, wenn die Annahme des
Schweräthers überhaupt gerechtfertigt ist, die bei der
studierten Umwandlung des Zinnes etwa in Mitleiden-
— 465
schaft gezogene Masse desselben ausserhalb der von
uns hier zu erreichenden Genauigkeitsgrenzen liegt ,
d. h. also die von Hrn. Landolt gegebene Limite 0,05 mg
für 100 g Reaktionsmasse auch hier nicht wesentlich
überstiegen worden sein dürfte.
Es ist demnach unnötig, die Resultate selbst zu
diskutieren, nur darauf sei noch hingewiesen, dass das
ungekühlte Glas in der Tat bei weitem die geringsten
Gewichtsänderungen zeigt, und weiter, dass auch bei
diesen Bestimmungen die Gewichtsabnahmen mit 11 von
15 Fällen ausserordentlich in der Überzahl sind.
Trotz dieses Misserfolges, bleibt das oben gesagte
von der Bedeutung der Umwandlung des Zinnes für die
Lösung der aufgeworfenen Frage voll zu Recht bestehen,
und ich freue mich, mitteilen zu können, dass ich diese
^Studien am Zinn" gemeinschaftlich mit meinem ver-
ehrten Freunde, Dr. P. Chapjjuis, Ehrenmitglied des
Bureau international des Poids et Mesures in Sèvres,
unter den günstigen Bedingungen, seines für solche
Untersuchungen auf das beste eingerichteten, hiesigen
Laboratoriums, fortzusetzen begonnen habe. -
Doch kehren wir nun zu Hrn. Heydweillers Ent-
deckung zurück.
Zunächst haben wir gesehen, dass Herr Heydireiller
auf diesem Gebiete kein Neuling ist, sondern schon früher
in gleicher Richtung erfolgreich tätig war; dann aber,
dass. wenn auch noch nicht alle für solche Unter-
suchungen von mir aufgestellten Forderungen bei seinen
letzten Studien erfüllt sind, doch die Verhältnisse wesent-
lich günstiger liegen, als bei allen früheren Versuchen.
Die Temperatur bleibt die gewöhnliche, das Gewicht
der Substanz ist offenbar ein integrierender Teil des
Gesamtgewichtes, und das gleiche gilt fast von der Ge-*
wichtsabnahme, die sich mit 0,5 mg bei 5 g Substanz-
3o
— 466 —
gewicht gegenüber den sonst .beobachteten Abnahmen
von 0,05 mg auf 100 g Reaktionsmasse, verhält wie
200 : 1 ; wodurch auch die Tatsache selbst um das
200fache an Gewicht gewinnt. Dagegen ist der Prozess
der Emanation nicht umkehrbar, und, was nicht ausser
acht zu lassen, das Glas des Gefässes erleidet eine
Änderung. Andererseits handelt es sich aber offenbar
auch nicht um Schweräther, der bei einem chemischen
oder physikalischen Umsatz frei werden könnte ; es
handelt sich, soweit wir bis jetzt zu urteilen vermögen,
überhaupt nicht um die Folge einer chemischen oder
physikalischen Umlagerung, sondern um den mehr oder
weniger dauernden Zustand von Substanzen, welche die
Eigentümlichkeit haben, Strahlen auszusenden, die alle
möglichen Hindernisse in ähnlicher, ich sage absichtlich
nicht in gleicher, Weise wie der Äther durchdringen. -
Wir haben überhaupt gelernt, dass auch wägbare
Substanz in ausgedehnterem Maasse in geschlossene
Räume einzudringen vermag, als man früher voraussetzte.
Die Röntgenröhren werden durch mit Gold verlötete,
keineswegs immer sehr dünnwandige x) Palladiumröhren
hindurch mittelst der Villard' sehen Osmo-Regulierung
regeneriert, und Hr. Dr. Chctppuis hat vor nicht langer
Zeit den bisher nicht veröffentlichten Versuch von 17/-
lard wiederholt und bestätigt gefunden, bei welchem
AVasserstoff in zugeschmolzene Quarzröhrchen eindringt.
Für unsern besonderen Fall haben wir also fest-
zuhalten, dass gewisse radioaktive Substanzen Strahlen
aussenden, die eine Menge Stoffe durchdringen, welche
für leuchtende Strahlen undurchlässig zu sein scheinen.
Das gleiche gilt, wie bekannt, auch für die Kathoden-
strahlen.
!) I)as gilt besonders für die Röntgenröhren älterer Kon-
struktion.
407 —
Wohl aus den so verbreiteten Röntgenbildern ab-
geleitet, hat sich aber die Anschauung festgesetzt, dass,
zum mindesten die grosse Mehrzahl, der Metalle für
Kathodenstrahlen undurchlässig seien, und dass darin
ein spezifischer Unterschied zwischen diesen und den
Radiumstrahlen bestehe.
Das ist, wie man weiss, nicht nur im besondem,
sondern auch im allgemeinen falsch.
Die Durchlässigkeit der elementaren Stoffe, wie der
Verbindungen, für Röntgenstrahlen hängt, wie das neben
mehreren andern Forschern besonders eingehend von L.
Benoist1) für elektrische Energie und wie es von mir2)
für die chemisch wirksamen Strahlen nachgewiesen wurde,
allein von dem Atomgewicht ab.
Dass es auch im besondern falsch ist, zeigen die bei-
stehenden Figuren, Photogramme durchleuchteter Münzen,
von denen Fig. 1 auf Tafel II mit Radiumstrahlen bei fünf-
tägiger Belichtungszeit, Fig. 2 auf Tafel II mit Kathoden-
strahlen in 90 Sekunden dauernder Exposition, durch-
leuchtet wurden.
Um das Bild nicht zu stören, sind die Münzen
natürlich auf der Schriftseite eben geschliffen. Ich will
an dieser Stelle doch, — um mir die Priorität zu wahren,
— ausdrücklich bemerken, dass solche Photogramme
durchleuchteter Münzen zuerst von mir überhaupt, und
zwar am 2. Juli 1902, aufgenommen wurden, dann vielfach
vorgezeigt, 3) hier an dieser Stelle aber zum ersten
Male durch den Druck veröffentlicht werden.
j) Benoist, L. Lois de transparence de la matière pour les
rayons X. Bull, de la Soc. franc, de Physique 1901. p. 204.
2) Kahlbaum, Nouvelles observations sur les rayons de Rœnt-
gen. Arcli. de Genève, Sér. 4. T. 1-4. 1902. p. 374.
3) Z. B. gelegentlich der Naturforscherversammlung in Genf
am 9. September und in der Sitzung der Basier Naturforschenden
Gesellschaft vom 5. Nov. 1902. Vergl. dazu auch das Ref. in der
Chemiker-Zeitung Nr. 93, 1902. S. 1111.
468
Man weiss, class die Röntgenbilder nur Schattenbilder
sind. Es machen nun die Bilder der durchleuchteten
Münzen, die den Stempel mit allen Einzelheiten so deut-
lich wiedergeben, allerdings nicht den Eindruck, als
wenn wir es hier auch mit Schattenbildern zu tun hätten ;
und doch ist wenigstens Fig. 2 nichts anderes als ein
solches ; es giebt nur die Prägung genau so wieder, wie
etwa ein von der Sonne durchleuchtetes, geschliffenes
Glas, in seinem Schatten, neben der eigenen Gestalt
auch die der eingeschliffenen Figuren, Buchstaben und
Ornamente wiedermalt.
Wie man sieht, verhalten sich also in dieser Be-
ziehung Röntgen- und Radiumstrahlen völlig überein-
stimmend und auch dem Äther entsprechend, aber das
ist nur dann der Fall, wenn beide Male die empfindliche
Schicht abgedeckt ist. Verwendet man nackte Platten, ^
so bleibt die Radiographie auch bei sehr langer — bis
SOtägiger — Expositionszeit unverändert, das Röntgen-
bild dagegen schwindet in dem Falle vom Rand aus und
wird immer kleiner. Als Beleg für das Gesagte, mögen
die Fig. H auf Tafel II und 4—5 auf Tafel III dienen,
welche die Berthelot Plakette, das Meisterwerk Chaplains,
wiederzugeben sich bestreben ; dieselbe lag in allen Fällen
mit der abgeschliffenen Seite auf. — Es ist Fig. 3 eine
Radiographie, dadurch erhalten, dass die Plakette durch
ein Radiumkarbonat von ziemlicher Aktivität 15 Tage hin-
durch, auf nackter photographischer Platte liegend, durch-
leuchtet wurde. Die Radiographie istnur schwach, zeigt aber
deutlich und scharf die Grenzen der Plakette ; dasselbe
gilt von Fig. 4 auf Tafel III, die der Belichtung einer Volt-
Ohm-Röntgen-Röhre, auf bedeckter Platte, 75 Minuten,
in 172 Einzelaufnahmen, — - 100 zu 30 Sek. und 66 zu
J) Vergl. auch Archives de Genève Sér. 4. T. 14. 1902. p. 375
und 375 las.
46H
20 Sek., - - ausgesetzt wurde. Fig. 5 auf Tafel III, ein
Röntgenbild; wurde auf nackter Platte erbalten. Die
Plakette wurde dem Röntgenlicht einer Gundelacli 'sehen
Starkstromröhre längere Zeit, etwa 6 Minuten, — ich
habe damals, die Aufnahme ist bereits im Juli des
vorigen Jahres gemacht worden, die gesamte Zeit noch
nicht genau notiert, - ausgesetzt. Hier ist von einer
Grenze nichts mehr zu sehen, der Rand der Plakette
mit einem Teil des Kopfes, und zwar von der Grenze
zum Centrum gehend, ist in merkwürdiger Weise ge-
schwunden. Das gleiche zeigen natürlich auch die
Münzen, ja auch die oben gegebenen Fig. 1 — 2 auf
Tafel II lassen trotz abgedeckter Platte erkennen, dass die
Schärfe des Bildes nach den Rändern zu abnimmt ;
besonders deutlich tritt das an den Buchstaben der
Umschrift zu Tage; auch der Stabrand an Fig. 2 ist
nicht zu erkennen. x)
In diesem Durchdringungsvermögen stehen also,
wenn auch unter sich und graduell verschieden, Radium-
wie Xstrahlen dem Äther nahe, aber eine besondere Form,
ein besonderer Zustand des Äthers brauchen sie darum
doch nicht zu sein, jedenfalls sind sie nicht ohne
weiteres als mit dem Äther als solchem identisch anzu-
sehen, denn sie erregen sichtbare Strahlen, sie haben
physiologische Wirkungen, d. h. sie wirken chemisch
auf die Epidermis und andere Gewebe etc. ein, wobei
sie teils nicht unbedenkliche Entzündungen, teils aber
auch Heilungsprozesse hervorrufen ; dass sie dabei auch
photographisch wirksam sind, haben wir gesehen.
Ganz ähnliche Wirkungen bringen, wie wir wissen,
die sichtbaren Atherschwingungen, das Licht, hervor,
l\ Es ist hier nicht der Ort auf diese Untersuchungen, die
bisher nur zum kleinen Teil: Kahlbaum, „Nouvelles recherches sur
les rayons de Rœntgen" veröffentlicht sind, einzutreten; es wird
lias an anderer Stelle im Zusammenhange geschehen.
470 —
zum teil schwächere, zum teil stärkere ; es handelt
sich also hier doch nur um graduelle Unterschiede.
Sonnenlicht verbrennt, entzündet wohl auch die Haut,
wirkt auch besonders auf die Pigmentzellen - - wovon
bei den andern Strahlen bisher nichts bekannt ist -
ein, aber nur da, wo das Licht auf Schleimhäute direkt
trifft, z. B. im Auge, da wirkt es ähnlich heftig entzündend
wie Röntgen- oder gar Radiumstrahlen; ebenso sind
Sonnenlichtbäder neuerlich in den Dienst der Therapeutik
gestellt. — Ist hier die Wirkung der Sonnenstrahlen eine
schwächere, so ist sie beim photographisehen Prozess,
wiederum nach gewissen Richtungen, ohne Zweifel eine
stärkere.
Im gewöhnlichen Zustand sind, wie bekannt, Metalle
nur in dünnsten Schichten (Blattgold, Silberfolie) für
Sonnenstrahlen, und auch dann nur für solche von be-
stimmter Wellenlänge, durchlässig; dass das Verhalten
der X- und Radiumstrahlen ein durchaus anderes ist,
wurde gezeigt. Vergleicht man nun aber gleich hohe
Schichten wasserhell durchsichtiger Stoffe von verschie-
dener Zusammensetzung, z. B. reine Kieselsäure (Quarz)
und Kaliumbleisilikat (Flintglas), so ist, trotz des Metall-
gehaltes des Flintglases, erst bei beträchtlicher Dicke
ein deutlicher Unterschied in der Durchlässigkeit für
das Sonnenlicht wahrnehmbar, und auch das nur in dem
Sinne, dass das Flintglas grünlich gefärbt erscheint
Kann man doch z. B. durch eine 175 mm dicke Schicht
Flintglas noch ohne Schwierigkeit lesen. Ganz anders
ist das Verhalten der die Metalle durchdringenden Rönt-
gen- und Radiumstrahlen.
Die untenstehende Figur 6 auf Tafel II gibt darüber
in zuverlässiger Weise Aufschluss, zum mindesten über
die Durchlässigkeit für chemisch wirksame Strahlen.
Die Platte ist in der Weise hergestellt, dass der
untere Teil mit sogenanntem schwarzem photographischem
— 471
Papier abgedeckt, der obere Teil dagegen nackt blieb.
Das schwarze Papier war an der untern Seite eines
1 cm dicken und ebenso breiten Bleirahmens, von ge-
nau gleicher Grösse wie die Platte, aufgeklebt. Die nicht
zu belichtenden Teile derselben wurden mit gleich dicken
Bleiplatten von entsprechender Breite, die ihrerseits
genau in den Bleirahmen passten, zugedeckt. Aufge-
nommen wurde ein polierter Bleiglascylinder (rechts, P.) von
5,5 mm Durchmesser, und ein ebensolcher aus Quarz
(links, Q.) Von links nach rechts gezählt sind die Auf-
nahmen gemacht: a. mit Radiumstrahlen, b. mit Rönt-
genlampe, c. mit Sonnenlicht.
a. Im Aluminiumkasten mit 0,01 g Radiumkarbonat
von hoher Aktivität, der Chininfabrik Braunschweig, das
ich der gütigen Zuvorkommenheit des Hr. Dr. F. Giese/
verdanke; Expositionszeit 36 Stunden.
b. Im Dunkelzimmer mit einer der ganz ausge-
zeichneten Idealröhren1), System Gundelach-Dessauer, des
elektrotechnischen Laboratoriums in Aschüffenhurg; Be-
lichtungsdauer 100 Sekunden.
c. In einer photographischen Camera mit gegen den
unbewölkten Himmel gerichtetem Objektiv; Expositions-
zeit etwa 0,2 Sekunden.
Der untere mit schwarzem Papier abgedeckte Teil.
als solcher betrachtet, zeigt zunächst, dass dasselbe für
Sonnenstrahlen (c) gänzlich undurchlässig ist, und zwar
gerade so undurchlässig wie der 1 cm dicke Bleirahmen.
Auch bei sehr langer Exposition habe ich keinerlei
Einwirkung des Sonnenlichts durch das schwarze Papier
nachweisen können. Dagegen ist das Papier für Röntgeti-
1) Vergl. Mitteilungen über Neuerungen auf dein Gebiete der
Röntgenstrahlen. Herausgegeben vom Elektrotechnischen Labora-
torium. Spe/.ialfabrik von Röntgenapparaten, System Dessauer,
Asehaffenburg. Mitteilung Nr. 5. 1902.
— 472 —
licht1) (b) sehr wohl durchlässig, obgleich ein nicht uner-
heblicher Teil der auffallenden Strahlen, wie ein Ver-
gleich des oberen und unteren Teiles von b deutlich
lehrt, zurückgehalten wird. 2) Bei Radium (a) lässt sich
ein Unterschied zwischen dem oberen und dem unteren
Teil der Platte als solcher kaum noch wahrnehmen,
wenn auch hier, wie bei allen drei sonstigen Aufnahmen
sich an den auf freier Platte aufgenommenen Bildern
der Stäbchen mehr oder weniger deutliche und starke
Brennlinien wahrnehmen lassen. Das schwarze Papier
ist für diese Strahlen wohl kein seihendes Filter mehr.
Man muss hier zwischen zweierlei Filtern unter-
scheiden, zwischen gewöhnlichen Filtern und seihenden
Filtern. Filtrier-Papier, Filz u. s. w. ist für eine Reihe von
Flüssigkeiten, für reines Wasser, für Essig u. s. w. kein
seihendes Filter, die ursprüngliche Flüssigkeit ist mit dem
Filtrat identisch, nur die Fortjjflanzungsgeschwindigkeit
der durchtretenden Flüssigkeit wird gemindert. Für
alkoholisches Wasser oder gar mit festen Körpern ver-
mengtes, ist das gleiche Papier sehr wohl ein seihendes
Filter, hier ist das Ursprüngliche und das Filtrat keines-
wegs mehr identisch.
Ganz so verhält es sich mit dem schwarzen Papier
gegenüber den 3 geprüften Strahlenarten. Für Sonnen-
licht ist es völlig undurchlässig, für Röntgenlicht ein
seihendes, für Radiumstrahlen ein Filter, das nichts
zurückhält, sondern nur die Fortpflanzungsgeschwindigkeit
verringert.
Vergleicht man nun die Bilder der Stäbchen, so ist
zwischen den beiden, Bleiglas und Quarz untereinander,
J) Ich nenne Röntgenlicht: alle von einer Röntgenröhre aus-
gehenden Strahlen.
-) Wie weit hieran das grüne Phosphorescenzlicht der Glas-
oberfläche und wie weit die Kathodenstrahlen beteiligt sind, wiid
an anderer Stelle besprochen weiden.
— 47:;
auf nackter Platte dem Sonnenlicht ausgesetzt, wie es
c zeigt, einerseits, und andererseits auf bedeckter Platte
in a, ebenfalls Bleiglas mit Quarz verglichen, ein wesent-
licher Unterschied kaum wahrnehmbar, wenn auch die
Bilder der Stäbchen überhaupt in a und c, vollsten
Gegensatz, da hell wo die andern dunkel sind, zeigen.
Auch mit Röntgenlicht auf nackter Platte aufge-
nommen, ist ein grosser Unterschied zwischen den Bildern
des Bleiglasstabes und des Quarzstabes nicht zu be-
merken.
Das besagt also : Im allgemeinen macht sich der
Metallgehalt des Bleiglasstabes in der Durchlässigkeit
für uirfiltriertes Sonnen- und Röntgenlicht, also auf un-
bedeckter Platte, wie für Radiuinstrahlen auf bedeckter
Platte, kaum geltend. Es wird also hier das Sonnenlicht
in seiner Wirkung durch das Metall nicht beeinflusst !
Ganz anders liegen die Verhältnisse bei den ril-
trierten 1) Röntgen- und den direkt durch die Stäbchen
auf die empfindliche Schicht fallenden Radiuinstrahlen.
Hier, in b unten, in a oben, ist der Bleiglasstab wesent-
lich weniger durchlässig. Das Schattenbild desselben in
b ist erheblich dunkler, hat also dem Durchgang der
Kathodenstrahlen, im Gegensatz zum Sonnenlicht, ein
grösseres Hindernis in den Weg gestellt als der Quarz-
stab. Das gleiche gilt für das Radium in dem obern
Teil von a, dort haben die auffallenden Radiumstrahlen
den Quarzstab so völlig durchdrungen, dass die em-
pfindliche Platte kaum noch ein Bild davon zurück-
gehalten hat.
Im ganzen gewinnt man den überraschenden
Eindruck, dass die Sonnenstrahlen am tuenifjsleii, die
Radiumstrahlen am meisten durch den Metallgehalt in
') Die Bilder fallen ganz gleich aus, wenn man das schwarze
Papier zwischen Lampe und Objekt bringt.
474
ihrer Durchdringungsfähigkeit beeinflusst werden. Ich
muss jedoch darauf hinweisen, dass es mir nicht gelungen
ist, die Expositionszeiten so genau abzugleichen, dass
die chemische Wirkung bei allen 3 Aufnahmen völlig über-
einstimmte ; ein Betrachten der freien Teile der nackten
Platte beweist das hinlänglich. Allerdings ist diese Auf-
gäbe bei dieser ausserordentlich verschiedenen Grösse
der beiden Energiequellen, der Sonne einerseits und
0,01 g Radiumkarbonat andererseits, auch nicht ganz
leicht zu lösen.
Deutlich zeigt uns das Bild noch, dass wir es allein
bei dem filtrierten Röntgenlicht mit Schattenbildern zu
tun haben ; — die Bilder in b oben sind, im Gegensatz zu
denen der Münzen, sicher keine 1), wenigstens keine reinen
Schattenbilder, — was die Radiogramme sind, wage ich
noch nicht zu entscheiden, — und dass sich Abstufungen
in der Durchlässigkeit auch da finden, z. B. beim
Radium, wo wir solche gar nicht vermutet hätten. So
werden sich z. B. im Falle Heydweiller, Quarzröhrchen
ganz besonders empfehlen. Als Drittes kommt noch
hinzu, was ich schon andeutete, dass, im Gegensatz zu
dem Röntgenlicht, die Emanation des Radiums durch das
schwarze Papier nicht zerlegt, sondern nur in ihrer
Propagation behindert wird, — es wird, wie ich sagte,
nicht geseihet — , wie das aus der Übereinstimmung des
Bildes von Bleiglas oben und unten und mit dem des
unteren Teiles von Quarz, wie der gleichmässigen Ein-
wirkung auf die Platte überhaupt, hervorgeht.
r) Ich kann auch auf dieses interessante Kapitel hier nicht
eingehen und verweise nur auf das in Genf gesagte: „En résumé,
des corps très opaques exposés à l'action des rayons Rœntgen
sur une plaque nue ne donnent pas les figures d'omhre plates
bien connues, mais des images propres, personnelles, reproduisant
leur relief." (Arch. Sér. 4, T. 14. 1902. S. 375). Ich habe damals
zwischen Eikonosramihen und Eidoloorammen unterschieden.
47Ö
Diese Differenz wird erklärlich durch die Annahme.
dass wir es beim Röntgenlicht mit einer zusammenge-
setzten Erscheinung zu tun haben. — - und ich kann das
mittelst der empfindlichen Platte in der Tat belegen, nur
würde das nicht mehr „eine Einleitung" sein, — hei
den Radiumstrahlen und auch bei dem Sonnenlicht
dagegen wohl mit einfachen Erscheinungen.
Fassen wir alles zusammen, so glaube ich nach-
gewiesen zu haben, und das war der besondere Zweck
dieser Betrachtung, dass es sich bei allen diesen Vor-
gängen nirgends um spezifische, sondern immer nur um
graduelle Unterschiede handelt, und zwar Unterschiede
bei Vorgängen, die wir sonst als energetische zu be-
trachten gewohnt sind.
Der Zusammenhang mit der Besprechung von Heyd-
weillers Entdeckung liegt ja wohl auf der Hand.
Aber noch andre Erfahrungen an Radiumpräparaten
sind aus demselben Grunde hier zu erwähnen.
Es ist eine jetzt allgemein bekannte, von Giesel
entdeckte und auch von mir auf photographischem Wege
festgelegte Tatsache, dass frisch dargestellte Radium-
salze zunächst erheblich an Aktivität wachsen. Zur Er-
klärung dieses Phänomens wird angenommen, dass die
Aktivität der frisch dargestellten Substanz durch Selbst-
induktion zunimmt. Jeder, der das Verhalten radio-
aktiver Substanzen kennt, weiss ja, welchen Vorgang
man damit bezeichnet; ob aber damit immer auch eine
wirkliche Vorstellung, ein Bild des Vorganges, verbunden
wird, ist zweifelhaft. Dagegen erscheint sicher, dass bei
frisch bereiteten Präparaten die Gewichtsabnahme nicht
die gleiche Höhe wird haben können, wie bei solchen,
welche die höchste Aktivität bereits erreicht haben. Da
das Wachstum der Aktivität sich über einen längeren
Zeitraum erstreckt, — bei einem von mir benutzten
— 470 —
Präparat währte das Zunehmen der radioaktiven Kraft,
nachdem ich es erhalten hatte, noch etwa 8 Tage, —
so müsste dasselbe wohl auch mit der Wage nach-
gewiesen werden können, und das erscheint mir für die
Bestätigung von Heydweitlers Entdeckung, da Umkehrung
nicht möglich, nicht unwichtig.
Wie man weiss, färbt sich das Glas der Röntgen-
lampen bei längerem Gebrauch etwa jodviolett, das
gleiche geschieht mit den Glasgefässen, in denen Radium-
präparate aufbewahrt werden. Während aber bei den
X strahlen die Färbung hauptsächlich an der Ober-
fläche haftet, durchdringt die, infolge der Radiumstrahlen
eintretende, das Glas vollständig. Es ist also, bei den
Beobachtungen die uns hier beschäftigen, auch die Mög-
lichkeit eines Gewichtsverlustes infolge etwaiger Zer-
setzung des Glases in Betracht zu ziehen.
Weiter wäre, wenn eine Zersetzung nicht stattfindet,
mit einer Durchwandrung, nach der Art wie man elek-
trolytisch Natrium durch Glas hindurch wandern lassen
kann, zu rechnen. Auch ist andererseits wohl denkbar,
dass durch Intensiverwerden der Färbung die Durch-
lässigkeit des Glases, — ich verweise auf das oben an Blei-
glas und Quarz nachgewiesene, — und damit der Gewichts-
verlust, abnimmt, ohne dass darum die radioaktive Kraft
der Substanz selbst gemindert wird.
Das sind einige Einwürfe und Bedenken, von denen
wir aber wohl sicher annehmen dürfen, dass sie Hrn.
Heydweiller selbst nicht entgangen sein werden ; lassen
wir sie also fallen ; nehmen wir vielmehr die Tatsache
als gegeben hin und werfen die Frage zum Schluss auf:
Handelt es sich bei diesen Strahlen um eine neue Form
der Energie oder um einen neuen Verteilungszustand
der Materie, der, die Hindernisse durchdringend, mit
Lichtgeschwindigkeit den Raum durchmisst?
— 477
Nach den Messungen von Prof. Kaufmann in Göt-
tingen pflanzen sich die Radiumstrahlen in der Tat mit
einer Geschwindigkeit fort, die der des Lichtes fast
gleichkommt, und das gleiche gilt nach den neuesten
Messungen von Blondlot für die Xstrahlen, deren Fort-
pflanzungsgeschwindigkeit der französische Forscher, im
Gegensatz zu älteren Bestimmungen, ebenfalls gleich der
des Lichtes gefunden hat. *)
Diese Frage also : ob Energie, ob Materie, scheint
mir gelöst zu sein ! —
Denn die Gewichtsabnahme seines Radiumpräpa-
rates — die wir als von Heydioeiller bewiesen voraus-
setzen — sagt uns, dass wir es ohne Zweifel mit Ma-
terie zu tun haben, die emaniert wird. Andererseits
lehrt uns die Fähigkeit derselben, Glas, wie bei Hetjd-
weillers Versuchen, oder Metall, wie z. B. bei unseren
Photographien, zu durchdringen, dass sich diese Materie
in einem Zustand feiner Verteilung, — dass eine solche
denkbar, haben wir oben S. 446 nachgewiesen, — wie der
Äther, befinden muss, und stellt sie ihre Fortpflanzungs-
geschwindigkeit direkt in die gleiche Linie mit denjenigen
Energieformen, die wir als Licht und Elektrizität be-
zeichnen. —
Und darin liegt für mich die ausserordentliche Be-
deutung dieser Entdeckung, dass Schwere d.h. materielle
Eigenschaft bei der Emanation des Radiums nachgewiesen
wurde, ein Vorgang, dem sonst lediglich energetische
Eigenschaften zukommen; in dieser Auffindung eines
Bindegliedes zwischen Materie und Energie, zwischen
Kraft und Stoff, scheint mir die aussergewöhnliche Be-
deutung zu liegen.
J) La vitesse de propagation des rayons de Rœntgen est la
même que celle des ondes hertziennes ou de la lumière se propa-
geant dans l'air. Blondlot, Archives de Genève Sér. 4. T. 14. 1902.
p. 357 und auch Compt. Rend. T. 135. 1902. p. 721 u. 763.
— 478
Längst schon sind die Grenzen zwischen Pflanzen-
und Tierwelt verwischt; zwischen den drei Aggregat-
zuständen sind die trennenden Schranken gefallen; die
Krystalle, die so sicher und wohl definiert schienen, um
ein fest begrenztes Reich zu bilden, sind nach den
neuesten Studien, in des Worts ausdrücklichster Be-
deutung, lebendig geworden und spotten jeder binden-
den Definition ; die Lösungen strafen das Gesetz der
festen Proportionen Lügen.
Mehr und mehr macht sich die grösste Errungen-
schaft des Endes des letzten Säkulums geltend, die Er-
kenntnis : Die Natur kennt keine Grenzen, sie kennt nur
Übergänge! —
Und dies von neuem und in überraschendster Weise
für Kraft und Stoff bestätigt zu haben, darin vor allem
suche ich die Bedeutung der neusten Entdeckung auf
dem Gebiete der Forschungen über Gewichtsänderungen
in geschlossenen Gefässen, der Entdeckung Heydwei/lers.
als einer neuen Bestätigung des alten IÀnné' sehen Satzes:
..Natura non facit saltus".
BASEL, am S.Jänner 1.903.
Epilogus galeatus.
Am Ende des Jahres war auch die Arbeit abge-
schlossen: auch Wiedergabeversuche, Clichés waren ge-
macht worden. Uas erste Cliché war eine vortrefflich
gelungene Röntgographie eines Zweimarkstückes; die
anderen gelangen mehr oder weniger günstig. Immerhin
nur zwei noch so, dass sie hätten verwendet werden
können. Vielfache, direkte Besprechung mit dem Besitzer
der Anstalt, persönliche Aufklärung über den Wert und
die Wichtigkeit der Darstellung erreichten keine
Besserung. Schliesslich wurde dem Verfasser das
untenstehende Radiumbild der Zweifrankenmünze vor-
gelegt. Der Verfasser, schon durch andere Unregel-
mässigkeiten aufmerksam gemacht, stutzte. Es erwies
sich, dass die 22 Sterne der schweizerischen Republik
in jenem Abdruck zu 31, wie das Bild noch zeigt, an-
gewachsen waren! Der Künstler hatte es vorgezogen, zu
zeichnen, statt technisch nachzubilden. Auf diese Weise
hatte er eine wissenschaftliche Hilfsaufgabe, die man
ihm in guten Treuen anvertraut hatte, gelöst! Der Ver-
fasser war erkrankt und das in dem Maasse, dass er
— 480 —
für das laufende Semester von allen Verpflichtungen
der Universität gegenüber befreit ist. Wie leicht konnte
es ihm passieren, in seinem nervösen Zustande, dass er
von genauer Betrachtung des Clichés absah und das
vom Künstler willkürlich geschaffene Bild als echte
Badiographie aufnehmen liess ! — Nach Jahren erst,
und wenn etwa nur ein Stern statt der neun hinzu-
gefügt worden war, konnte das bemerkt werden und
dem Verfasser die Frage vorgelegt werden: „Wie konnten
Sie, wenn Sie tatsächlich radiographierte Platten vor-
zeigten, solche geben, die mehr Sterne als die Originale
zeigen?" Wer hätte dem Verfasser geglaubt, wenn er
versichert hätte, nicht ich bin der Schuldige, sondern
die Firm a M a n i s s a d j i a n ? —
Georg W. A. Kahlbaum.
Fig. 8.
^
Fig. 1.
I Fig. 2.
Fig. (5.
Q- P. Q. P. Q. P.
Fig. 4.
Fis
Kurze Notiz über Beobachtungen an dem Ciliarkörper
und dem Strahlenbändchen des Tierauges.
Von
Rad. Metzner.
(Mit einer Textfigur).
Die vorstehenden Zeilen sollen in kurzen Zügen
Beobachtungen an Augenpräparaten von Hunden und
Hamstern schildern. Diese Präparate, zu Lehrzwecken
angefertigt, lenkten bei ihrer genaueren Untersuchung
meine Aufmerksamkeit auf einige Dinge, über die ich
vorläufig in der Litteratur nicht den gewünschten Auf-
schluss fand. Ihre genauere Verfolgung zeigte mir bald,
dass ein eindringendes Studium nur unter Zuhilfnahme
verschiedener Techniken möglich, und dass hierfür ein
grosses Material nötig sei. Seine ausgiebige Beschaffung
scheiterte z. T. an äusseren Umständen, doch erlaubt
das vorliegende wohl eine kurze Mitteilung. Ich hoffe
in Bälde mit einer detaillierten und illustrierten Schil-
derung hervortreten zu können.
Wie Terrien1) p. 13 angibt, findet man bei Tieren
keinen ebenen Teil der Pars ciliar, ret., im (•»cgeusatz
zum Menschen, wo er sich von der scharf, fast im
rechten Winkel abgesetzten Übergangsstelle der ein
Siunesepithel tragenden eigentlichen Netzhaut in das
*) Terrien. F. Recherches sur la structure de la rétine ciliaire et
l'origine îles fibres de la zonale de Zinn (Paris, 1898).
31
— 482 —
einfache Epithel des Ciliarteils über eine Zone von fast
2 3 der Breite der ganzen Pars ciliaris retinœ glatt nach
vorn erstreckt. Untersucht man einen Meridionalschnitt
durch die vordere Bulhushälfte eines erwachsenen Hun-
des, so findet man diese Angabe bestätigt nur mit der
Abweichung, dass man nicht, wie Terrien (1. c. p. 38)
für das Pferd angibt, den steilen Abfall der mensch-
lichen Retina vermisst, sondern auch eine, wenn auch
nicht annähernd rechtwinkliche, doch ziemlich steile
Dickenabnahme findet. Dagegen fehlt sie allerdings bei
sehr jungen Tieren (Präpar. von Hunden, die am 1. — 4.
Tage nach der Geburt getötet wurden); hier verstreicht
die Retina allmählich, und nach vorn von ihrem Ende
dehnt sich eine fortsatzfreie Zone ziemlicher Breite aus.
Diese meine Beobachtung am Hundeauge würde mit
den Angaben Schöll's ') übereinstimmen, der bei Kindern
(ig. p. 417 1. c. 1 Taf. XIV) angibt, dass die Netzhaut
sich ganz alimählich abdache, bis nur eine einfache Zell-
schicht übrig bleibt. Da nun bei Hündchen im oben
angegebenen Alter die Stäbchen und Zapfen noch in
der Entwicklung begriffen sind, derart, dass über die
scharf ausgeprägte Membr. limitans externa retinae nur
kleinste rundliche Kölbchen herausrag« n. indess unter
ihr Mitosen in grosser Anzahl sich zeigen, so ist es
nicht so leicht festzustellen, wo in Wirklichkeit die
visuelle Retina ihr Ende erreicht. Auch beim erwach-
senen Tiere besteht hier insofern eine Schwierigkeit, als
an der Abdachungsstelle, d. h. also von der Stelle der so
plötzlichen Verdünnung der Netzhaut Sehelemente von
ausgeprägt unterscheidbarer Form auf eine Strecke von
wenigen /< nicht mehr vorhanden sind; doch -ist eben
*) Schön,W. Der Übergangssaum der Netzhaut oder die sog.
Ora serrata ( Arch. f. Anat. u. l'liysiol. 1895 Anatom Abteilung, p.
417 u. ff)
48;}
durch diese Abbruchsteile mit hinlänglicher Schärfe das
Ende der Pars optica retinae markiert; sie geht hier,
wie alle Autoren berichten, für erwachsene Indi-
viduen ganz plötzlich in eine einfache Epithellage über.
Ich linde aber nun, abgesehen hiervon, ein weiteres
Kennzeichen darin, das bei den von mir untersuchten
Tieren die Trennungslinie der Pars, ciliar, ret. von der
eigentlichen Retina mit aller Schärfe festlegt. Dies ist
gegeben durch die Beschaffenheit des Pigmentes im
Stratum pigmentosum retinae. Soweit ich die Litteratur
bisher übersehen konnte, geben die Autoren überein-
stimmend an, dass die Pigmentschicht der Pars optica
ret. unverändert in diejenige der Pars ciliar, ret. über-
gehe. Wohl geschieht der Thatsache Erwähnung, dass
die krystalloiden Elemente des retinalen Pigmentes
von verschiedener Form, meist Stäbchengebilde seien,
indes das Pigment der Pars ciliar, retinae aus rund-
lichen Körnern bestehe, aber ich finde nirgends erwähnt,
dass eine so haarscharfe Grenze existiere, wie sie sich
beim Hunde, und wie ich hinzufüge, auch beim Hamster
rindet.
Die krystalloiden Elemente der Pigmentosa retinae
des Hundes sind kleine Spindeln, die an der belich-
teten Netzhaut in zierlichen Festons angeordnet, den
freien Zellensaum besetzen. Diese Guirlande erstreckt
sich bis zum letzten, ausgebildeten Stäbchen resp. Zapfen ;
an der Abbruchstelle stehen dann 2 — 4 Zellen, welche
die Spindeln in dicht gedrängter Masse enthalten, und
hierauf folgt, der ersten Epithelzelle der Pars ciliaris
retinae entsprechend, die nächste Pigmentzelle ohne ein
einziges der spindelförmigen Kryställchen, nur erfüllt
von den groben Rundkörnern, welche für den Ciliarteil
der Pigmentschicht charakteristisch sind. Sie erfüllen
die Zelle sehr dicht, selbst an Schnitten von nur 3 ft
— 484
Dicke ; sie haben sich infolge dessen gegenseitig zu un-
regelmässigen Polyedern abgeplattet.
Am Auge des neugeborenen resp. nur wenige Tage
alten Hundes hört mit der letzten Zelle des einschich-
tigen Epithels auch das alleinige Vorkommen des Körner-
pigmentes auf. Aber wie hier — was oben erwähnt
wurde — kein plötzliches Anwachsen der Schichtdicke
um ein Mehrfaches besteht, sondern ein allmähliches
Ansteigen stattfindet, so sieht man in den entsprechen-
den gegenüberliegenden Pigmentepithelzellen nicht sofort
alle Körner durch Spindeln ersetzt, sondern erstere
schwinden allmählich, um erst nach Erreichung der end-
giltigen Retinadicke ganz den Kry stallen Platz zu machen.
Jedoch ist die Grenze hier auch insofern vollkommen
scharf, als mit dem Beginn des mehrschichtigen Baues
auch die Spindeln sich beimischen.
Dass eine solche scharfe Sonderung zu Stande
kommt, ist bemerkenswert, da doch das Pigmentepithel
der Retina über ihre ganze Erstreckung bis zur hinteren
Irisfläche entwicklungsgeschichtlich eine Einheit bildet,
und auch der Übergang an der Ora serrata ein konti-
nuierlicher ist. Ein Unterschied besteht nur darin, dass,
wie Greef1) p. 186 hervorhebt, die Zellen des Pigmentepi-
thels „ihre regelmässige sechseckige Gestalt verlieren
und in radiärer Richtung langgezogen erscheinen."
Ich kann die Angabe für den Hund vollauf be-
stätigen, zumal beim neugeborenen Tiere ist der Anblick
frappant.
Indess nun das Pigmentepithel, abgesehen von dem
veränderten Inhalte, kontinuierlich von der eigentlichen
Retina zur Pars ciliar, ret. übergeht, erleidet die Netz-
x) Greef, V. Mikrosk. Anat. des Sehnerven und der Netzhaut
(firäfe-Sämisch, Handbuch der ges. Augenheilkunde. LT. I. Bd.
5. Kapitel).
— 485 —
haut selbst eingreifende Veränderungen, indem diese
vielschichtige Membran sich am Orbiculus ciliaris als
einfaches Cylinderepithel fortsetzt. Dieses Epithel wird
gemeiniglich als secernierendes Epithel aufgefasst — vergl.
z. B. Greef 1. c. p. 189 — und ich möchte mich dieser
Ansicht anschliessen, trotz Rabl's Einwurf, dass hier die
basale Fläche der Zellen gegen das mit Sekret zu er-
füllende Lumen frei läge. Terrien, Berger und Czermak
u. a. beschreiben aber noch ein Stützgewebe zwischen
den secernierenden Zellen, das nach Terrien (1. c.) ein-
mal aus Stützfasern (fibres de soutien oder de soutène-
ment), zum andern aus Zonulafasern (fibres zonulaires)
besteht. Man kann dieses Stützgewebe isoliert zur Dar-
stellung bringen durch Verdauung mit salzsaurer Pepsin-
lösung (Berger) oder durch das von Griffith empfoh-
lene Pigment-Bleichverfahren mit Chlor (Terrien). An
sehr dünnen Schnitten der Präparate vom erwachse-
nen Hunde oder Hamster, welche in dem von mir1)
angegebenen Osmiumgemische fixiert und mit Säure-
fuchsin intensiv gefärbt wurden, erkennt man die Stütz-
substanz zwischen den secernierenden Zellen sehr deut-
lich als feinstreifige Einlagerung; an der Epithelober-
fläche ist sie verbreitert, ganz wie es Terrien u. a. be-
schrieben haben. Terrien gibt an, dass diese fibres de
soutènement identisch seien mit den Müller' sehen Stütz-
fasern der eigentlichen Retina, und von ihr auf die
Pars ciliar, ret. übergingen (1. c. p. 46, 63 etc.), indess
die secernierenden Zellen als Fortsetzung der inneren
Körnerschicht (Bipolaren für Zapfen und Stäbchen)
erscheinen.
1) Metzner, R. Untersuchungen an Megastoma enter. Grrassi
(Zeitschr. f. wissenschaftl. Zoolog. LXX. Bd. 1901.) - Artikel A U-
///«»»'sehe Granula-Methoden (Encyklopädie der mikroskop. Tech-
nik. Wien liloîî.)
— 486 —
An den Abbildungen, Fig. 17 und 18 pp. 44 u. 45,
der Augen menschlicher Embryonen und Föten, welche
Terrien gibt, erkennt man gut den Übergang der inneren
Körnerschicht in die Pars ciliar, retinae; zeitige Elemente
des Stützgewebes (Müller' sehe Zellen) sieht man nicht.
An meinen Präparaten vom neugeborenen Hündchen kann
ich einen sicheren Entscheid nicht geben, welchem Teile
der eigentlichen Retina die Epithelzellen (secernierenden
Zellen) der Pars ciliar, entsprechen, bezw. welche Zell-
reihe sich in letztere fortsetzt. Denn diese Augen zeigen
noch keine deutliche Trennung der äussern Schicht des
proximalen Blattes der sekundären Augenblase, also
noch keine Sonderung in äussere oder innere Körnerschicht.
Das Bild ähnelt eher der Fig. 17 p. 44 1. c. von Terrien,
das aber ein frühes embryonales Studium des mensch-
lichen Auges darstellt. Die äusserste Grenzschicht ist,
wie schon oben erwähnt, noch mit sehr reichlichen Mi-
tosen erfüllt, was ich hier besonders betonen möchte,
da Greef1) angibt, dass nach neueren Forschungen es
nicht mehr möglich ist, Mitosen in der Retina neuge-
borner Hunde zu linden. Hinzufügen möchte ich, dass
auch beim neugeborenen Hamster die Zahl der Mitosen
noch gross ist. Dass die innere, helle Schicht, welche
später die innersten Schichten der Retina liefert, sich
nicht auf die Pars ciliar, fortsetzt, das lässt sich aller-
dings an meinen Präparaten nicht mit der gleichen
Sicherheit konstatieren, mit der Terrien es nach seinen
Objekten darstellt. Dagegen aber zeigen nun meine
Schnitte einmal die stärkere Anhäufung von Stützzellen
resp. Stützfasern im letzten Abschnitt der eigentlichen
Retina als auch ihr Übergreifen auf den Orbiculus ci-
]) Greef, B., S. Bamon y Cajals neuere Beiträge zur Histologie
der Retina (Zeitschr. f. Psychologie u. Physiol. d. Sirmes-Organe.
XVI. Bd. 1898. p. 164.)
487 —
liaris. An den mit obigen Osmiummisckungen fixierten,
in Schnittserien von je 2,5 u Dicke zerlegten und mit
Säurefuchsin gefärbten Augen neugeborener Hunde
stellen sich diese Elemente als streifige Bälkchen dar.
Ihre zellige Natur ist dort zu erkennen, wo diese Bälkchen
sich verbreitern und einen schmalen Kern einschliessen.
Nach aussen ragen sie in die Pigmentschicht hinein,
nach innen ziehen von ihnen feine Fibrillen heraus,
welche sich der Glashaut der Pars ciliaris anlegen.
Sehr auffällig treten sie aber hervor an Zenker-Präpa-
raten, welche in toto mit Borax-Carmin gefärbt, in Cel-
loidin eingebettet und in Schnitte von 15 — 20 /i Dicke
zerlegt sind. Hier treten in dem sich verschmälernden
Endteil der Sehretina ca. 70 — 75 fi lange, tief dunkelrot
gefärbte, homogene Gebilde auf, die nach dem Ciliarkörper
zu sich immer dichter an einander lagern und dabei kürzer
werden, so dass sie bald auf 26 — 22 /i Länge herab-
gehen (Fig.;. Was neben ihnen noch an zelligen Ele-
menten in diesem Übergangsteil liegt, ist nicht sicher
zu erkennen, da sie alles verdecken. Noch etwas weiter
nach vorn beginnt sich alles aufzuhellen und das Epi-
thel (secernierendes Epithel) tritt auf. Am Zenker-Vr'à-
parat zeigt es glashelle Zellen mit kugeligen Kernen,
die eine zarte, körnig-fädige Chromatinanordnung be-
sitzen und durch die Färbung mit Borax-Carmin einen
blassroten Ton erhalten haben. Zwischen ihnen liegen,
noch recht zahlreich, aber immer spärlicher werdend,
die tiefdunkelroten Gebilde, die hier 13 — 15 tt lang
sind, und selbst mit starken linmersionssystemen keine
deutliche Struktur zeigen. Bis zur Höhe des Ciliarfort-
satzes sind sie vorhanden, aber dann verschwinden sie
und bis zum Iriswinkel siebt man nur das secernierende
Epithel. In der Tiefe des "Winkels liegen wieder einige
wenige, jedoch auf der Rückseite der Iris. resp. in ihrem
4H8
hinteren retinalen Überzüge fehlen sie ganz. Das Epithel
ist hier anfangs noch eben so hoch, wird aber gegen
den freien Rand der Iris niedriger. Auf der Textfigur
sind diese Verhältnisse dargestellt durch Kombination
einiger Schnitte, um überall eine reine Profilansicht des
Epithels zu gewinnen ; das subepitheliale Gewebe, die
Gefässschlingen sind weggelassen, da sie sich vom Pig-
mentepithel losgelöst hatten. Das Innere des gezeich-
neten Ciliar-Fortsatzes wäre aber nicht nur damit zu
Meridionalschnitt durch den Ciliarkörper eines neugebor. Hundes.
(Zenkers Flüssigkeit; Stückfärbung mit Borax-Carmin). Halbche-
niatisch, insofern Bindegewebe. Gefässe etc. des Innern weggelassen
sind.
J = Pars iridica retinae. B = Sog. secernirend. Epithel.
Dazwischen (S) die dunkelroten Stäbchen. So solche mit kleinem
Fortsatz. R == eigentl. Retina.
(Apochr. 16 mm. Comp. Ocul. 12. Vergrössg. 187. Details mit
homog. [mmersion eingezeichnet.)
— 489 —
füllen, sondern auch noch mit den Bildern der durch-
schnittenen kleinen Einstülpungen resp. - Fortsätze ,
welche an dem Hauptkörper sich finden. In diesen Ein-
buchtungen, zumal in der Tiefe der Nebenthäler, waren
zwischen den Epithelzellen immer die kleinen, dunkel-
roten Stäbchengebilde zu sehen. Sie fehlen also nur
auf dem gegen die Iris schauenden (vorderen) Abhang und
auf dem vorderen Teile der Kuppe des Hauptfortsatzes.
Aus der Tiefe der Nebenthäler. sowie aus der Tiefe
des auf der Zeichnung dargestellten Übergangsteils der
Sehretina in ihren Ciliarteil, der Falte die, wie erwähnt,
normalerweise beim neugeborenen Tiere nicht besteht
und auch an meinen Osmiumpräparaten fehlt, und hier
nur durch die Ablösung der Retina, sowie ihre Vor-
drängung gegeu die Pars ciliaris bei der Fixierung ent-
standen ist, — traten Faserbündel hervor, welche am letz-
teren Orte der Membrana hyaloidea des Glaskörpers
resp. der Grlashaut der Pars ciliaris anlagen. Diese
Fasern sind durch nachträgliche Färbung mit verdünnter
Hämatoxylinlösung darstellbar, da aber nur an den Os-
miumpräparaten ihr Zusammenhang mit interepithelialen
Fasern festzustellen war. dagegen an den Zenker-Präpa.-
raten nur Andeutungen von kleinen Fädchen an denEnden
der dunkelroten Längsstäbchen sich zeigten (s. Fig. S o),
so sind sie auf der Zeichnung fortgelassen worden.
Da es mir, wie eingangs erwähnt, vor der Hand
an geeignetem Material gebricht, um die Befunde am
neugeborenen Hunde in Zusammenhang zu bringen mit
dem was ich am erwachsenen Tiere fand, so will ich
hier nur eine Schilderung dieser letzteren anreihen,
unter Hinzunahme der Bilder vom erwachsenen Hamster.
Bei schwacher Vergfösserung boten meine Meridio-
nalschnitte vom Hundeauge ganz den Anblick, den
— 190
Retzius ') auf Tafel XXXII, Fig. 5 seines grossen Wer-
kes dargestellt hat und der auch den Beschreibungen
von H. Virchou'-) entspricht. Die kleinen, dicht über
dem Epithel hinlaufenden Zonulabälkchen sind aus feinsten
Fibrillen zusammengesetzt ; ein Teil dieser Fibrillen ent-
springt sicher interepithelial in den Thälern der Proc.
ciliares ; ob alle Fibrillen von dort kommen, wie Terrien
(1. c. pr. Fig. 21, 22, 23) angibt, lasse ich dahin gestellt.
An Schnitten nun, welche in Ebenen parallel dem Augen-
äquator angelegt sind, also das Corp. ciliare quer treffen,
sieht man in den Thälern die Fibrillen mit Deutlichkeit
zwischen den Epithelzellen hervorkommen. An geeigneten
Schnitten erkennt man auch, dass sie zwischen die Pig-
mentzellen in die Tiefe dringen, und andrerseits bemerkt
man unter dem Pigmentepithel Fasern vom Charakter
elastischer Fibrillen, die zwischen den Pigmentzellen
nach aussen streben. In seiner ausgezeichneten, schon
zitierten Studie konnte Terrien beim Pferde und Rind
den Zusammenhang der Pigmentschicht mit der sog. Lamina
vitrea der Chorioidea, welche wohl besser noch dem
retinalen Pigment zuzurechnen wäre, durch feinste Faser-
bälkchen nachweisen (s. die Figg. 9, 11 etc.) und damit
zugleich ihre Verbindung mit den interepithelialen Stütz-
fasern resp. den Zonulafibrillen. Beim Hunde ist, soweit
ich bis jetzt ermitteln konnte, die Lamina vitrea nur
als allerfeinste Lamelle ausgebildet, während sie beim
Hamster eine ziemlich dicke Membran darstellt. Am
Übergang der Retina in ihre Pars ciliaris sieht man
nun beim Hamster aus dieser Membran, die unter der
Immersionslinse feinstreifig erscheint, ein Netz von
') Retzius, (1. Biologische Untersuchungen X. F. VI. 1894
p. 67 u. ff.
2) Virchow, Hans. Über die Form der Falten des Corpus
ciliare bei Säugetieren (Morpholog. Jahrb. Bd. XL 1886).
— 49 t —
feinsten Fibrillen ausgehen, die sich teilweise zwischen den
Epithelzellen hindurch in Zonulafibrillen verfolgen lassen,
zum andern Teil sich in den ßrücke'schen Muskel ver-
lieren. Die Frage, inwieweit die feinen Fibrillen aus den
Thälern der Ciliarfortsätze nur Zuwüchse zu den von der
Glashaut der Pars ciliaris ret. kommenden Zonulabalken
darstellen, wie Relzius (1. c. p. 82 u, ff.) angibt, der
Glashaut, welche nach seinen Untersuchungen die direkte
Fortsetzung der Membrana hyaloiclea des Glaskörpers
ist, kann ich vorderhand nicht entscheiden. Nach meinen
Präparaten ist die Glashaut der Pars ciliaris retinge
vorwärts vom Orbiculus ciliaris breiter, straffer als die
Membrana hyaloidea, welche die eigentliche Retina be-
grenzt. Dass die am Oriculus ciliaris resp. am Über-
gangsteil der Netzhaut entspringenden äusserst zahl-
reichen Fasern, die ganz den straffen Charakter der
Zonulafibrillen tragen — s. a. Schnitze1) p. 23 u. ff.
und Fig. 20 — den Hauptbestandteil dieser Membran
ausmachen, ist ebenfalls deutlich zu erkennen. Da aber
die Schnitte der Osmiumpräparate, welche diese Fibrillen
und das interepitheliale Stützgewebe vortrefflich zeigen,
nur 2 — 2l/2 fi dick sind, so ist es mir vorläufig noch
nicht gelungen, die topographischen Verhältnisse des
freien Verlaufes nach vorne zu eruieren. Meine Befunde
würden sich aber dem, was Agababow, Schön, Terrien,
Oscar Schultze über den Ursprung der Zonulafasern
angeben, anschliessen und den Ansichten dieser Autoren
über die ektoblastische Abstammung dieser Fasern durch
den Nachweis des kontinuierlichen Überganges der Stütz-
elemente der eigentlichen Retina auf deren Pars ciliaris
beim neugeborenen Tiere zur Unterstützung dienen.
') Schnitze, Oscar. Mikroskop. Anat. der Linse und des Strah-
lenbändchens (Gräfe-Sämisch, Handb. d. ges. Augenheilkunde. I. T.
I. Bd. IV. Kap.)
492 —
Am Schlüsse noch eine Bemerkung über die Retina
des Hundes. In Fig. 50 seiner ausgezeichneten Monogra-
phie gibt Greef (1. c. 1 pp. 122 u. 185) einen Schnitt
durch die Ora serrata des menschlichen Auges, an dem
das immer seltenere Vorkommen der Stäbchen, ihr end-
liches Verschwinden, sowie die Verkümmerung der allein
übrig bleibenden Zapfen vorzüglich zu erkennen sind.
An der Retina eines erwachsenen Hundes (Osmium-
präparat) waren Stäbchen auch neben den letzten Zapfen
zu erkennen, was insofern interessant ist, als nach meinen
Untersuchungen, die ich durch ein grösseres Material
noch vervollkommnen möchte, die sog. Area des Hundes
(Chievitz v) keine stäbchenfreie Zone enthält, sondern
dass hier wohl die Zapfen sehr dicht stehen, aber immer
durch Stäbchen getrennt sind.
Die von Greef (1. c. p. 114) angegebene Höhenab-
nahme der Zapfen war am Hunde gut zu sehen-, icli
habe an verschiedenen Schnitten folgende Maasse auf-
genommen :
1. Zapfen 480 II v. Ora serrata 9 U
2. „ 230 fi
3. „ 24 fi
4. „ 20 u
5. „ 17 /<
Höhe
Innen-
gliedes
des
Aussen-
gliedes
Dicke des cyl
Innengliedes.
ata 9 11
5 il (spitz)
2,5 //
8//
4,5 ii „
:;.ö u
6i<
4 il (kuppelföi
•mig) 4 //
'> ii
4 ii
4 ii
6 ii
3 II (spitz)
3,5 u
1 1 Chievitz, J. IL Über das Vorkommen der Area centralis
retinae in den vier höheren Wirbeltierklassen (Arch. f. Anat u.
Physiologie ; Anatom. Abteil. 1891. p 310 u. ff.)
Verhandlungen
der
Naturforschenden Gesellschaft
m
BASEL.
Band XVI.
Mit drei Tafeln.
BASEL
Georg & Co., Verlag
1903.
%Zs7*~ï:¥T:Ç-~î ■r ~ï"4 i r i fT^TTT^T^Xjs^T^T^T^T^T^T^T^T^T-f'i
T ; :
GEORG & Co., Editeurs, Bàle, Genève et Lyon.
LÀ FLORE DE LA SUISSE
ET SES ORIGINES
par 1.1:
Dr. H. CHRIST.
Un fori volume grand in-s-. accompagné de quatre illu-
strations hors texte, de quatre caries en couleurs indiquant
les /ducs des plantes H d'un tableau graphique: Limite
des hauteurs.
PRIX DE L'OUVRAGE:
broché Fr. 16.— Cart, toile Fr. 18.— Demi rel. Fr. 20. -
Cet ouvrage es1 divisé en quatre parties: I. La région infé-
rieure, zone de la \ igné e1 des arbres Fruitiers. — II. Région moyenne,
celle îles bois feuilles. — JH. Région plus élevée, /.nue des coni-
fères. — !Y. Région alpine, la plus captivante de la Bore suisse,
qui pour la richesse de la floraison e1 l'éclal des couleurs excite
à mi si haut degré l intérêl du savanl el du simple amateur. Sui1
un résumé général de l'histoire de notre flore.
L'auteur est naturaliste, mais avec son laleul d'artiste il
sait donner un grand attrait à ses descriptions ; c'esl donc un livre
qui intéressera toutes les personnes, qui aiment les Alpes el ses
Meurs.
Nous citerons encore du compte-rendu publié par Mr.
Alphonse de Candolle aux Archives des Sciences de Genève:
C'est un ouvrage à lire d'un boul à l'autre que celui de M. le
Docteur Chris! sur la flore de la Suisse e1 nous regardons comme
une bonne fortune pour les lecteurs français el même italiens ou
anglais qu'on en ait publié une traduction très-exacte. Le travail
du savant botaniste bàlois contienl une foule de détails. Cependant
il est si bien rédigé chaque chose est si bien à sa place, el il
y a des résumés si clairs qu'on u'esi jamais fatigué en le lisant.
Ce n'est pas une énumération d'espèces selon les ré-^i, >ns nu les
localités, Comme (Hl en VOit SOUVeill a la tète îles Itères; ce n'est
pas non plus un tableau général, littéraire plutöl que scientifique;
mais les détails et les généralités y sonl distribués d'une manière
judicieuse qui laisse une idée nette île chaque sujet.
^-
— D
GEORG & Co., Éditeurs, Bâle, Genève et Lyon.
OUVRAGES DIVERS D'HISTOIRE NATURELLE
Archives du Muséum d'histoire na-
turelle de Lyon, 'l'unir I à VII. gr.
in-4°avec planches. 1872 — 1891).
*,* Mémoires par MM. Lortet, Locard,
Cbautre, Saporta, Marion, Faisan ete.
Chaque volume se vend séparément.
Candolle (Alph. de) Histoire des
sciences el (1rs savants depuis
deux siècles, précédée el suivie
il autres çtudes sur des sujets
scientifiques. ln-8". (Jlli p.
1885, 10 —
Fatio (Dr. V.i Faune des vertébrés
de la Suisse. Tome I. Mammi-
fères. 4M p., 8 pi. gr. in-8° 16-
Tiniie il. ( »iseaux 1" partie 850
p., 3 pi. ci une carte, gr. in 8°. 25
La seconde partie en préparation.
— Tome III. Reptiles el Batraciens.
616 p., 5 pi., gr. in-8°. 18 —
— Tomes IV et V. Poissons.
1456p., 9 pi., gr. in 8U. 4.") -
Mémoires de la Socie'té de physique
et d'histoire naturelle de Genève.
Vol. I à XXXIII el volume supplé-
mentaire : Centenaire de la fon-
dation de la Société. 4" avec
planches 1821 à 1901.
*¥* Collection très importante conte-
nant des Mémoires par MM. De Candolle
père et fils, DeSaussure, Duby, F. J. Fictet,
E. Boiesier, Huber, Clapaiède, Fol et
autres savants genevois.
Mémoires, i veaux, de la Société
helvétique des sciences natu-
relles. (Neue Denkschriften der
all-, schwei/. naturforschenden
Gesellschaft), vol. I à XXXVIII.
4" avec planches. 1837-1900/2.
*,* Chaque volume se vend séparément
excepté quelques-uns de la lre décade.
Cette publication importante renferme
des travaux tré^ estimés par MM. Agassiz,
Cramer, Gaudin, Heer, Nägeli, Rütimeyer,
Thurmann etc.
Mémoires de la Société paléonto-
logique suisse (Abhandlungen der
schwei/.. palaebntol.Gesellschaft),
vol. I a XXVIII. gr. in-4° avec
planches. 1874-1901.
*„* Mémoires de MM. de Loriol, Re-
Devier, Rütimeyer, Favre, Koby, Greppin
etc.
Rütimeyer (Prof. L.) D e r I! i g i.
Berg, Thal und See; naturge-
schichtliche Darstellung der
Landschaft. 160 S., 13 Illustrât,
und 1 color. Karte. ln-4°. 1877.
br. 8 —
Eigenartiges Werk, welches namentlich
die Aufmerksamkeit aller Alpenfreunde
und Naturforscher von Fach verdient.
— Gesammelte kleine Schriften
allgemeinen Inhalts aus dem
Gebiete der Naturwissenschaft,
berausgeg. von II. <i. Stehlin.
2 vol. gr. iu-8" in. Porträt, lö —
Baud-Bovy (Daniel). Wanderungen
in den Alpen. Von Brieg auf
das Eggischhorn, den Aletsch-
gletscher und Umgebung. Mit
J 1 S Illustrationen im Text und
18 grossen Bildern in Helio-
graphie nach besonderem Ver-
fahren der i resellschaft für gra-
phische Künste in Genf. Pracht-
band in gr.-4n, mil polychrom,
Umschlag. iJo -
Leinwd. geb. 2250
Roger (Noëlle). Saas-Fée e1 la
Vallée de la Viège de Saas. Beau
volume avec l'.H) illustrations
par Lacombe el Vrland.
Gr. ii i-4". 20-
Yung. Zermatl el la vallée de
Viège. 2e édition. <ir. in-4". 20
Ouvrage orné de 150 gravures et vi-
gnettes exécutées en phototypie par les
procédés spéciaux de la Société des Arts
graphiques à Genève.
AMNH LIBRARY
100127150
.1^J&&